Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
14
1. Instanz
SG Regensburg (FSB)
Aktenzeichen
S 3 R 661/06
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 14 R 866/09
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Zu den Voraussetzungen einer Rente wegen teilweiser oder voller Erwerbsminderung oder wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit.
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts
Regensburg vom 17. August 2009 insoweit aufgehoben, als für die
Zeit ab 1. Juni 2006 unbefristete Rente wegen teilweiser Erwerbsmin-derung und für die Zeit vom 1. Dezember 2006 bis 30. November 2009
befristete Rente wegen voller Erwerbsminderung zuerkannt worden ist.
Die Beklagte wird entsprechend ihrem Anerkenntnis unter Aufhebung
des Bescheides vom 31. März 2006 in der Gestalt des Widerspruchs-
bescheides vom 21. September 2006 verurteilt, der Klägerin auf Grund
eines am 23. September 2009 eingetretenen Leistungsfalles ab 1. Oktober 2009 bis 31. Oktober 2010 Rente wegen voller Erwerbsminderung zu
zahlen.
II. Die Beklagte hat der Klägerin 1/3 der entstandenen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist eine Rente wegen Erwerbsminderung.
Die 1950 in Kasachstan geborene Klägerin siedelte 1988 in die Bundesrepublik Deutschland über (Vertriebenenausweis A). In ihrer früheren Heimat verrichtete sie Tätigkeiten als angelernte Operateurin in einem Rechenzentrum, Lagerarbeiterin, Sekretärin/Schreibkraft und Sanitäterin. Nach ihrer Übersiedlung war sie zunächst als Briefsortiererin und zuletzt langjährig als Reinigungskraft tätig. Das Arbeitsverhältnis endete 2004 nach längerer Arbeitsunfähigkeit, in Zusammenhang mit einem Arbeitsplatzkonflikt.
Ihren am 31.05.2006 gestellten Rentenantrag begründete die Klägerin mit Bandscheibenvorfällen, WS-Problemen, Polyarthrose am ganzen Körper, Fibromyalgie, Bluthochdruck und Osteoporose.
Nach Eingang von Befundbericht und ärztlichen Unterlagen des behandelnden Arztes Dr. P. ließ die Beklagte die Klägerin durch die Ärztin für Psychiatrie und Sozialmedizin R. untersuchen und begutachten. Diese erhob die Diagnosen:
1. Anhaltende somatoforme Schmerzstörung
2. Übergewicht
3. Bluthochdruck
4. chronisches HWS-Syndrom mit deutlicher Bewegungseinschränkung bei Osteo-
chondrose Uncovertebralarthrose, BSV C 4/5, C6/7
5. chronisches Lumbalsyndrom bei Spondylarthrose des lumbosakralen Übergangs
6. Cox- und Gonarthrose beidseits
7. Osteoporose.
Sie führte aus, dass die in umfangreicher ärztlicher Behandlung stehende Klägerin bei der Untersuchung keine tiefgreifende Depression oder Angstsymptomatik gezeigt habe. Dringend notwendig sei eine Gewichtsreduktion. Leichte Arbeiten überwiegend im Sitzen, ohne Nachtschicht und ohne besondere Anforderungen an die psychische Belastbarkeit könne die Klägerin noch sechs Stunden täglich und mehr verrichten (Gutachten vom 03.07.2006).
Die Beklagte lehnte den Rentenantrag, gestützt auf dieses Gutachten, mit Bescheid vom 14.07.2006 ab.
Mit ihrem Widerspruch verwies die Klägerin unter Vorlage zahlreicher Unterlagen über bildgebende Verfahren aus den Jahren 2003 bis 2006 u.a. auf unerträgliche Schmerzen im gesamten Bewegungsapparat. Nach prüfärztlicher Stellungnahme wies die Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 21.09.2006 zurück. Es liege keine Erwerbsminderung nach § 43 Abs. 1 und 2 SGB VI vor, leichte Arbeiten überwiegend im Sitzen ohne besondere Anforderungen an die nervliche Belastbarkeit könnten noch mindestens sechs Stunden täglich verrichtet werden. Wegen der umfassenden Beweiserhebung und medizinischen Dokumentation sei weitere medizinische Sachaufklärung nicht notwendig. Auch teilweise Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit bestehe nicht, da die Klägerin nach ihrem Berufsbild auf alle ungelernten Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisbar sei.
Im Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) trug die Klägerin vor, sie könne keine Arbeiten von wirtschaftlichem Wert mehr verrichten. Sie leide an ständigen starken Schmerzen und einer erheblich verminderten körperlichen Beweglichkeit. Sie könne nicht mehr als 100 m gehen und nicht lange stehen und benötige im täglichen Leben häufig die Hilfe ihres Ehemannes. Wegen Schlafstörungen bestünden außerdem starke Konzentrationsstörungen.
Das SG zog die Schwerbehindertenakten des Versorgungsamts A-Stadt bei (GdB 50) und holte Befundberichte und ärztliche Unterlagen der behandelnden Allgemeinärzte Dr. P. ("multiple Gelenkbeschwerden, diffuse Muskelschmerzen, Ganzkörperschmerz") und Dr. R. ("unveränderte Befunde"), des Internisten Dr. W. ("Befundverbesserung durch Behandlung, weniger Muskel- und Gelenkschmerzen") und des Nervenarztes Dr. P. ein. Es beauftragte Prof. Dr. F. mit der Erstellung des internistisch-rheumatologischen Gutachtens vom 06.11.2008. Die Klägerin klagte bei der Untersuchung über seit 1998 bestehende Gelenkbeschwerden, die trotz multipler Therapien sich nicht dauerhaft gebessert hätten, Wirbelsäulen- und Weichteilschmerzen seien hinzugetreten; aktuell leide sie an einem Gesamtkörperschmerz mit deutlich eingeschränkter Mobilität und benötige zur Fortbewegung Gehhilfen bzw. einen Rollator; auch bestünden Dyspnoe und Stress-Inkontinenz.
Es wurden folgende Gesundheitsstörungen diagnostiziert: "Fibromyalgie, Polyarthrose-Syndrom, degeneratives WS-Syndrom, depressive Verstimmung, arterielle Hypertonie, Adipositas permagna". Daneben wurden als sich aus den Vorbefunden ergebende frühere Diagnosen aufgeführt: Persönlichkeitsveränderungen auf Grund chronischer Schmerzen, schmerzassoziierte Depression mit Somatisierungsstörung, Polyneuropathie, beginnende Carotisinsuffizienz links, Adipositas permagna, arterielle Hypertonie, Mitralklappenprolaps und -Insuffizienz Grad I, Supraventrikuläre Extrasystolie, leichte restriktive Ventilationsstörung, Cholezystolithiasis, Steatosis hepatis, axiale Hiatushernie, Refluxoesophagitis, Stressinkontinenz, Varikosis bds., Allergieneigung; ferner orthopädische Befunde.
Auf Grund der sich aus internistischer Sicht ergebenden Funktionsstörungen wurden tägliche Arbeiten von drei- bis unter sechs Stunden ("bis sechs Stunden") für möglich gehalten, wobei darauf hingewiesen wurde, dass in den letzten Jahren keine konsequente und effektive Therapie der Fibromyalgie und der arteriellen Hypertonie erfolgt sei. Dringend empfohlen wurde die Durchführung eines orthopädischen Zusatzgutachtens, da die orthopädische Beschwerdesymptomatik im Vordergrund stehe, ggf. auch ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten. Letztlich sei von orthopädischer Seite zu beurteilen, inwieweit die vorliegenden Gesundheitsstörungen seit Antragstellung eine Berentung erforderten.
Der Ärztliche Dienst der Beklagten nahm zu diesem Gutachten dahin gehend Stellung, dass das Leistungsvermögen der Klägerin auf Grund der mitgeteilten internistischen Befunde nicht unter sechs Stunden täglich abgesunken sei. Die Fibromyalgie begründe keine zeitliche Leistungsminderung. Auf die fehlende ausreichende Therapie und nur niedrige Schmerzmedikation wurde hingewiesen, ebenso darauf, dass die aufgeführten Fragebögen lediglich die subjektiven Eindrücke der Versicherten wiedergäben.
Im Auftrag des SG erstellte der Orthopäde Dr. W. das orthopädische Gutachten vom 25.03.2009. Er erhob die Diagnosen:
"Fibromyalgie-Syndrom; chronisches HWS-Syndrom mit deutlicher Bewegungseinschränkung bei fortgeschrittenen Aufbrauchsveränderungen im Sinne einer Osteochondrose, Spondylose, Uncovertebralarthrose bei bekannter Bandscheibenvorwölbung in den Segmenten HW 5/6 und HW 6/7 ohne Nervenwurzelreizerscheinungen; chronisches BWS- und LWS-Syndrom bei thorakorechts- und lumballinkskonvexer Skoliose mit Aufbrauchsveränderungen im Bereich der LWS im Sinne einer Spondylose ohne Nervenwurzelreizsymptomatik; Subacromialsyndrom der linken Schulter ohne knöchernes radiologisches Korrelat; Arthrose im Bereich der linken Handwurzel und Fingerarthrose an der linken Hand; anfängliche Arthrose an beiden Hüftgelenken; deutliche Arthrose im Bereich beider Kniegelenke medial und retropatellar betont; anfängliche Arthrose im Bereich der Fußwurzel- und der Großzehengrundgelenke".
Nach längeren Ausführungen zum Krankheitsbild der Fibromyalgie stellt der Gutachter zusammenfassend fest, die mannigfachen Gesundheitsstörungen der Klägerin auf orthopädischem Gebiet führten zwar zu deutlichen Funktionseinschränkungen bzgl. des Achsenorgans und der oberen und unteren Extremitäten. Diese bedingten jedoch lediglich eine qualitative Einschränkung der Leistungsfähigkeit, eine auch quantitative Einschränkung sei nicht ableitbar. So sei die Klägerin nicht mehr in der Lage, bestimmte Körperhaltungen längere Zeit einzunehmen, vor allem Bücken. Sie könne auch schwere Lasten nicht mehr heben und tragen, längeres Stehen und Knien sei nicht möglich, ebenso Arbeiten unter Kälte- oder Hitzeeinfluss. Sie könne aber noch einfache Arbeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes wie Bürotätigkeiten, Schreib- und Sortierarbeiten mindestens sechs Stunden täglich ausüben. Es ergebe sich hier die gleiche Einschätzung wie schon zuvor aus neurologisch-psychiatrischer Sicht, wo ebenfalls eine Einschränkung auf leichte Arbeiten, überwiegend im Sitzen ohne besondere Anforderungen an die nervliche Belastbarkeit ohne zeitliche Leistungsminderung festgestellt worden sei. Zur Wegefähigkeit wurde ausgeführt, die Klägerin könne 2x täglich Wegstrecken über mindestens 500 m bewältigen, 4 x tägliches Gehen dieser Strecke überfordere sie allerdings wegen des extremen Übergewichts.
Die Durchführung einer adäquaten Therapie (physikalisch-therapeutische Maßnahmen, ambulantes Heilverfahren, Gewichtsreduktion) wurde angeraten. Weitere Begutachtungen wurden nicht für erforderlich gehalten.
Die Klägerin wandte ein, die Gutachten von Prof. Dr. F. und Dr. W. seien misslungen, die Diagnosen seien manipuliert worden, so u.a. die Beurteilung einer MRT-Untersuchung aus 2006, welche nach ihrer Meinung für die Beurteilung ausschlaggebend sein müsse.
Das SG hob mit Urteil vom 17.08.2009 den angegriffenen Bescheid der Beklagten auf und verpflichtete die Beklagte, der Klägerin bei einem Leistungsfall vom 31.05.2006 (Antragstellung) Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung ab 01.06.2006 unbefristet und an deren Stelle Rente wegen voller Erwerbsminderung unter Arbeitsmarktgesichtspunkten ab
01.12.2006 befristet bis 30.11.2009 zu gewähren. Gestützt auf das Gutachten des Prof. Dr. F. führte es aus, der Klägerin sei nur mehr drei bis unter sechs Stunden täglich Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zumutbar. Bei ihr lägen nicht nur eine Fibromyalgie, sondern darüber hinaus zusätzliche orthopädische, internistische und psychiatrische Erkrankungen vor, wodurch in der Summe das Leistungsvermögen weiter eingeschränkt werde als dies bei Fibromyalgie allein der Fall sei; diese könne zudem wegen der ausgeprägten Adipositas nicht ausreichend therapiert werden. Insbesondere liege auch eine schon 2004 erwähnte Persönlichkeitsveränderung vor, welche sich für das Gericht auch aus den zahlreichen Schreiben der Klägerin an das Gericht ergebe. Aus ihnen sei ersichtlich, dass die Klägerin eine ausgesprochen misstrauische Grundhaltung gegenüber Ärzten, ihrem Rechtsanwalt, der Beklagten und dem Gericht habe und davon überzeugt sei, wesentlich schwerer gesundheitlich beeinträchtigt zu sein, als dies den Diagnosen und Beurteilungen der behandelnden Ärzte und der Sachverständigen entspreche. Sie sei darin nicht zu erschüttern, habe also eine depressiv gefärbte Hypochondrie entwickelt, die sie durch Verwendung von Krücken und Rollator und Hilfe - Signalen an ihre Umgebung/Familie mit das Krankheitsgefühl bestätigendem Erfolg betätige. Eine Besserung sei insoweit unwahrscheinlich. Da andererseits Dr. W. zu keinen weitergehenden Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit gekommen sei, sei von voller Erwerbsminderung nicht auszugehen gewesen. Auf ein Restleistungsvermögen von mindestens drei Stunden täglich lasse schließlich auch das sthenische Verfassen seitenlanger hand- und maschinenschriftlicher Schriftsätze an das Gericht, Gerichtsleitung Sachverständige etc. schließen, ebenso das Verhalten der Klägerin in der mündlichen Verhandlung, wo ihr entgegen ihrer Beteuerung auch längeres Sitzen möglich gewesen sei.
Mit der Berufung wandten sich beide Beteiligte gegen diese Entscheidung. Die Klägerin, die sich seit 23.09.2009 wegen eines bösartigen Unterleibstumors in Klinikbehandlung befand (seitdem bisher drei Operationen im September und Oktober 2009 und erneut im März 2010) zog ihre Berufung anschließend noch im Oktober 2009 wieder zurück.
Die Beklagte trug vor, das Urteil des Sozialgerichts sei nicht nachvollziehbar. Aus dem vorliegenden internistisch-rheumatischen Gutachten lasse sich ein quantitatives Leistungsvermögen nicht begründen. Zwar werde hier von einem bis sechsstündigen Leistungsvermögen gesprochen, aber auch davon, dass der Schwerpunkt der Erkrankungen auf orthopädischem Gebiet liege und die Frage einer rentenberechtigenden Erwerbsminderung hier zu entscheiden sei. Der Orthopäde Dr. W. komme aber zu dem Ergebnis eines noch mindestens sechsstündigen Leistungsvermögens mit gewissen qualitativen
Leistungseinschränkungen. Soweit das angefochtene Urteil auch mit psychischen Erkrankungen begründet werde, sei auf das im Verwaltungsverfahren erstellte nervenärztliche Gutachten zu verweisen, das ebenfalls zu der Einschätzung eines noch ausreichenden Leistungsvermögens für leichte Arbeiten gekommen sei.
Der Senat hat mit Schreiben vom 18.02.2010 und erneut 12.07.2010 darauf hingewiesen, dass die Einwände der Beklagten als sachlich begründet angesehen würden und den Erfahrungen des Senats in vergleichbaren Fällen entsprächen, in denen orthopädische Gesundheitsstörungen und Fibromyalgie im Vordergrund ständen. Diese habe Dr. W. fachgerecht und kompetent entsprechend den Grundsätzen für die sozialmedizinische Begutachtung in der gesetzlichen Rentenversicherung beurteilt, insbesondere sei die Fibromyalgie trotz der gegenteiligen Wahrnehmung der Betroffenen normalerweise keine Berentungsdiagnose. Die sozialmedizinische zeitliche Leistungsbeurteilung von Prof. Dr. F. ("bis sechs Stunden") erscheine nicht überzeugend. Auch die Berufung des Erstgerichts auf eine in einem früheren Arztbericht einmal aufgeführte Persönlichkeitsveränderung ohne Einholung eines neuen nervenärztlichen Gutachtens überzeuge nicht.
Die Klägerin übersandte nunmehr ärztliche Unterlagen über die stationären Aufenthalte vom 23.09. bis 02.10.2009, vom 11.10.2009 bis 05.11.2009 und vom 23.02. bis 24.02.2010 in der Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe des Caritasverbandes A-Stadt ("Zustand nach Endometriumkarzinom"). Die Beklagte ging nunmehr von voller Erwerbsminderung bei der Klägerin seit 23.09.2009 aus und anerkannte unter Bezugnahme auf § 99 Abs.1 SGB VI einen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung vom 01.10.2009 bis zum Beginn der Regelaltersrente bei voller Übernahme der außergerichtlichen Kosten für das Berufungsverfahren. Das Angebot wurde von der Klägerin nicht angenommen.
Sie erhielt auf ihren Antrag mit Bescheid der Beklagten vom 21.10.2010 Altersrente für Schwerbehinderte ab 01.11.2010.
Die Beklagte und Berufungsklägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 17.08.2009 abzuändern und die Beklagte entsprechend ihrem Angebot im Schriftsatz vom 26.04.2010 zu verpflichten, der Klägerin Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 01.10. 2009 bis zum Beginn ihrer Altersrente am 01.11.2010 zu zahlen.
Die Klägerin und Berufungsbeklagte beantragt,
die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge und die beigezogenen Beklagtenakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz
- SGG -) ist zulässig und in dem zuletzt - nach Abgabe des Anerkenntnisses über den Zeitraum ab 01.10.2009 - aufrecht erhaltenen Umfang auch begründet.
Das angefochtene Ersturteil, das von einem am 31.05.2006 eingetretenen Leistungsfall ausgeht und unbefristete Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung und für die Zeit vom 01.12.2006 bis 30.11.2009 an deren Stelle Rente wegen voller Erwerbsminderung zuspricht, kann für die Zeit vor dem 01.10.2009 keinen Bestand haben. Die angefochtenen Bescheide sind insoweit rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten. Dieser steht im genannten Zeitraum kein Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung gemäß § 43 Abs. 2 SGB VI, Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung gemäß § 43 Abs. 1 SGB VI bzw. Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit gemäß §§ 43 Abs. 1, 240 SGB VI zu.
Gem. § 43 Abs. 1, 2 SGB VI haben Versicherte bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres Anspruch auf Rente wegen teilweiser bzw. voller Erwerbsminderung, wenn sie
1. teilweise bzw. voll erwerbsgemindert sind,
2. in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge
für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben
3. vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Teilweise bzw. voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs bzw. drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Erwerbsgemindert ist gem. § 43 Abs. 3 SGB VI nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.
Nach § 240 Abs.1 SGB VI haben Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung auch Versicherte, die vor dem 2. Januar 1961 geboren und berufsunfähig sind; berufsunfähig sind nach § 240 Abs.2 SGB VI Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung im Vergleich zur Erwerbsfähigkeit von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen auf weniger als sechs Stunden gesunken ist; dabei umfasst der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit der Versicherten zu beurteilen ist, alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechend und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können.
Die Voraussetzungen dieser Vorschriften liegen entgegen der Auffassung des Erstgerichts für die Zeit vor dem 23.09.2009 nicht vor. Weder besteht Anspruch auf Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung, noch liegt Berufsunfähigkeit bei der entsprechend ihrer letzten Tätigkeit auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbaren Klägerin vor.
Die Beweisaufnahme der ersten Instanz hat ergeben, dass bei der Klägerin ab Antragstellung trotz der ungewöhnlichen Vielzahl der auf verschiedenen Fachgebieten diagnostizierten Gesundheitsstörungen und trotz ihrer hartnäckigen Überzeugung, ab der Antragstellung schwer erkrankt gewesen zu sein, ein ausreichendes zeitliches Leistungsvermögen (mindestens sechs Stunden täglich) für leichte und überwiegend im Sitzen zu verrichtende Arbeiten ohne besondere Anforderungen an die nervliche Belastbarkeit vorlag. Die Voraussetzungen der §§ 43, 240 Abs.2 SGB VI waren damit nicht gegeben.
Dies folgt zum einen aus dem Gutachten des Orthopäden Dr. W., auf dessen Fachgebiet der Schwerpunkt der Gesundheitsstörungen der Klägerin besteht. Dieser setzte sich in seinem Gutachten mit der umfassend dokumentierten Befundlage bei der Klägerin auseinander. Bei der Beurteilung lagen ihm alle rentenrelevanten Unterlagen vor. Auf Grund der Vorgeschichte, der umfangreichen Befunddokumentation und der klinischen Untersuchungsbefunde kam der Sachverständige auch für den Senat nachvollziehbar zu der gut begründeten Auffassung eines mindestens sechsstündigen Leistungsvermögens für leichte körperliche Arbeiten. Entgegen der Auffassung der Klägerin kann es bei der Beurteilung der Erwerbsminderung nicht ausschließlich auf einen Röntgenbefund oder eine MRT-Aufnahme ankommen. Bildgebende Verfahren sind nur Hilfsmittel bei den nötigen Feststellungen zu den für eine Rentengewährung notwendigen Funktionseinschränkungen, letztlich ausschlaggebend bleibt der tatsächlich feststellbare klinische Befund und die sich daraus ergebenden Funktionseinschränkungen.
Nicht zu folgen ist nach Auffassung des Senats der Beurteilung der Erwerbsfähigkeit der Klägerin auf internem Gebiet durch Prof. Dr. F./Dr. J ... Deren Befunderhebung rechtfertigt bei kritischer Würdigung entgegen der Auffassung des Erstgerichts nicht die Annahme eines drei- bis unter sechsstündigen Leistungsvermögens im Zeitraum ab Antragstellung im Jahre 2006. Die verbliebene zeitliche Leistungsfähigkeit der Klägerin wird in ihrem Gutachten auf "bis sechs Stunden" eingeschätzt. Insoweit ist jedoch dem ärztlichen Dienst der Beklagten Recht zu geben, der für diese subtile Einschränkung mit dem nur minimalen Unterschied zu der Aussage "mindestens sechs Stunden" keine sich aus den erhobenen Untersuchungsbefunden ergebende Rechtfertigung sieht. Die Gutachter geben auch keine nachvollziehbare nähere Begründung dazu ab, warum ein Leistungsvermögen von "mindestens sechs Stunden" nicht gegeben sein sollte. Der Senat geht nach allem mit dem ärztlichen Dienst der Beklagten von einem verbliebenen mindestens sechsstündigen Leistungsvermögen auch auf internem Gebiet aus. Er sieht darüber hinaus keine Notwendigkeit zu entsprechenden Erhebungen auf nervenärztlichem Gebiet. Bereits Dr. W. erwartete davon keine wesentlich neuen Erkenntnisse, zumal keinerlei Behandlung auf diesem Gebiet erfolgt. Der Senat sieht im Übrigen angesichts der immer wieder dokumentierten Fähigkeit der Klägerin zu kraftvollem Einsatz in wiederholten seitenlangen Schriftsätzen mit dezidierten Ausarbeitungen eher einen Beweis für ausreichende Energie und Konzentrationsfähigkeit jedenfalls in der Vergangenheit.
Etwas Anderes gilt aber für den Zeitraum ab 23.09.2009. Unstreitig liegt auf Grund der nun noch hinzugetretenen schweren Erkrankung mit Komplikationen durch mehrfach erforderliche operative Eingriffe dauerhafte volle Erwerbsminderung vor. Die Beklagte hat diesem neuen Sachverhalt durch ihr Angebot einer Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 01.10.2009 angemessen Rechnung getragen. Da die Klägerin dieses Angebot nicht angenommen hat und ihr Begehren auf Bewilligung einer Rente wegen Erwerbsminderung bereits ab Abtragstellung weiter verfolgte, war die Beklagte unter Abänderung des Ersturteils und - entsprechend ihrem Anerkenntnis - unter Aufhebung des Bescheides vom 31.05.2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.09.2006 zu verurteilen, der Klägerin Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 01.10.2009 bis zum Beginn ihrer Altersrente zu zahlen.
Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 193 SGG und berücksichtigt den Umstand, dass die Berufung der Beklagten nur zum Teil erfolgreich war.
Gründe für die Zulassung der Revision gem. § 160 Abs. 2 SGG sind nicht ersichtlich.
Regensburg vom 17. August 2009 insoweit aufgehoben, als für die
Zeit ab 1. Juni 2006 unbefristete Rente wegen teilweiser Erwerbsmin-derung und für die Zeit vom 1. Dezember 2006 bis 30. November 2009
befristete Rente wegen voller Erwerbsminderung zuerkannt worden ist.
Die Beklagte wird entsprechend ihrem Anerkenntnis unter Aufhebung
des Bescheides vom 31. März 2006 in der Gestalt des Widerspruchs-
bescheides vom 21. September 2006 verurteilt, der Klägerin auf Grund
eines am 23. September 2009 eingetretenen Leistungsfalles ab 1. Oktober 2009 bis 31. Oktober 2010 Rente wegen voller Erwerbsminderung zu
zahlen.
II. Die Beklagte hat der Klägerin 1/3 der entstandenen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist eine Rente wegen Erwerbsminderung.
Die 1950 in Kasachstan geborene Klägerin siedelte 1988 in die Bundesrepublik Deutschland über (Vertriebenenausweis A). In ihrer früheren Heimat verrichtete sie Tätigkeiten als angelernte Operateurin in einem Rechenzentrum, Lagerarbeiterin, Sekretärin/Schreibkraft und Sanitäterin. Nach ihrer Übersiedlung war sie zunächst als Briefsortiererin und zuletzt langjährig als Reinigungskraft tätig. Das Arbeitsverhältnis endete 2004 nach längerer Arbeitsunfähigkeit, in Zusammenhang mit einem Arbeitsplatzkonflikt.
Ihren am 31.05.2006 gestellten Rentenantrag begründete die Klägerin mit Bandscheibenvorfällen, WS-Problemen, Polyarthrose am ganzen Körper, Fibromyalgie, Bluthochdruck und Osteoporose.
Nach Eingang von Befundbericht und ärztlichen Unterlagen des behandelnden Arztes Dr. P. ließ die Beklagte die Klägerin durch die Ärztin für Psychiatrie und Sozialmedizin R. untersuchen und begutachten. Diese erhob die Diagnosen:
1. Anhaltende somatoforme Schmerzstörung
2. Übergewicht
3. Bluthochdruck
4. chronisches HWS-Syndrom mit deutlicher Bewegungseinschränkung bei Osteo-
chondrose Uncovertebralarthrose, BSV C 4/5, C6/7
5. chronisches Lumbalsyndrom bei Spondylarthrose des lumbosakralen Übergangs
6. Cox- und Gonarthrose beidseits
7. Osteoporose.
Sie führte aus, dass die in umfangreicher ärztlicher Behandlung stehende Klägerin bei der Untersuchung keine tiefgreifende Depression oder Angstsymptomatik gezeigt habe. Dringend notwendig sei eine Gewichtsreduktion. Leichte Arbeiten überwiegend im Sitzen, ohne Nachtschicht und ohne besondere Anforderungen an die psychische Belastbarkeit könne die Klägerin noch sechs Stunden täglich und mehr verrichten (Gutachten vom 03.07.2006).
Die Beklagte lehnte den Rentenantrag, gestützt auf dieses Gutachten, mit Bescheid vom 14.07.2006 ab.
Mit ihrem Widerspruch verwies die Klägerin unter Vorlage zahlreicher Unterlagen über bildgebende Verfahren aus den Jahren 2003 bis 2006 u.a. auf unerträgliche Schmerzen im gesamten Bewegungsapparat. Nach prüfärztlicher Stellungnahme wies die Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 21.09.2006 zurück. Es liege keine Erwerbsminderung nach § 43 Abs. 1 und 2 SGB VI vor, leichte Arbeiten überwiegend im Sitzen ohne besondere Anforderungen an die nervliche Belastbarkeit könnten noch mindestens sechs Stunden täglich verrichtet werden. Wegen der umfassenden Beweiserhebung und medizinischen Dokumentation sei weitere medizinische Sachaufklärung nicht notwendig. Auch teilweise Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit bestehe nicht, da die Klägerin nach ihrem Berufsbild auf alle ungelernten Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisbar sei.
Im Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) trug die Klägerin vor, sie könne keine Arbeiten von wirtschaftlichem Wert mehr verrichten. Sie leide an ständigen starken Schmerzen und einer erheblich verminderten körperlichen Beweglichkeit. Sie könne nicht mehr als 100 m gehen und nicht lange stehen und benötige im täglichen Leben häufig die Hilfe ihres Ehemannes. Wegen Schlafstörungen bestünden außerdem starke Konzentrationsstörungen.
Das SG zog die Schwerbehindertenakten des Versorgungsamts A-Stadt bei (GdB 50) und holte Befundberichte und ärztliche Unterlagen der behandelnden Allgemeinärzte Dr. P. ("multiple Gelenkbeschwerden, diffuse Muskelschmerzen, Ganzkörperschmerz") und Dr. R. ("unveränderte Befunde"), des Internisten Dr. W. ("Befundverbesserung durch Behandlung, weniger Muskel- und Gelenkschmerzen") und des Nervenarztes Dr. P. ein. Es beauftragte Prof. Dr. F. mit der Erstellung des internistisch-rheumatologischen Gutachtens vom 06.11.2008. Die Klägerin klagte bei der Untersuchung über seit 1998 bestehende Gelenkbeschwerden, die trotz multipler Therapien sich nicht dauerhaft gebessert hätten, Wirbelsäulen- und Weichteilschmerzen seien hinzugetreten; aktuell leide sie an einem Gesamtkörperschmerz mit deutlich eingeschränkter Mobilität und benötige zur Fortbewegung Gehhilfen bzw. einen Rollator; auch bestünden Dyspnoe und Stress-Inkontinenz.
Es wurden folgende Gesundheitsstörungen diagnostiziert: "Fibromyalgie, Polyarthrose-Syndrom, degeneratives WS-Syndrom, depressive Verstimmung, arterielle Hypertonie, Adipositas permagna". Daneben wurden als sich aus den Vorbefunden ergebende frühere Diagnosen aufgeführt: Persönlichkeitsveränderungen auf Grund chronischer Schmerzen, schmerzassoziierte Depression mit Somatisierungsstörung, Polyneuropathie, beginnende Carotisinsuffizienz links, Adipositas permagna, arterielle Hypertonie, Mitralklappenprolaps und -Insuffizienz Grad I, Supraventrikuläre Extrasystolie, leichte restriktive Ventilationsstörung, Cholezystolithiasis, Steatosis hepatis, axiale Hiatushernie, Refluxoesophagitis, Stressinkontinenz, Varikosis bds., Allergieneigung; ferner orthopädische Befunde.
Auf Grund der sich aus internistischer Sicht ergebenden Funktionsstörungen wurden tägliche Arbeiten von drei- bis unter sechs Stunden ("bis sechs Stunden") für möglich gehalten, wobei darauf hingewiesen wurde, dass in den letzten Jahren keine konsequente und effektive Therapie der Fibromyalgie und der arteriellen Hypertonie erfolgt sei. Dringend empfohlen wurde die Durchführung eines orthopädischen Zusatzgutachtens, da die orthopädische Beschwerdesymptomatik im Vordergrund stehe, ggf. auch ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten. Letztlich sei von orthopädischer Seite zu beurteilen, inwieweit die vorliegenden Gesundheitsstörungen seit Antragstellung eine Berentung erforderten.
Der Ärztliche Dienst der Beklagten nahm zu diesem Gutachten dahin gehend Stellung, dass das Leistungsvermögen der Klägerin auf Grund der mitgeteilten internistischen Befunde nicht unter sechs Stunden täglich abgesunken sei. Die Fibromyalgie begründe keine zeitliche Leistungsminderung. Auf die fehlende ausreichende Therapie und nur niedrige Schmerzmedikation wurde hingewiesen, ebenso darauf, dass die aufgeführten Fragebögen lediglich die subjektiven Eindrücke der Versicherten wiedergäben.
Im Auftrag des SG erstellte der Orthopäde Dr. W. das orthopädische Gutachten vom 25.03.2009. Er erhob die Diagnosen:
"Fibromyalgie-Syndrom; chronisches HWS-Syndrom mit deutlicher Bewegungseinschränkung bei fortgeschrittenen Aufbrauchsveränderungen im Sinne einer Osteochondrose, Spondylose, Uncovertebralarthrose bei bekannter Bandscheibenvorwölbung in den Segmenten HW 5/6 und HW 6/7 ohne Nervenwurzelreizerscheinungen; chronisches BWS- und LWS-Syndrom bei thorakorechts- und lumballinkskonvexer Skoliose mit Aufbrauchsveränderungen im Bereich der LWS im Sinne einer Spondylose ohne Nervenwurzelreizsymptomatik; Subacromialsyndrom der linken Schulter ohne knöchernes radiologisches Korrelat; Arthrose im Bereich der linken Handwurzel und Fingerarthrose an der linken Hand; anfängliche Arthrose an beiden Hüftgelenken; deutliche Arthrose im Bereich beider Kniegelenke medial und retropatellar betont; anfängliche Arthrose im Bereich der Fußwurzel- und der Großzehengrundgelenke".
Nach längeren Ausführungen zum Krankheitsbild der Fibromyalgie stellt der Gutachter zusammenfassend fest, die mannigfachen Gesundheitsstörungen der Klägerin auf orthopädischem Gebiet führten zwar zu deutlichen Funktionseinschränkungen bzgl. des Achsenorgans und der oberen und unteren Extremitäten. Diese bedingten jedoch lediglich eine qualitative Einschränkung der Leistungsfähigkeit, eine auch quantitative Einschränkung sei nicht ableitbar. So sei die Klägerin nicht mehr in der Lage, bestimmte Körperhaltungen längere Zeit einzunehmen, vor allem Bücken. Sie könne auch schwere Lasten nicht mehr heben und tragen, längeres Stehen und Knien sei nicht möglich, ebenso Arbeiten unter Kälte- oder Hitzeeinfluss. Sie könne aber noch einfache Arbeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes wie Bürotätigkeiten, Schreib- und Sortierarbeiten mindestens sechs Stunden täglich ausüben. Es ergebe sich hier die gleiche Einschätzung wie schon zuvor aus neurologisch-psychiatrischer Sicht, wo ebenfalls eine Einschränkung auf leichte Arbeiten, überwiegend im Sitzen ohne besondere Anforderungen an die nervliche Belastbarkeit ohne zeitliche Leistungsminderung festgestellt worden sei. Zur Wegefähigkeit wurde ausgeführt, die Klägerin könne 2x täglich Wegstrecken über mindestens 500 m bewältigen, 4 x tägliches Gehen dieser Strecke überfordere sie allerdings wegen des extremen Übergewichts.
Die Durchführung einer adäquaten Therapie (physikalisch-therapeutische Maßnahmen, ambulantes Heilverfahren, Gewichtsreduktion) wurde angeraten. Weitere Begutachtungen wurden nicht für erforderlich gehalten.
Die Klägerin wandte ein, die Gutachten von Prof. Dr. F. und Dr. W. seien misslungen, die Diagnosen seien manipuliert worden, so u.a. die Beurteilung einer MRT-Untersuchung aus 2006, welche nach ihrer Meinung für die Beurteilung ausschlaggebend sein müsse.
Das SG hob mit Urteil vom 17.08.2009 den angegriffenen Bescheid der Beklagten auf und verpflichtete die Beklagte, der Klägerin bei einem Leistungsfall vom 31.05.2006 (Antragstellung) Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung ab 01.06.2006 unbefristet und an deren Stelle Rente wegen voller Erwerbsminderung unter Arbeitsmarktgesichtspunkten ab
01.12.2006 befristet bis 30.11.2009 zu gewähren. Gestützt auf das Gutachten des Prof. Dr. F. führte es aus, der Klägerin sei nur mehr drei bis unter sechs Stunden täglich Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zumutbar. Bei ihr lägen nicht nur eine Fibromyalgie, sondern darüber hinaus zusätzliche orthopädische, internistische und psychiatrische Erkrankungen vor, wodurch in der Summe das Leistungsvermögen weiter eingeschränkt werde als dies bei Fibromyalgie allein der Fall sei; diese könne zudem wegen der ausgeprägten Adipositas nicht ausreichend therapiert werden. Insbesondere liege auch eine schon 2004 erwähnte Persönlichkeitsveränderung vor, welche sich für das Gericht auch aus den zahlreichen Schreiben der Klägerin an das Gericht ergebe. Aus ihnen sei ersichtlich, dass die Klägerin eine ausgesprochen misstrauische Grundhaltung gegenüber Ärzten, ihrem Rechtsanwalt, der Beklagten und dem Gericht habe und davon überzeugt sei, wesentlich schwerer gesundheitlich beeinträchtigt zu sein, als dies den Diagnosen und Beurteilungen der behandelnden Ärzte und der Sachverständigen entspreche. Sie sei darin nicht zu erschüttern, habe also eine depressiv gefärbte Hypochondrie entwickelt, die sie durch Verwendung von Krücken und Rollator und Hilfe - Signalen an ihre Umgebung/Familie mit das Krankheitsgefühl bestätigendem Erfolg betätige. Eine Besserung sei insoweit unwahrscheinlich. Da andererseits Dr. W. zu keinen weitergehenden Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit gekommen sei, sei von voller Erwerbsminderung nicht auszugehen gewesen. Auf ein Restleistungsvermögen von mindestens drei Stunden täglich lasse schließlich auch das sthenische Verfassen seitenlanger hand- und maschinenschriftlicher Schriftsätze an das Gericht, Gerichtsleitung Sachverständige etc. schließen, ebenso das Verhalten der Klägerin in der mündlichen Verhandlung, wo ihr entgegen ihrer Beteuerung auch längeres Sitzen möglich gewesen sei.
Mit der Berufung wandten sich beide Beteiligte gegen diese Entscheidung. Die Klägerin, die sich seit 23.09.2009 wegen eines bösartigen Unterleibstumors in Klinikbehandlung befand (seitdem bisher drei Operationen im September und Oktober 2009 und erneut im März 2010) zog ihre Berufung anschließend noch im Oktober 2009 wieder zurück.
Die Beklagte trug vor, das Urteil des Sozialgerichts sei nicht nachvollziehbar. Aus dem vorliegenden internistisch-rheumatischen Gutachten lasse sich ein quantitatives Leistungsvermögen nicht begründen. Zwar werde hier von einem bis sechsstündigen Leistungsvermögen gesprochen, aber auch davon, dass der Schwerpunkt der Erkrankungen auf orthopädischem Gebiet liege und die Frage einer rentenberechtigenden Erwerbsminderung hier zu entscheiden sei. Der Orthopäde Dr. W. komme aber zu dem Ergebnis eines noch mindestens sechsstündigen Leistungsvermögens mit gewissen qualitativen
Leistungseinschränkungen. Soweit das angefochtene Urteil auch mit psychischen Erkrankungen begründet werde, sei auf das im Verwaltungsverfahren erstellte nervenärztliche Gutachten zu verweisen, das ebenfalls zu der Einschätzung eines noch ausreichenden Leistungsvermögens für leichte Arbeiten gekommen sei.
Der Senat hat mit Schreiben vom 18.02.2010 und erneut 12.07.2010 darauf hingewiesen, dass die Einwände der Beklagten als sachlich begründet angesehen würden und den Erfahrungen des Senats in vergleichbaren Fällen entsprächen, in denen orthopädische Gesundheitsstörungen und Fibromyalgie im Vordergrund ständen. Diese habe Dr. W. fachgerecht und kompetent entsprechend den Grundsätzen für die sozialmedizinische Begutachtung in der gesetzlichen Rentenversicherung beurteilt, insbesondere sei die Fibromyalgie trotz der gegenteiligen Wahrnehmung der Betroffenen normalerweise keine Berentungsdiagnose. Die sozialmedizinische zeitliche Leistungsbeurteilung von Prof. Dr. F. ("bis sechs Stunden") erscheine nicht überzeugend. Auch die Berufung des Erstgerichts auf eine in einem früheren Arztbericht einmal aufgeführte Persönlichkeitsveränderung ohne Einholung eines neuen nervenärztlichen Gutachtens überzeuge nicht.
Die Klägerin übersandte nunmehr ärztliche Unterlagen über die stationären Aufenthalte vom 23.09. bis 02.10.2009, vom 11.10.2009 bis 05.11.2009 und vom 23.02. bis 24.02.2010 in der Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe des Caritasverbandes A-Stadt ("Zustand nach Endometriumkarzinom"). Die Beklagte ging nunmehr von voller Erwerbsminderung bei der Klägerin seit 23.09.2009 aus und anerkannte unter Bezugnahme auf § 99 Abs.1 SGB VI einen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung vom 01.10.2009 bis zum Beginn der Regelaltersrente bei voller Übernahme der außergerichtlichen Kosten für das Berufungsverfahren. Das Angebot wurde von der Klägerin nicht angenommen.
Sie erhielt auf ihren Antrag mit Bescheid der Beklagten vom 21.10.2010 Altersrente für Schwerbehinderte ab 01.11.2010.
Die Beklagte und Berufungsklägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 17.08.2009 abzuändern und die Beklagte entsprechend ihrem Angebot im Schriftsatz vom 26.04.2010 zu verpflichten, der Klägerin Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 01.10. 2009 bis zum Beginn ihrer Altersrente am 01.11.2010 zu zahlen.
Die Klägerin und Berufungsbeklagte beantragt,
die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge und die beigezogenen Beklagtenakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz
- SGG -) ist zulässig und in dem zuletzt - nach Abgabe des Anerkenntnisses über den Zeitraum ab 01.10.2009 - aufrecht erhaltenen Umfang auch begründet.
Das angefochtene Ersturteil, das von einem am 31.05.2006 eingetretenen Leistungsfall ausgeht und unbefristete Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung und für die Zeit vom 01.12.2006 bis 30.11.2009 an deren Stelle Rente wegen voller Erwerbsminderung zuspricht, kann für die Zeit vor dem 01.10.2009 keinen Bestand haben. Die angefochtenen Bescheide sind insoweit rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten. Dieser steht im genannten Zeitraum kein Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung gemäß § 43 Abs. 2 SGB VI, Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung gemäß § 43 Abs. 1 SGB VI bzw. Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit gemäß §§ 43 Abs. 1, 240 SGB VI zu.
Gem. § 43 Abs. 1, 2 SGB VI haben Versicherte bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres Anspruch auf Rente wegen teilweiser bzw. voller Erwerbsminderung, wenn sie
1. teilweise bzw. voll erwerbsgemindert sind,
2. in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge
für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben
3. vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Teilweise bzw. voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs bzw. drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Erwerbsgemindert ist gem. § 43 Abs. 3 SGB VI nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.
Nach § 240 Abs.1 SGB VI haben Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung auch Versicherte, die vor dem 2. Januar 1961 geboren und berufsunfähig sind; berufsunfähig sind nach § 240 Abs.2 SGB VI Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung im Vergleich zur Erwerbsfähigkeit von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen auf weniger als sechs Stunden gesunken ist; dabei umfasst der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit der Versicherten zu beurteilen ist, alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechend und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können.
Die Voraussetzungen dieser Vorschriften liegen entgegen der Auffassung des Erstgerichts für die Zeit vor dem 23.09.2009 nicht vor. Weder besteht Anspruch auf Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung, noch liegt Berufsunfähigkeit bei der entsprechend ihrer letzten Tätigkeit auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbaren Klägerin vor.
Die Beweisaufnahme der ersten Instanz hat ergeben, dass bei der Klägerin ab Antragstellung trotz der ungewöhnlichen Vielzahl der auf verschiedenen Fachgebieten diagnostizierten Gesundheitsstörungen und trotz ihrer hartnäckigen Überzeugung, ab der Antragstellung schwer erkrankt gewesen zu sein, ein ausreichendes zeitliches Leistungsvermögen (mindestens sechs Stunden täglich) für leichte und überwiegend im Sitzen zu verrichtende Arbeiten ohne besondere Anforderungen an die nervliche Belastbarkeit vorlag. Die Voraussetzungen der §§ 43, 240 Abs.2 SGB VI waren damit nicht gegeben.
Dies folgt zum einen aus dem Gutachten des Orthopäden Dr. W., auf dessen Fachgebiet der Schwerpunkt der Gesundheitsstörungen der Klägerin besteht. Dieser setzte sich in seinem Gutachten mit der umfassend dokumentierten Befundlage bei der Klägerin auseinander. Bei der Beurteilung lagen ihm alle rentenrelevanten Unterlagen vor. Auf Grund der Vorgeschichte, der umfangreichen Befunddokumentation und der klinischen Untersuchungsbefunde kam der Sachverständige auch für den Senat nachvollziehbar zu der gut begründeten Auffassung eines mindestens sechsstündigen Leistungsvermögens für leichte körperliche Arbeiten. Entgegen der Auffassung der Klägerin kann es bei der Beurteilung der Erwerbsminderung nicht ausschließlich auf einen Röntgenbefund oder eine MRT-Aufnahme ankommen. Bildgebende Verfahren sind nur Hilfsmittel bei den nötigen Feststellungen zu den für eine Rentengewährung notwendigen Funktionseinschränkungen, letztlich ausschlaggebend bleibt der tatsächlich feststellbare klinische Befund und die sich daraus ergebenden Funktionseinschränkungen.
Nicht zu folgen ist nach Auffassung des Senats der Beurteilung der Erwerbsfähigkeit der Klägerin auf internem Gebiet durch Prof. Dr. F./Dr. J ... Deren Befunderhebung rechtfertigt bei kritischer Würdigung entgegen der Auffassung des Erstgerichts nicht die Annahme eines drei- bis unter sechsstündigen Leistungsvermögens im Zeitraum ab Antragstellung im Jahre 2006. Die verbliebene zeitliche Leistungsfähigkeit der Klägerin wird in ihrem Gutachten auf "bis sechs Stunden" eingeschätzt. Insoweit ist jedoch dem ärztlichen Dienst der Beklagten Recht zu geben, der für diese subtile Einschränkung mit dem nur minimalen Unterschied zu der Aussage "mindestens sechs Stunden" keine sich aus den erhobenen Untersuchungsbefunden ergebende Rechtfertigung sieht. Die Gutachter geben auch keine nachvollziehbare nähere Begründung dazu ab, warum ein Leistungsvermögen von "mindestens sechs Stunden" nicht gegeben sein sollte. Der Senat geht nach allem mit dem ärztlichen Dienst der Beklagten von einem verbliebenen mindestens sechsstündigen Leistungsvermögen auch auf internem Gebiet aus. Er sieht darüber hinaus keine Notwendigkeit zu entsprechenden Erhebungen auf nervenärztlichem Gebiet. Bereits Dr. W. erwartete davon keine wesentlich neuen Erkenntnisse, zumal keinerlei Behandlung auf diesem Gebiet erfolgt. Der Senat sieht im Übrigen angesichts der immer wieder dokumentierten Fähigkeit der Klägerin zu kraftvollem Einsatz in wiederholten seitenlangen Schriftsätzen mit dezidierten Ausarbeitungen eher einen Beweis für ausreichende Energie und Konzentrationsfähigkeit jedenfalls in der Vergangenheit.
Etwas Anderes gilt aber für den Zeitraum ab 23.09.2009. Unstreitig liegt auf Grund der nun noch hinzugetretenen schweren Erkrankung mit Komplikationen durch mehrfach erforderliche operative Eingriffe dauerhafte volle Erwerbsminderung vor. Die Beklagte hat diesem neuen Sachverhalt durch ihr Angebot einer Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 01.10.2009 angemessen Rechnung getragen. Da die Klägerin dieses Angebot nicht angenommen hat und ihr Begehren auf Bewilligung einer Rente wegen Erwerbsminderung bereits ab Abtragstellung weiter verfolgte, war die Beklagte unter Abänderung des Ersturteils und - entsprechend ihrem Anerkenntnis - unter Aufhebung des Bescheides vom 31.05.2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.09.2006 zu verurteilen, der Klägerin Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 01.10.2009 bis zum Beginn ihrer Altersrente zu zahlen.
Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 193 SGG und berücksichtigt den Umstand, dass die Berufung der Beklagten nur zum Teil erfolgreich war.
Gründe für die Zulassung der Revision gem. § 160 Abs. 2 SGG sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
Login
FSB
Saved