L 10 AS 86/11 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
10
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 147 AS 33383/10 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 10 AS 86/11 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 25. November 2010 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch für das Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.

Gründe:

Die Beschwerde gegen den im Tenor bezeichneten Beschluss des Sozialgerichts (SG) Berlin ist nicht begründet.

Die 1961 geborene Antragstellerin zu 1 ist alleinerziehende Mutter ihrer beiden nicht prozessfähigen minderjährigen Kinder (vgl. § 71 Abs 1 und 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) iVm §§ 104ff Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)), des 1997 geborenen Antragstellers zu 2 und der 2004 geborenen Antragstellerin zu 3, mit denen sie eine Bedarfsgemeinschaft i.S. von § 7 Abs. 3 Nr. 1 iVm Abs. 3 Nr. 4 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) bildet. Da der Antragstellerin zu 1 das alleinige Sorgerecht für die Antragsteller zu 2 und 3 zusteht, ist sie auch alleinvertretungsbefugt (§ 1629 Abs. 1 Satz 3 BGB). Die Antragsteller, die laufend Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II vom Antragsgegner beziehen (wobei die anteiligen Bedarfe für Unterkunft und Heizung unter Zugrundelegung der ab dem 01. April 2011 monatlich 664,85 EUR betragenden tatsächlichen Gesamtaufwendungen für die aktuelle Wohnung (vgl. Schreiben des Vermieters vom 02. März 2011; Bl. 104ff. der Gerichtsakte; GA) abzüglich der Warmwasseraufbereitungspauschale von monatlich 15,53 EUR, obwohl sie aus Sicht des Antragsgegners unangemessen hoch sind, für einen Zeitraum von längstens zwölf Monaten, mithin bis einschließlich März 2012, in vollem Unfang anerkannt werden (vgl. Bescheide vom 17. März 2011; Bl. 118ff. GA)), verfolgen mit ihrer Beschwerde ihr bereits erstinstanzlich anhängig gemachten Begehren weiter, den Antragsgegner im Wege einer Regelungsanordnung i.S. von § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG zu verpflichten, ihnen (einstweilen) eine Zusicherung für die Berücksichtigung der Aufwendungen einer 79,21 qm großen Dreizimmerwohnung im L in B (Bl. 144 der Verwaltungsakte (VA)) von monatlich 664,70 EUR (Nettokaltmiete 462,59 EUR (838,33 abzgl. Mietnachl. 375,74 EUR), kalte Betriebskostenvorauszahlung 140,00 EUR, warme Betriebskostenvorauszahlung 45,75 EUR und Warmwasseraufbereitungsvorauszahlung 16,36 EUR; Bl. 42 der Gerichtsakte (GA)), die nunmehr ab dem 01. Juli 2011 (Schreiben des potentiellen Vermieters der Zielwohnung vom 02. März 2011 (Bl. 101 GA)) bezogen werden soll, zu erteilen, nachdem der Antragsgegner mit (i.S. von § 77 SGG) noch nicht bindend gewordenem Bescheid vom 03. August 2010 (Bl. 111 VA) in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29. September 2010 (Bl. 128 VA) den entsprechenden Antrag vom 30. Juli 2010 (Schriftsatz vom 29. Juli 2010 (Bl. 107 VA)) mit der Begründung abgelehnt hatte, zwar sei der Umzug (gemeint war der Auszug) erforderlich, die Bruttowarmmiete überschreite aber deutlich den aus seiner Sicht für einen Dreipersonenhaushalt als (abstrakt) angemessen zu erachtenden Wert von monatlich 542,00 EUR. Nach § 86b Abs 2 Satz 2 SGG kann das Gericht auf Antrag zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Der Anordnungsanspruch – die Rechtsposition, deren Durchsetzung im Hauptsacheverfahren be¬absichtigt ist – sowie der Anordnungsgrund – die Eilbedürftigkeit der begehrten sofortigen Regelung – sind glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG iVm § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO)). Maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung in der jeweiligen Instanz; im Beschwerdeverfahren kommt es demnach auf den Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung an.

Die begehrte gerichtliche Regelung kann schon deshalb nicht erlassen werden, weil es an der Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruches fehlt.

Nach § 22 Abs. 4 Satz 1 SGB II in der seit dem 01. Januar 2011 geltenden Fassung des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 21. März 2011 (BGBl I 452; nF) soll die erwerbsfähige leistungsberechtigte Person vor Abschluss eines Vertrages über eine neue Unterkunft die Zusicherung des für die Leistungserbringung bisher örtlich zuständigen kommunalen Trägers zur Berücksichtigung der Aufwendungen für die neue Unterkunft einholen. Dieser ist nach Satz 2 1. Halbsatz aaO zur Zusicherung verpflichtet, wenn der Umzug erforderlich ist und die Aufwendungen für die neue Unterkunft angemessen sind. Das Erfordernis, die vorherige Zusicherung des kommunalen Trägers einzuholen, ist – im Gegensatz zu dem in § 22 Abs. 6 SGB II nF geregelte Zustimmungserfordernis für die (hier nicht streitigen) Wohnungsbeschaffungs- und Umzugskosten (vgl. zur im wesentlichen inhaltsgleichen Vorgängerregelung in § 22 Abs. 3 SGB II a.F.: Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 06. Mai 2010 - B 14 AS 7/09 R, juris= SozR 4-4200 § 22 Nr. 37) - lediglich eine Obliegenheit der leistungsberechtigten Person, stellt aber keine Anspruchsvoraussetzung dar (vgl. zur im wesentlichen inhaltsgleichen Vorgängerregelung in § 22 Abs. 2 Satz 1 SGB II a.F.: BSG, Urteil vom 07. November 2006 – B 7b AS 10/06 R = SozR 4-4200 § 22 Nr. 2, jeweils RdNr 26f mwN). Die Vorschrift bezweckt die Schaffung von Rechtssicherheit. Für den Leistungsberechtigten soll das Entstehen einer (erneuten) Notlage in Folge einer nur teilweisen Übernahme der Unterkunftskosten vermieden werden. Auch der kommunale Träger muss an einer Entscheidung über die Angemessenheit der Unterkunftskosten vor einem Umzug interessiert sein, um für den Fall der Unangemessenheit der neuen Wohnung das Entstehen weiterer Kosten durch einen dann erforderlichen zweiten Umzug zu verhindern (vgl. Krauß in Hauck/Noftz, SGB II, Stand: November 2009, RdNr 102 zu § 22). Weitergehende Rechtsfolgen sind an jene Zusicherung zunächst nicht geknüpft. Insbesondere müssen auch bei fehlender Zusicherung nach § 22 Abs. 4 Satz 1 SGB II n.F. grds. Bedarfe für Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt werden, soweit diese angemessen sind. Erhöhen sich allerdings nach einem nicht erforderlich Umzug innerhalb der Grenzen des kommunalen Vergleichsraumes (vgl. zu dieser einschränkenden Auslegung der im wesentlichen inhaltsgleichen Vorgängerregelung in § 22 Abs. 1 Satz 2 a.F.: BSG, Urteil vom 01. Juni 2010 - B 4 AS 60/09 R, juris = SozR 4-4200 § 22 Nr. 35, jeweils RdNr 11) die angemessenen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung, wird gemäß § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II n.F. nur der bisherige Bedarf anerkannt (vgl. zu Sinn und Zweck dieser Regelung: BSG, aaO, RdNr 21).

Offen bleiben kann, ob die begehrte Zusicherung überhaupt gerichtlich einklagbar ist und damit zum Gegenstand einer Regelungsanordnung gemacht werden kann oder nicht vielmehr der "dahinter stehende" Anspruch durchgesetzt werden muss (vgl. zum Bildungsgutschein nach § 77 Abs. 4 Satz 1 Drittes Buch Sozialgesetzbuch: BSG, Urteil vom 18. Mai 2010 - B 7 AL 22/09 R, juris RdNr 10). Ebenso muss nicht entschieden werden, ob es sich hier um ein ausreichend konkretes streitiges Rechtsverhältnis zwischen den Beteiligten handelt. Dies ist deshalb zweifelhaft ist, weil der Umzug in die Zielwohnung auch zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht unmittelbar bevorsteht, sondern bis zum geplanten Umzugstermin (01. Juli 2011) noch mehr als zwei Monate verstreichen müssen, so dass aus heutiger Sicht – obgleich die bisherigen Mieter der Zielwohnung den Mietvertrag nunmehr zum 30. Juni 2011 gekündigt haben (vgl. Bl 123 GA) und der Vermieter dieser Wohnung die Bereitschaft, diese Wohnung an die Antragstellerin zu 1 ab dem 01. Juli 2011 weiterzuvermieten, im Schreiben vom 02. März 2011 (Bl. 101 GA) bereits erklärt hat – der Sachverhalt noch nicht als ausreichend veränderungsfest angesehen werden kann. Einstweiliger Rechtsschutz im Wege einer Regelungsanordnung ist zur Abwendung aktueller Notlagen eröffnet, nicht aber dazu, einstweilige Zusicherungen gleichsam "auf Vorrat" zu erlangen.

Selbst unter Zurückstellung der aufgezeigten Bedenken, kann ein Anordnungsanspruch hier – unbeschadet der zwischen den Beteiligten zu Recht nicht im Streit befindlichen Notwendigkeit des Umzuges (genauer: des Auszuges) aufgrund der zu beengten Wohnverhältnisse der aktuell inne gehabten Zweizimmerwohnung - nicht bejaht werden, weil die Aufwendungen für die Zielwohnung nicht angemessen i.S. des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II n.F. sind.

Der Senat teilt – ohne sich zu den angemessenen anteiligen Bedarfen für Unterkunft und Heizung der vorliegenden, aus drei Personen bestehenden Bedarfsgemeinschaft im Einzelnen abschließend festzulegen – die Einschätzung des SG, dass die Kosten der Zielwohnung zu hoch sind. Sie liegen bezüglich der monatlichen Bruttokaltmiete von 602,59 EUR (Nettokaltmiete 462,59 EUR zzgl. Vorauszahlungen für kalte Betriebskosten 140,00 EUR) über 20 % über dem vom SG zugrunde gelegten Wert von 482,40 EUR. Dieser ist - ohne eine Bindung an die AV-Wohnen anzunehmen – nach Ma߬gabe der Produkttheorie (dazu BSG, Urteil vom 07. November 2006 – B 7b AS 10/06 R, juris = SozR 4-4200 § 22 Nr 2, jeweils RdNr 24ff; zu den angemessenen kalten Betriebskosten als ein Faktor des Produkts ausdrücklich: BSG, Urteil vom 19. Oktober 2010 - B 14 AS 2/10 R, juris RdNr 28) unter Außerachtlassung der Heizkosten, die separat zu betrachten sind (BSG, Urteil vom 02. Juli 2009 – B 14 AS 36/08 R, juris = SozR 4-4200 § 22 Nr. 23, jeweils RdNr 18), entwickelt worden. Das Ergebnis ist tragfähig, der Senat nimmt darauf für die Belange dieses Verfahrens Bezug. Soweit der Senat sich bisher auf die einzelnen zur Bestimmung der angemessenen Wohnfläche und des angemessenen qm-Preises heranzuziehenden Werte nicht abschließend festgelegt hat, verbleibt es dabei; das SG hat alle Parameter (Wohnfläche, Kaltmiete, kalte Nebenkosten) so angesetzt, dass jedenfalls keine entscheidungsrelevanten Abweichungen in Betracht zu ziehen wären. Denn die Werte für die Nettokaltmiete (durchschnittliche Miete in einfachen Wohnlagen nach dem Berliner Mietspiegel 2009) und die zur Bestimmung der kalten Betriebskosten herangezogenen Grundlagen stehen in Übereinstimmung mit den gesetzlichen Wertungen und sind trotz des Zeitablaufs noch realitätsnah. Signifikante Veränderungen der Mietpreise im unteren Marktsegment sind derzeit (der Berliner Mietspiegel 2011 soll im Frühsommer erscheinen www.stadtentwicklung.berlin.de/wohnen/mietspiegel) nicht feststellbar. Aus den Berichten der Wohnungswirtschaft lässt sich zwar eine Steigerung des Durchschnitts der Angebotsmieten für ganz Berlin ablesen (vgl. Investitionsbank Berlin, Wohnungsmarktbericht 2010, S. 40), insbesondere im Bereich der Neuvertragsmieten (vgl. Verband Berlin-Brandenburgische Wohnungsunternehmen, BBU-Marktmonitor 2010 – Presseinformation S. 7). Wegen der immer größeren Differenzierung des Wohnungsmarktes gilt diese Feststellung indes nicht uneingeschränkt für das hier maßgebliche untere Marktsegment; dort sind etwa für den Bezirk M-H sogar rückläufige Mieten zu verzeichnen (GSW/CBRE, WohnmarktReport 2011, S. 4). Auch für die Entwicklung der kalten Betriebskosten fehlen derzeit belastbare aktuelle Daten für die maßgeblichen Kosten des unteren Marktsegments, die die Annahme rechtfertigen könnten, dass die vom SG insoweit angesetzten Kosten der Realität nicht mehr standhalten. Jedenfalls erlauben allein die von der Wohnungswirtschaft für ihren eigenen Bestand angeführten Steigerungsraten für die Jahre 2008 und 2009 (Verband Berlin-Brandenburgische Wohnungsunternehmen, Pressekonferenz, 22. April 2010) einen solchen Schluss nicht.

Da es schon an der Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruches mangelt, kann auch offen bleiben, ob ein Anordnungsgrund glaubhaft gemacht worden ist. Die Erteilung einer Zusicherung dürfte nämlich überhaupt nur dann Sinn machen, wenn sie Bindungswirkung entfaltet, diese Wirkung dürfte aber nur einer endgültigen, nicht hingegen einer nur vorläufig erteilten Zusicherung zukommen (so bereits LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 31. Juli 2009 – L 25 AS 1216/09 ER, juris RdNr 3)

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist nicht mit einer Beschwerde an das BSG anfechtbar (§177 SGG).
Rechtskraft
Aus
Saved