S 33 KR 901/08

Land
Hamburg
Sozialgericht
SG Hamburg (HAM)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
33
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 33 KR 901/08
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Bescheide vom 21.11.2007 und 14.12.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.06.2008 werden dahingehend abgeändert, dass die Beiträge für die Krankenversicherung für die Zeit vom 01.12.2007 bis 31.12.2007 nach dem Mindestbetrag für freiwillig Versicherte in Höhe von monatlich 816,67 EUR und für die Zeit vom 01.01.2008 bis 31.12.2008 nach dem Mindestbetrag in Höhe von monatlich 828,33 EUR bemessen werden. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Beitragseinstufung des Klägers in den Jahren 2007 und 2008.

Der als selbständiger Rechtsanwalt tätige Kläger ist bei der Beklagten freiwillig krankenversichert. Er lebt mit seiner Partnerin, die in Vollzeit als Krankengymnastin an einer Sonderschule arbeitet, und den beiden gemeinsamen Kindern in häuslicher Gemeinschaft. Laut Einkommensteuerbescheiden erzielte der Kläger folgende Einkünfte:

2004: 9607 EUR 2005: 7698 EUR 2006: 9363 EUR 2007: 4803 EUR 2008: 6487 EUR

Die Partnerin des Klägers verdient monatlich etwa 2500 EUR netto. 2007 entrichtete der Kläger Beiträge zur freiwilligen Kranken- und Pflegeversicherung nach dem allgemeinen Mindestbetrag des § 240 Abs. 4 Satz 1 Sozialgesetzbuch – Fünftes Buch (SGB V). Auf Anfrage der Beklagten gab der Kläger auf einem Formular an, 8 Stunden pro Woche als Rechtsanwalt zu arbeiten und reichte den Einkommenssteuerbescheid für das Jahr 2004 ein. Daraufhin setzte die Beklagte die Beiträge für die Zeit ab 1. Dezember 2000 neu fest (Bescheid vom 21. November 2007) und stufte den Kläger nunmehr nach der (höheren) Mindestgrundlage des § 240 Abs. 4 Satz 2 SGB V für hauptberuflich selbständig Erwerbstätige ein. Mit Bescheid vom 14. Dezember 2007 erfolgte eine erneute Beitragsfestsetzung für das Jahr 2008. Danach musste der Kläger 259,06 EUR Krankenversicherungs- und 31,68 EUR Pflegeversicherungsbeiträge entrichten.

Gegen diese Bescheide erhob der Kläger am 21. Dezember 2007 und 17. Januar 2008 Widerspruch, den er trotz Aufforderung nicht begründete. Die Beklagte wies den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 4. Juni 2008 als unbegründet zurück.

Hiergegen richtet sich die am 7. Juli 2008 erhobene Klage. Der Kläger vertritt die Auffassung, keine hauptberuflich selbständige Tätigkeit auszuüben. Er arbeite weniger als 10 Wochenstunden als Rechtsanwalt, in der übrigen Zeit betreue er seine minderjährigen Kinder.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid vom 21.11.2007 und den Bescheid vom 14.12.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4.6.2008 abzuändern und die Beiträge für die Krankenversicherung für die Zeit vom 1.12.2007 bis 31.12.2008 nach der jeweiligen Mindestbemessungsgrenze für freiwillig Versicherte festzusetzen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Kläger arbeite nach seinen eigenen Angaben ausschließlich als Rechtsanwalt. Da er keine weiteren Einnahmen erziele, werde die selbständige Tätigkeit hauptberuflich ausgeführt.

Das Gericht hat die Verwaltungsakte der Beklagten beigezogen. Mit Beschluss vom 29. Oktober 2008 ist das Verfahren gegen die Pflegeversicherung abgetrennt worden.

Der Kläger ist im Erörterungstermin vom 11. Mai 2009 und in der mündlichen Verhandlung am 14. Januar 2011 angehört worden. Wegen seiner Angaben wird auf die Sitzungsniederschriften Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig und begründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig. Die Beiträge für die Krankenversicherung sind für den streitgegenständlichen Zeitraum (1. Dezember 2007 bis 31. Dezember 2008) nach der Mindestbemessungsgrenze festzusetzen.

Die Beitragsbemessung bestimmt sich nach dem Mindestbetrag des § 240 Abs. 4 Satz 1 SGB V. Danach gilt als beitragspflichtige Einnahmen für den Kalendertag mindestens der neunzigste Teil der monatlichen Bezugsgröße. Diese beträgt monatlich für das Jahr 2007 816,67 EUR und für das Jahr 2008 828,33 EUR. Da die Einnahmen des Klägers weder bei der für die Beitragseinstufung gebotenen vorausschauenden Betrachtungsweise – ausgehend von den für die Jahre 2004 und 2005 vorgelegten Steuerbescheiden mit Einkünften in Höhe von 9607 bzw. 7698 EUR – noch unter Berücksichtigung des tatsächlich in den Jahren 2007 und 2008 erzielten Gewinns in Höhe von 4803 EUR bzw. 6487 EUR den Mindestbetrag übersteigen, ist der allgemeine Mindestbetrag heranzuziehen.

Nicht einschlägig hingegen ist die Regelung des § 240 Abs. 4 Satz 2 SGB V, die einen höheren Mindestbetrag für hauptberuflich selbständig Erwerbstätige vorsieht. Denn der Kläger war 2007 und 2008 nicht hauptberuflich als Rechtsanwalt tätig. Er hat überwiegend den Haushalt für seine Familie geführt.

§ 240 Abs. 4 Satz 2 SGB V stellt für freiwillige Mitglieder, die hauptberuflich selbständig erwerbstätig sind, eine Sonderregelung auf. Danach ist der dreißigste (und beim Nachweis niedrigerer Einnahmen der vierzigste) Teil der monatlichen Bezugsgröße zu Grunde zu legen. Nach dieser Regelung erfolgte die Einstufung durch die Beklagte.

Im SGB V wird an verschiedenen Stellen darauf abgestellt, ob eine hauptberuflich selbstständige Erwerbstätigkeit vorliegt, zum Beispiel in § 5 Abs. 5 SGB V, wonach die Versicherungspflicht nach verschiedenen Tatbeständen des Abs. 1 (Nr. 1 und 5-12) nicht für hauptberuflich Selbständige eintritt. Nach § 10 Abs. 1 Nr. 4 SGB V ist eine Familienversicherung nicht für Familienangehörige, die hauptberuflich erwerbstätig selbständig tätig sind, möglich. Aus den Gesetzesmaterialien zu § 5 Abs. 5 SGB V (BT-Drs. 11/2237 S 159) ergibt sich folgende Auslegung: Eine selbständige Erwerbstätigkeit ist hauptberuflich, wenn sie von der wirtschaftlichen Bedeutung und dem zeitlichen Aufwand her andere Tätigkeiten des versicherten Mitgliedes (z.B. unselbständige Erwerbstätigkeit, Haushaltsführung, Schulbesuch, Ausbildung) zusammen deutlich übersteigt und den Mittelpunkt seiner Erwerbstätigkeit darstellt. Diese Definition wird nach der einschlägigen Rechtsprechung und Literatur im Sinne einer einheitlichen Auslegung auch für die Tatbestände des § 10 Abs. 1 Nr. 4 SGB V und § 240 Abs. 4 Satz 2 SGB V herangezogen (LSG Berlin vom 19.3. 2003 – L 9 KR 157/02; LSG Berlin vom 22.10.1997 – L 9 KR 72/95; LSG Baden Württemberg vom 24.08.2004 – L 11 KR 4196/03; Krauskopf, Soziale Krankenversicherung, § 240 Rz 34).

Kriterien sind demnach (gleichberechtigt) sowohl die wirtschaftliche Bedeutung als auch der zeitliche Aufwand. Wie sich aus dem Klammerzusatz der Definition ergibt ist die selbständige Tätigkeit von unselbständigen Tätigkeiten, also abhängigen Beschäftigungen ebenso abzugrenzen wie von einer Ausbildung, einem Schulbesuch oder der Führung eines Haushalts (LSG Berlin vom 19.03.2003 – L 9 KR 157/02 in Juris). Deshalb ist es nicht sachgerecht, bereits dann eine hauptsächliche Tätigkeit anzunehmen, wenn keine andere Erwerbstätigkeit ausgeübt wird bzw. es sich um die alleinige Erwerbstätigkeit handelt. Denn die Abgrenzung bezieht sich nach den Gesetzesmaterialien ausdrücklich auch auf eine Ausbildung, einen Schulbesuch oder Tätigkeiten im Haushalt. Eine solche Vorgehensweise wäre auch nicht sachgerecht, denn sie berücksichtigt die wirtschaftliche Bedeutung nicht und würde dazu führen, dass jede selbständige Nebentätigkeit zu einem Ausschluss der Versicherungspflicht gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 5 bis 12 (z.B. bei einem Studenten) führen würde. Auch würde jede zeitlich und wirtschaftlich untergeordnete selbständige Tätigkeit im Rahmen des § 10 SGB V zum Ausschluss der Familienversicherung führen, wenn die betreffende Person keine weiteren Tätigkeiten ausübt jedoch über andere Einnahmequellen verfügt.

Es ist daher zu ermitteln, in welchem zeitlichen Umfang die selbständige Tätigkeit ausgeübt wird. Das BSG hat in diesem Zusammenhang entschieden, dass bei einer mehr als halbtags ausgeübten Tätigkeit grundsätzlich (unabhängig von den Einnahmen) von einer hauptberuflichen Ausübung auszugehen ist (BSG vom 10.3.1994 – 12 RK 3/94). Diese Annahme ist gerechtfertigt, denn wer sich in einem solchen zeitlichen Umfang engagiert tut dies in der Regel hauptberuflich. In einem weiteren Schritt ist die wirtschaftliche Bedeutung der Einnahmen aus der selbständigen Tätigkeit einer Prüfung zu unterziehen. Wirtschaftliche Bedeutung hat die selbständige Erwerbstätigkeit grundsätzlich dann, wenn die daraus erzielten Einnahmen zur Bestreitung des Lebensunterhalts nicht unwesentlich beitragen (LSG Berlin vom 22.10.1997 – L 9 KR 72/95, Krauskopf). Anders gewendet, müssen die Einnahmen grundsätzlich zur Bestreitung des Lebensunterhalts wesentlich beitragen (LSG Berlin vom 19.3. 2003 – L 9 KR 157/02).

Schließlich muss ggf. berücksichtigt werden, dass die Kriterien "zeitlicher Aufwand" und "wirtschaftliche Bedeutung" in Wechselwirkung stehen und ein geringerer zeitlicher Aufwand ebenso durch hohe Einnahmen kompensiert werden kann wie ein hoher Zeitaufwand die wirtschaftliche Bedeutung zurückzudrängen vermag (BSG vom 10.3.1994 – 12 RK 3/94).

Vorliegend sind der zeitliche Aufwand der Rechtsanwaltstätigkeit und die wirtschaftliche Bedeutung eher gering einzuschätzen. Nach beiden Kriterien wird keine hauptberuflich selbständige Tätigkeit ausgeübt.

Der Kläger hat deutlich mehr Zeit für häusliche Verrichtungen und Kinderbetreuungstätigkeiten aufgewandt als für seine Tätigkeit als selbständiger Rechtsanwalt. Die Rechtsanwaltstätigkeit liegt signifikant unter einer Halbtagstätigkeit. Die Kammer geht davon aus, dass der Kläger weniger als 10 Stunden in der Woche als Rechtsanwalt gearbeitet und in der übrigen Zeit den Vierpersonenhaushalt seiner Familie geführt hat. Er hat in der mündlichen Verhandlung dargelegt, nur in den angemieteten Büroräumlichkeiten zu arbeiten und sich dort zwar täglich, aber häufig nur eine halbe Stunde, manchmal 4 Stunden, aufgehalten zu haben. Im Prinzip sei er Hausmann, der nebenberuflich tätig sei. An Haushaltstätigkeiten gehe er einkaufen, räume auf, koche, versorge seine minderjährigen Kinder und verrichte Gartenarbeiten.

Die Angaben des Klägers zum zeitlichen Aufwand für die selbständige Tätigkeit und die häuslichen Verrichtungen sind glaubhaft. So steht die vom ihm beschriebene Beanspruchung durch die Rechtsanwaltstätigkeit im Einklang mit den erzielten Einkünften. Die Einkünfte des Klägers lassen sowohl aus dem Blickwinkel einer Prognose im Jahr 2007 auf der Grundlage der bis zu diesem Zeitpunkt bekannten Einkünfte als auch bei Heranziehung der tatsächlich erzielten Einnahmen und einer retrospektiven Betrachtung den Rückschluss zu, dass der Arbeitsaufwand eher geringfügig gewesen ist. So erzielte der Kläger 2004 und 2005 Einnahmen von rund 9600 EUR und 7700 EUR, was monatlich rund 800 EUR bzw. 600 EUR entspricht. Tatsächlich erwirtschaftete er 2007 nur 4803 EUR und 2008 6487 EUR, was monatlich etwa 400 bzw. 540 EUR entspricht. Diese eher geringen Einkünfte sprechen für eine geringe zeitliche Belastung durch die selbständige Tätigkeit und eine geringere Anzahl von Mandaten und Terminen. Andernfalls wäre der Gewinn deutlich höher. Es ist vor diesem Hintergrund auch nachvollziehbar, dass der Kläger nur etwa drei Gerichtstermine im Monat wahrnimmt (und wahrgenommen hat). Es ist ohne Weiteres möglich, sämtliche Tätigkeiten die für die Ausübung der anwaltlichen Tätigkeit erforderlich sind, in 8 Wochenstunden zu erledigen. Das gilt auch für die Zeit, die benötigt wird, um Gespräche vor- und nachzubereiten wie Recherchetätigkeiten und das Anfertigen von Schriftsätzen. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass der Kläger Büroräume angemietet hat. Denn die Miete ist mit 220 EUR sehr niedrig und damit auch vor dem Hintergrund der recht geringen Einnahmen und der niedrigen zeitlichen Nutzung nicht unwirtschaftlich.

Die Angaben des Klägers zu seinen Tätigkeiten im Haushalt sind ebenfalls gut nachvollziehbar. Sie entsprechen der Lebenswahrscheinlichkeit. Dass der Kläger mehr Arbeiten im Haushalt übernimmt als seine Partnerin ist naheliegend, denn sie übt eine Vollzeittätigkeit als Krankengymnastin aus. Die vom Kläger geschilderte Aufteilung ist auch ohne ausdrückliche Absprache glaubhaft. Die Lebensgefährtin des Klägers ist tagsüber aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit daran gehindert, Haushaltstätigkeiten wie Kochen, Aufräumen, Gartenarbeit und Kinderbetreuung zu übernehmen. Wenn nun der Lebenspartner über (deutlich) mehr Zeit verfügt, ergibt sich automatisch der vom Kläger geschilderte höhere Zeitanteil für die täglichen Verrichtungen in einem Vierpersonenhaushalt.

Es ist nicht erforderlich, dass im Sinne einer formalen Betrachtungsweise ausdrückliche Regelungen über die Aufteilung der Haushaltstätigkeit getroffen werden müssen. Hierfür geben weder der Gesetzeswortlaut noch die Auslegungskriterien für die Feststellung einer hauptberuflichen Tätigkeit etwas her. Maßgeblich sind allein die tatsächliche Ausgestaltung und die zeitliche Beanspruchung. Die zugrundeliegenden Vereinbarungen können ausdrücklich oder auch stillschweigend sein. Gerade bei Haushaltstätigkeiten ergibt sich – wie auch im vorliegenden Fall – die Aufteilung aus der zeitlichen Beanspruchung der Familienmitglieder. Der jeweilige Anteil ist im Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren zu ermitteln. Eine Vermutung, dass beim Fehlen eines ausdrücklichen Regelungswerks Hauptberuflichkeit anzunehmen ist, existiert nicht.

Auch die wirtschaftliche Bedeutung der Einkünfte des Klägers aus der Rechtsanwaltstätigkeit vermag den geringeren zeitlichen Anteil nicht auszugleichen. Diese ist gemessen am gesamten Familieneinkommen eher gering. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass der Kläger aufgrund seiner Partnerschaft und dem beschriebenen gemeinsamen Wirtschaften über eine andere Einnahmequelle verfügt, nämlich das Einkommen seiner Partnerin. Dieses ist den Einnahmen aus der selbständigen Tätigkeit gegenüberzustellen. Die Lebenspartnerin des Klägers erzielt ein monatliches Nettoeinkommen in Höhe von rund 2500 EUR. Sie verdient also wesentlich mehr als der Kläger und zahlt deshalb einen deutlich höheren Anteil für die laufenden Kosten wie Miete und Versicherungen sowie den Lebensunterhalt. Der Anteil, den der Kläger zum Familieneinkommen beisteuert, – nach den vorgelegten Einkommenssteuerbescheiden etwa 400 EUR für das Jahr 2007 und 540 EUR für das Jahr 2008 – ist im Verhältnis zum Einkommen der Partnerin gering und beträgt rund 1/6 der Gesamteinkünfte. Die Einnahmen des Klägers tragen daher gerade nicht wesentlich zum Lebensunterhalt bei.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Rechtskraft
Aus
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