S 33 AS 1252/06

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Frankfurt (HES)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
33
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 33 AS 1252/06
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 7 AS 413/09
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 4 AS 29/10 R
Datum
Kategorie
Urteil
1. Der Bescheid vom 15. Februar 2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. November 2006 wird abgeändert und der Beklagte verurteilt, dem Kläger Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II für den Zeitraum vom 1. Januar 2006 bis 12. Februar 2006 in gesetzlich vorgesehenem Umfang zu gewähren.

2. Der Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB II) auch für den Zeitraum vom 01.01.2006 bis 12.02.2006 hat.

Der 1943 geborene Kläger bezieht seit 01.01.2005 Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II aufgrund seines Antrages vom 20.12.2004. Zuvor hatte er Arbeitslosenhilfe (Alhi) seitens der Agentur für Arbeit A-Stadt unter erleichterten Bedingungen bezogen. Auf seinen Antrag vom 20.12.2004 bewilligte zunächst die Agentur für Arbeit A-Stadt die Leistungen für den Zeitraum vom 01.01.2005 bis 30.06.2005.

Durch Bescheid vom 23.05.2005 bewilligte der Beklagte im Anschluss daran dem Kläger die Grundsicherungsleistungen in Höhe von 703,44 EUR für den Zeitraum vom 01.07.2005 bis 31.12.2005. Dieser Bescheid enthält u. a. folgenden schreibtechnisch herausgehobenen Hinweis: "Sollten Sie über das Ende des Gewährungszeitraumes hinaus weiterhin Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II benötigen, bitten wir Sie, rechtzeitig (ca. 4 Wochen) vor Ablauf des Gewährungszeitraumes, die Weitergewährung der Leistungen zu beantragen.

Wie der Verwaltungsakte zu entnehmen ist, wies der Beklagte die Leistungen auf Wunsch des Klägers, der kein eigenes Girokonto hatte, dem Konto seiner von ihm getrennt lebenden Ehefrau an, die - nach seinem Vortrag - sodann die Unterkunftskosten beglich und den Restbetrag in bar an den Kläger auszahlte.

Nachdem der Kläger Ende Januar 2006 keine Leistungen für den genannten Monat erhalten hatte, stellte er am 13.02.2006 Antrag auf Weiterbewilligung, woraufhin der Beklagte die Leistung durch Bescheid vom 15.02.2006 ab 13.02.2006 bewilligte. Dagegen legte der Kläger am 15.03.2006 Widerspruch ein, den der Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 15.11.2006 zurückwies. Zur Begründung führte er aus, der Kläger habe nach Ablauf des Bewilligungszeitraums am 31.12.2005 spätestens an jenem Tage einen Folgeantrag stellen müssen. Dies habe er aufgrund des Hinweises im Bewilligungsbescheid vom 23.05.2005 auch gewusst. Der Kläger könne daher Leistungen für den Zeitraum vom 01.01.2006 bis 12.02.2006 nicht beanspruchen. Das ergebe sich aus dem Antragserfordernis des § 37 SGB II. Danach habe der Antrag erhebliche verfahrensrechtliche Bedeutung, so dass ein verspäteter Antrag einen begrenzten Rechtsverlust bewirke. Ohne Antragstellung sei der Leistungsträger schließlich weder verpflichtet noch berechtigt, tätig zu werden.

Dagegen hat der Kläger am 19.12.2006 am Sozialgericht Frankfurt am Main Klage erhoben. Er trägt vor, er habe seinerzeit den Fortzahlungsantrags erst gestellt, nachdem er bemerkt habe, dass Ende Januar 2006 keine Leistungen überwiesen worden seien. Den Hinweis in dem Bescheid vom 23.05.2005 habe er übersehen. Er habe nämlich nicht mit einem solchen Hinweis, sondern damit gerechnet, dass er die Formulare zur Weitergewährung zugesandt erhalte, wie dies bei der Gewährung von Arbeitslosenhilfe (Alhi) üblich gewesen sei. Zwar schreibe § 37 Abs. 1 SGB II eine Antragstellung zwingend vor. Ein vor dem Fortzahlungsantrag gestellter Antrag verliere jedoch nach Ablauf eines Bewilligungsabschnittes nicht seine Wirkung, weshalb eine Antragstellung solange fortwirke wie die Hilfebedürftigkeit andauere. Diesbezüglich beruft sich der Kläger auf den Beschluss des Hessischen Landessozialgerichts vom 25.07.2006 (Az.: L 9 AS 83/06 ER).

Der Kläger beantragt,
den Bescheid vom 15. Februar 2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.11.2006 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, ihm Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II für den Zeitraum vom 01.01.2006 bis 12.02.2006 in gesetzlich vorgesehenem Umfang zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Er trägt vor, der Antrag im Sinne des § 37 SGB II müsse im eigenen Namen und Interesse des jeweiligen Antragstellers gestellt und auf eine bestimmte Leistung gerichtet sein. Ein solches Begehren habe der Kläger erst durch seinen Antrag vom 13.02.2006 geäußert und nicht vorher. Zudem sei er durch Bescheid vom 23.05.2006 ausdrücklich und optisch hervorgehoben auf das Erfordernis der Antragstellung auf Weitergewährung der Leistungen hingewiesen worden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte des Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist auch begründet. Der Bescheid vom 15.02.2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.11.2006 ist insoweit rechtswidrig und abzuändern als der Kläger Anspruch auf SGB II-Leistungen auch für den Zeitraum vom 01.01.2006 bis 12.02.2006 hat. Denn er erfüllt die in §§ 7,9 SGB II geregelten Anspruchsvoraussetzungen auch für den vorgenannten Zeitraum. Diese sind zwischen den Beteiligten auch gar nicht streitig. Vielmehr hat der Beklagte durch den angefochtenen Bescheid Leistungen erst ab 13.02.2006 bewilligt und beruft sich insoweit auf § 37 SGB II mit der Maßgabe, der Kläger habe für den streitigen Zeitraum dem Antragserfordernis nicht Genüge getan. Dies ist zur Überzeugung der Kammer unzutreffend, so dass der Kläger in seinen Rechten verletzt, der angefochtene Bescheid für den streitigen Zeitraum rechtswidrig und daher abzuändern ist.

Zwar schreibt § 37 SGB II, der mit "Antragserfordernis" überschrieben ist, in seinem Abs.1 eine Antragstellung zwingend vor. Der Kläger hat indes einen solchen Antrag bereits am 20.12.2004 gestellt, so dass ihm Leistungen für den Zeitraum vom 01.01.2005 bis 30.06.2005 seitens der Bundesagentur für Arbeit (Agentur für Arbeit A-Stadt) und sodann für den Zeitraum vom 01.07.2005 bis einem 30.12.2005 durch den Beklagten bewilligt worden sind. Auch wenn der Kläger sowohl für den zuletzt genannten Zeitraum als auch für den hier streitbefangenen Zeitraum keinen Fortzahlungsantrags gestellt hat, stand und steht dies einer Weiterbewilligung der Leistungen über den 31.12.2005 hinaus bis zum 12.02.2006 nicht entgegen. Denn der vom Kläger (ursprünglich) gestellte Antrag vom 20.12.2004 hat seine Wirkung auch nach Auslaufen der bis zum 31.12.2005 erfolgten Bewilligung nicht verloren.

Wie Eicher/Spellbrink/Link bereits seinerzeit zutreffend hervorgehoben haben (SGB II, Grundsicherung für Arbeitssuchende, Komm.1. Aufl. 2005, § 37 Rdnr. 19), enthält das SGB II zur Frage, wann ein Leistungsantrag erneut gestellt werden muss bzw. wann die Wirkungen eines wirksam gestellten Antrages erlöschen, keine Regelung. Folglich gilt somit der allgemeine Grundsatz, dass ein verfahrensrechtlicher Antrag fortwirkt und wirksam bleibt, solange die Bewilligungsentscheidung nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt ist. Daraus folgt nach der genannten Kommentierung schlüssig, dass für die Fortzahlung/Weiterzahlung von Leistungen nach dem SGB II die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zur Alhi, wonach ein wirksam gestellter Antrag auf jene Leistung nach Ablauf des Bewilligungszeitraums seine Wirkung nicht verliert, entsprechend heranzuziehen ist (BSG SozR 3- 4100 § 139a Nr. 1; BSGE 87 262,268= SozR 3- 4100, § 196 Nr. 1 m.w.N.). Eine ursprüngliche Antragstellung wirkt danach unabhängig vom Bewilligungsabschnitt solange fort, wie die Hilfebedürftigkeit andauert (so auch Hessisches Landessozialgericht Beschluss vom 25. Juli 2006, Az.: L 9 AS 83/06 ER unter Bezugnahme auf die Durchführungshinweise der Bundesagentur für Arbeit für die Anwendung des SGB II, Rz 37.3).

Zwar wird in der 2. Auflage der vorgenannten Kommentierung (2008) die dargestellte Rechtsauffassung hinsichtlich der Fortwirkung eines ursprünglich gestellten Leistungsantrags nicht mehr vertreten und verschiedentlich darauf hingewiesen, dass sich der Anspruch auf Grundsicherungsleistungen von dem früher im Arbeitsförderungsgesetz (AFG §§ 134 ff) und sodann in Dritten Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB III §§ 190 ff) geregelten Anspruch auf Alhi schon dadurch unterscheide, dass es sich hinsichtlich des Antragserfordernisses bei der Alhi um eine materiell-rechtliche Voraussetzung gehandelt habe (z. B. Sozialgericht Reutlingen in JURIS, Urteil vom 17. März 2008, Az.: S 12 AS 2203/06). Abgesehen davon, dass lediglich seinerzeit im AFG die Antragstellung als (materielle) Anspruchsvoraussetzung ausdrücklich normiert war (vgl. § 134 Abs. 1 Nr. 1), nicht aber im SGB III (vgl. § 190 SGB III a.F.) hält die Kammer die Konsequenz, dass der Hilfebedürftige mangels Fortwirkung eines ursprünglichen Leistungsantrags seinen Leistungsanspruch nach Ablauf eines Bewilligungszeitraums zur Gänze verliert, solange er keinen erneuten Antrag gestellt hat, für nicht gerechtfertigt. Denn gerade weil das Antragserfordernis bei der Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II nicht als materiellrechtliche Voraussetzung ausgestaltet ist, liegt nahe, die Rechtswirkungen eines Leistungsantrages der zur Bewilligung einer Leistung geführt hat, die im Wesentlichen Hilfebedürftigkeit voraussetzt, als fortbestehend anzusehen, solange insoweit keine auch nur vorübergehende Änderung eintritt. Denn ein wesentlicher Unterschied der beiden zu vergleichenden Sozialleistungen spricht zudem nach Auffassung der Kammer für eine Fortwirkung des Antrags über einen vorangegangenen Bewilligungszeitraum hinaus. Im Recht der Alhi, für welches das BSG die Fortwirkung entwickelt hat, war dieser Zeitraum als "Bewilligungsabschnitt" vom Gesetz weitgehend vorgegeben (vgl. § 139a AFG; § 190 Abs. 3 SGB III a F.). Eine solche Vorgabe macht das SGB II dem Leistungsträger nicht. Vielmehr hat dieser nach § 41 Abs. 1 S. 5 SGB II sogar ausdrücklich die Möglichkeit, den Bewilligungszeitraum nach den individuellen Verhältnissen des Einzelfalles zu verlängern oder zu verkürzen, wovon nach den Erkenntnissen der Kammer in der Praxis auch Gebrauch gemacht wird. Es ist somit jederzeit möglich, dass einem Hilfebedürftigen SGB II-Leistungen für einen Zeitraum von einem Jahr bewilligt werden könnten, wenn eine Veränderung insoweit nicht zu erwarten wäre, der Hilfebedürftige aber - sofern die Leistungen gleichwohl lediglich für sechs Monate bewilligt würden - gehalten wäre, einen Weiterbewilligungsantrag zu stellen mit der Gefahr des (teilweisen) Verlustes des Leistungsanspruchs bei verspäteter Antragstellung, selbst wenn eine Veränderung der übrigen Voraussetzungen, insbesondere der Hilfebedürftigkeit - wie ursprünglich schon zu erwarten war - nicht eingetreten wäre.

Hinzu kommt in Fällen wie dem Vorliegenden, dass Hilfebedürftige - im Gegensatz zur früheren Verfahrensweise bei der Gewährung von Alhi durch die zeitnahe Versendung von entsprechenden Antragsformularen zur Weiterbewilligung oder auf andere Weise - von dem Beklagten auf den Ablauf der Bewilligung und das Erfordernis eines Weiterbewilligungsantrages nicht mehr zeitnah hingewiesen werden. Die Kammer sieht darin im Hinblick auf die im vorliegenden Fall von dem Beklagten an das Antragserfordernis geknüpften Rechtsfolgen zudem eine Verletzung der Beratungspflicht im Sinne des § 14 des Ersten Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB I). Dies wird gerade an dem mit dem Bewilligungsbescheid vom 23.05.2005 gegebenen schriftlichen Hinweis an den Kläger deutlich. Abgesehen davon dass der Hinweis in weitem zeitlichen Abstand von dem Einsetzen der vom Kläger zu erfüllenden Pflicht zur erneuten Antragstellung (Dezember 2005) erfolgte, enthält der Hinweis keinerlei Bemerkung zu den andererseits aber ganz gravierenden Rechtsfolgen, die der Beklagte an die verspätete Antragstellung knüpft. Dieses lediglich aus der Verfahrensweise des Beklagten bei der Fortzahlung von Leistungen resultierende Risiko für den Hilfebedürftigen spricht gemessen an den Anforderungen, die in anderem, aber vergleichbarem Zusammenhang an eine Rechtsfolgenbelehrung zu stellen sind (z. B. Meldeaufforderungen, Vermittlungsvorschläge) dafür, einem zuvor gestellten Leistungsantrag, der zu einer Bewilligung geführt hat, die Wirkungen beizumessen, die das BSG der Antragstellung im Rahmen der Alhi zugeschrieben hat (vgl. oben).

Insoweit ist im Falle des Klägers im Übrigen kein Umstand festzustellen, der die Wirkungen seines wirksam gestellten Leistungsantrages vom 20.12.2004 hätte zum Erlöschen bringen können. Insbesondere bestand Hilfebedürftigkeit des Klägers erkennbar fort. Eines Folgeantrages für den Zeitraum vom 01.01.2006 bis 12.02.2006 bedurfte es somit nicht, da die Wirkungen des Antrages vom 20.12.2004 nach Auffassung der Kammer nicht nur über den 31.12.2004, sondern auch über den 31.12.2005 hinaus fortbestanden. Danach hatte der Beklagte im vorliegenden Fall die Leistungen ohne Einschränkungen bereits durch Bescheid vom 23.05.2005 für den Zeitraum vom 01.07.2005 bis 31.12.2005 fortgezahlt, obwohl der Kläger für jenen Zeitraum auch keinen entsprechenden Antrag gestellt hatte. Schließlich stellt der Beklagte den Fortbestand der Anspruchsvoraussetzungen der Hilfebedürftigkeit beim Kläger auch für die Zeit ab 01.01.2006 nicht infrage wie die Leistungsbewilligung ab 13.02.2006 zeigt.

Der Beklagte war daher antragsgemäß zu verurteilen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), die Rechtsmittelbelehrung folgt aus § 144 Abs. 1 S. 1 SGG. Dabei geht die Kammer davon aus, dass dem Kläger für den etwa 1 1/2 monatigen Leistungszeitraum vom 01.01.2006 bis 12.02.2006 ein Leistungsanspruch in Höhe von ca. 900 EUR zusteht, der Wert des Beschwerdegegenstandes im Sinne der zuletzt genannten Vorschrift mithin den Betrag von 750 EUR übersteigt.
Rechtskraft
Aus
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