L 8 AL 72/11 NZB

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Potsdam (BRB)
Aktenzeichen
S 6 AL 276/10
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 8 AL 72/11 NZB
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Berufung im Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 12. Januar 2011 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Streitig ist in der Hauptsache, ob die Beklagte verpflichtet ist, einen Bescheid zurückzunehmen, mit dem sie die Bewilligung von Berufsausbildungsbeihilfe teilweise zurückgenommen und von der Klägerin Leistungen zurückgefordert hat. Die Klägerin ist 1988 geboren worden. Auf ihren Antrag hin bewilligte ihr die Beklagte durch Bescheid vom 8. Januar 2008 Berufsausbildungsbeihilfe für die Zeit vom 5. Dezember 2007 bis zum 4. Oktober 2008 in Höhe von 421,- EUR monatlich wegen Teilnahme an einer berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme in der Fortbildungsakademie der Wirtschaft gGmbH (FAW). Dem Bewilligungsbescheid war eine Anlage beigefügt, in der unter anderem auf Mitteilungspflichten hingewiesen wurde. Am 6. Februar 2008 wurde der Beklagten bekannt, dass die Klägerin zuletzt am 7. Januar 2008 an der Maßnahme teilgenommen hatte. Mit Schreiben vom 8. Februar 2008 teilte die Beklagte der Klägerin daraufhin ihre Absicht mit, die Leistungsbewilligung für die Zeit ab 8. Januar 2008 ganz aufzuheben. Es sei eine Überzahlung von 322,77 EUR eingetreten, die von der Klägerin verursacht worden sei, weil sie eine für den Leistungsanspruch erhebliche Änderung in den Verhältnissen nicht rechtzeitig mitgeteilt habe. Auf einem Formblatt der Beklagten gab die Klägerin daraufhin die Erklärung ab, dass der Sachverhalt zutreffe, und bat um Ratenzahlung in Höhe von 20,- EUR monatlich. Durch Bescheid vom 27. Februar 2008 hob die Beklagte die Bewilligung der Berufsausbildungsbeihilfe ab 8. Januar 2008 in vollem Umfang auf und forderte von der Klägerin einen Betrag von 322,77 EUR zurück. Die Leistungsbewilligung sei gemäß § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) aufzuheben gewesen, da die Klägerin wenigstens grob fahrlässig nicht ihren Mitteilungspflichten nachgekommen sei. Dieser Bescheid wurde bestandskräftig. Daneben führte die Beklagte ein Ermittlungsverfahren nach dem Ordnungswidrigkeitengesetz wegen des Vorwurfs der fahrlässigen Verletzung von Mitteilungspflichten durch. In diesem Verfahren gab die Klägerin mit Schreiben vom 26. April 2008 folgende Stellungnahme ab: "Ich habe am 5.12.07 mein FAW angefangen und habe es am 08.01.08 beendet. Ich musste das FAW beenden weil es wegen meiner Krankheit die ich schon von Geburt an habe nicht mehr ging. Ich war beim FAW und habe Ihnen bescheid gesagt. Ich wusste auch nicht das ich mich in Neuruppin melden muss weil ich beim FAW aufgehört habe. Ich bezahle das was ich zu unrecht bekommen habe die 322,77 EUR monatlich in Raten ab. Ich möchte sie bitten von einem Ermittlungsverfahren abzusehen da ich meinen Fehler eingesehen habe." Gleichwohl verhängte die Beklagte durch Bescheid vom 7. Mai 2008 eine Geldbuße in Höhe von 125,- EUR. Gegen den Bescheid, der außerdem Gebühren und Auslagen in Höhe von 23,50 EUR festlegte, erhob die Klägerin keinen Einspruch. Im Mai 2010 beantragte die Klägerin, vertreten durch ihren jetzigen Prozessbevollmächtigten (ihren Onkel), die Überprüfung des Bescheides vom 27. Februar 2008. Sie sei mit der Berufsausbildung und den Verwaltungsvorgängen völlig überfordert gewesen, weshalb sie nun auch von ihrem Onkel Unterstützung erhalte. Sie leide an einem seltenen Krankheitsbild, das nur noch unter Umständen eine Unterbringung in einer Werkstatt für Behinderte möglich mache. Die Beklagte lehnte die Rücknahme des Bescheides vom 27. Februar 2008 durch Bescheid vom 26. Mai 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Juli 2010 ab. Ihre - von ihr persönlich erhobene - Klage hat die Klägerin erneut damit begründet, dass sie angesichts ihrer Krankheit und ihrer persönlichen Umstände sowohl mit dem abgebrochenen Ausbildungsgang als auch mit Behördenangelegenheiten völlig überfordert gewesen sei. Ihr sei keine grobe Fahrlässigkeit nachweisbar, welche die Beklagte berechtige, die Leistungsbewilligung aufzuheben. Mit Verfügung der Kammervorsitzenden vom 9. Dezember 2010 wurde ein Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 12. Januar 2011 bestimmt. Mit Schreiben vom 21. Dezember 2010 zeigte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin deren Vertretung an und machte Ausführungen zur Sache. Mit Schreiben vom 5. Januar 2011 beantragte er eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung und machte weitere Ausführungen; diesem Schreiben war eine Mahnung der Bundesagentur für Arbeit - Regionaldirektion Berlin-Brandenburg, Forderungsmanagement - betreffend die Forderung aus dem Bescheid vom 27. Februar 2008 zuzüglich Mahngebühren beigefügt. Am 11. Januar 2011 fertigte die Justizbeschäftigte M folgenden Telefonvermerk: "Anruf von Herrn S (Onkel der Klägerin): Er teilt mit, dass die Klägerin morgen nicht zur Verhandlung erscheinen wird, da sie schwerbehindert sei und nicht wirklich Auskünfte zum Verfahren gegeben könne. Auch er selbst ist schwerbehindert und wird nicht erscheinen. Herr S teilt mit, dass die Richterin auch ohne mündliche Verhandlung entscheiden könnte. Sollte es zu einem Urteil kommen, könnte er ja über das LSG weiter gehen." In der mündlichen Verhandlung vom 12. Januar 2011 hat die Kammervorsitzende ausweislich des Sitzungsprotokolls den Telefonvermerk dem Vertreter der Beklagten zur Kenntnis gegeben. Aus dem Sitzungsprotokoll ergab sich weiter, dass die Beklagte daraufhin beantragt hat, einseitig mündlich zu verhandeln, und dass das Sozialgericht diesem Antrag "stattgegeben" hat. Durch Urteil vom 12. Januar 2011, das am Schluss der mündlichen Verhandlung verkündet worden ist, hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Die Berufung sei nicht zulässig, weil der Beschwerdewert von 750,- EUR nicht erreicht werde. Das Urteil wurde der Klägerin persönlich am 8. Februar 2011 mittels Einlegung in den Wohnungsbriefkasten zugestellt. Entsprechend der dem Urteil beigefügten Rechtsmittelbelehrung hat der Prozessbevollmächtigte mit Schreiben vom 4. März 2011 (beim Landessozialgericht eingegangen am 7. März 2011), dem eine Vollmacht der Klägerin beigefügt war, Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt. Geltend gemacht werde ein Verfahrensmangel, auf dem die Entscheidung beruhen könne. Das Gericht habe mehrere Vorgehensweisen zur Auswahl gehabt, aber eine schnelle Entscheidung gewollt. Verfahrensfehlerhaft und diskriminierend sei es auch, dass das Sozialgericht die Argumente der Klägerin als "neben der Sache" bezeichnet habe. Es habe die Argumentation nicht verstanden, nicht hinterfragt und auch in keinem Erörterungstermin recherchiert. Er habe sehr deutlich versucht, das Krankheitsbild der Klägerin zu beschreiben, die mit Behörden in keiner Weise zurecht komme. Die Richterin müsse die "Härtefallregelung" des "§ 45 SGB X" kennen und auch anzuwenden wissen. Die Klägerin habe die Maßnahme weder vorsätzlich noch mutwillig abgebrochen. Sie fühle sich diskriminiert. Schuldeingeständnisse habe es nicht gegeben, ein von der Beklagten verhängtes Bußgeld zahle er für die Klägerin ab. Er bezweifle auch, dass das Urteil unabhängig entstanden sei, da die Beklagte bereits vor dessen Zustellung wieder die Einziehung der Forderung in Auftrag gegeben habe. Ferner stelle sich die Frage, warum für die Beklagte nun die Regionaldirektion Berlin-Brandenburg Äußerungen abgebe, die ihm gegenüber bisher betont habe, sich nicht äußern zu können.

II.

Die Nichtzulassungsbeschwerde ist statthaft (§ 145 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz [SGG]). Die Berufung bedurfte gemäß § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Satz 2 SGG der Zulassung, weil die von der Klägerin erhobene Klage eine Geldleistung bzw. einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft und weder der Wert des Beschwerdegegenstandes 750,00 EUR übersteigt noch die Berufung eine laufende oder wiederkehrende Leistung für mehr als ein Jahr betrifft; die Berufung ist ferner in dem angefochtenen Urteil nicht zugelassen worden. Der von der Klägerin geltend gemachte Zulassungsgrund des § 144 Abs. 2 Nr. 3 SGG liegt jedoch im Ergebnis nicht vor. Das Urteil vom 12. Januar 2011 ist zwar jedenfalls von daher verfahrensfehlerhaft ergangen, als das Sozialgericht trotz der telefonischen Mitteilung des (gemäß § 73 Abs. 2 Nr. 2 SGG in Verbindung mit § 15 Abs. 1 Nr. 7 Abgabenordnung vertretungsberechtigten) Bevollmächtigten vom 11. Januar 2011 nach einseitiger mündlicher Verhandlung entschieden hat. Der Mitteilung war deutlich zu entnehmen, dass er eine mündliche Verhandlung vor dem Sozialgericht nur dann als entbehrlich ansah, wenn der Klägerin die Möglichkeit offen stand, vor einer weiteren Instanz mit ihrem Anliegen gehört zu werden. Zur Wahrung des Grundrechts der Klägerin auf rechtliches Gehör in der Ausprägung des Rechts auf eine mündliche Verhandlung (s. dazu etwa Bundessozialgericht, Beschluss vom 16. November 2000 - B 4 RA 122/99 B in Entscheidungssammlung Sozialrecht [SozR] 3-1500 § 160 Nr. 33) war das Sozialgericht dann gehalten, den Bevollmächtigten vor einer instanzbeendenden Entscheidung davon zu unterrichten, dass es auch in Abwesenheit der Klägerin nach mündlicher Verhandlung zu entscheiden beabsichtigt und dass gegen das Urteil keine Berufung statthaft ist. Dies gilt umso mehr, weil das persönliche Erscheinen der Klägerin nach § 111 Abs. 1 Satz 1 SGG angeordnet und diese Anordnung - deren vorrangiger Zweck die Aufklärung des Sachverhalts ist (s. stellvertretend Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl. 2008, § 111 Rn. 2) - nicht aufgehoben worden war. Wegen des besonderen Rechtswerts der mündlichen Verhandlung begründet der beschriebene Verfahrensmangel im Regelfall die weitere Voraussetzung des § 144 Abs. 2 Nr. 3 SGG, dass die Entscheidung auf dem Verfahrensmangel beruhen kann. Hier verhält es sich jedoch ausnahmsweise anders. Der Verfahrensmangel kann nicht kausal für das angefochtene Urteil sein, weil dieses in der Sache nicht anders ergehen konnte. Die Voraussetzungen für eine Rücknahme des Bescheides vom 27. Februar 2008 gemäß § 44 Abs. 1 SGB X lagen nicht vor, weil dieser Bescheid wenigstens im Ergebnis rechtmäßig war. Dieser Bescheid rechtfertigt sich schon nach dem eigenen Vortrag der Klägerin dadurch, dass sie selbst wusste oder jedenfalls nur wegen eines besonders schwerwiegenden Sorgfaltsverstoßes nicht hätte gewusst haben können, dass der sich aus der Leistungsbewilligung ergebende Anspruch auf Berufsausbildungsbeihilfe kraft Gesetzes weggefallen war (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X). Im Bereich der Arbeitsförderung führt das zwingend dazu, dass die Leistungsbewilligung rückwirkend ab dem Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufzuheben ist (§ 330 Abs. 3 Satz 1 Sozialgesetzbuch Drittes Buch [SGB III]). Die Klägerin selbst hat vor allem in ihrer Stellungnahme im Ordnungswidrigkeitenverfahren deutlich zum Ausdruck gebracht, dass ihr der Zusammenhang zwischen ihrer Teilnahme an der berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme und dem Anspruch auf Leistungen bewusst ist. Der Stellungnahme ist auch deutlich zu entnehmen, dass die Klägerin wegen ihrer Krankheit keine Möglichkeit mehr sah, die Maßnahme fortzusetzen und sich deshalb beim Maßnahmeträger "endgültig" abgemeldet hatte. Verwahrt hat sich die Klägerin nur gegen den Vorwurf, ihren Mitteilungspflichten nicht nachgekommen zu sein, da sie offenbar davon ausging, der Maßnahmeträger werde die ihm gegenüber abgegebene Mitteilung an die Beklagte weiterleiten. Vor diesem Hintergrund ist nichts dafür ersichtlich, dass die Klägerin berechtigt hätte annehmen können, die Berufsausbildungsbeihilfe für die Zeit nach Beendigung der Maßnahme behalten zu dürfen. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Vortrag des Verfahrensbevollmächtigten der Klägerin. Gerade die Stellungnahme im Ordnungswidrigkeitenverfahren zeigt, dass die Klägerin in der Lage war, sich klar und sachbezogen zu äußern. Aus welchen Gründen sie - vor allem gegen den Bußgeldbescheid - keinen Rechtsbehelf eingelegt hat, hat keine Bedeutung. Allein dass sie dies unterlassen hat, bedeutet noch nicht, dass sie nicht in der Lage gewesen wäre, die Bedeutung der Behördenentscheidungen einzuschätzen. Eine Diskriminierung ist angesichts dessen nicht einmal ansatzweise ersichtlich. Der Bescheid kann auf § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X auch gestützt werden, ohne dass eine erneute Anhörung der Klägerin erforderlich gewesen wäre (§ 24 Abs. 1 SGB X). Die für diese Vorschrift maßgebliche Tatsachengrundlage ist keine wesentlich andere als diejenige, welche der von der Beklagten angewendeten Vorschrift des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X zugrunde lag (s. in diesem Zusammenhang Bundessozialgericht, Urteil vom 15. August 2002 - B 7 AL 38/01 R, in Entscheidungssammlung Sozialrecht [SozR] 3-1300 § 24 Nr. 21). Der vom Bevollmächtigten der Klägerin erwähnte § 45 SGB X ist nicht anwendbar, weil die Voraussetzungen für die Leistung erst weggefallen waren, nachdem der Bewilligungsbescheid ergangen war. Ob es gerechtfertigt war, gegenüber der Klägerin ein Bußgeld zu verhängen, ist nicht Gegenstand dieses Verfahrens. Welche ihrer Dienststellen (s. dazu § 367 Abs. 2 SGB III) die Beklagte mit welchen Aufgaben betraut, kann sie außerhalb zwingender gesetzlicher Vorgaben selbst regeln. Angesichts dessen ist ohne jede rechtliche Bedeutung, dass sie im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde durch ihre Organisationseinheit "Regionaldirektion" vertreten wird, im Verfahren erster Instanz dagegen durch die Organisationseinheit "Agentur für Arbeit". "Am Rand" sieht der Senat noch Anlass für die Bemerkung, dass die Beklagte ohne Weiteres die Vollstreckung aus dem Bescheid vom 27. Februar 2008 betreiben konnte, solange der Bescheid vom 26. Mai 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Juli 2010 nicht aufgehoben und die Beklagte zur Rücknahme des Bescheides vom 27. Februar 2008 verpflichtet worden war. Erst durch den Rücknahmeakt wäre die Vollstreckbarkeit des Bescheides vom 27. Februar 2008 beseitigt worden (s. § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB X in Verbindung mit § 3 Verwaltungs-Vollstreckungsgesetz des Bundes). Gemäß § 145 Abs. 4 Satz 5 SGG wird das Urteil des Sozialgerichts mit der Ablehnung der Beschwerde durch das Landessozialgericht rechtskräftig. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens beruht auf § 193 SGG. Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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