S 7 AL 157/11

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG München (FSB)
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
7
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 7 AL 157/11
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 9 AL 155/11
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Der Bescheid vom 22.12.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.1.2011 wird aufgehoben.

II. Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

III. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Rücknahme der Bewilligung von Arbeitslosengeld (Alg) ab 26.2.2011 streitig.

Die 1969 geborene verheiratete Klägerin ist deutsche Staatsangehörige mit Wohnsitz in Deutschland. Die Klägerin war seit 1.4.2004 bei der Firma K. in Österreich als Controllerin versicherungspflichtig beschäftigt. Nach der Geburt ihres ersten Kindes (2006) befand sich die Klägerin vom 18.2.2006 bis 17.2.2008 in Elternzeit; vom 18.2.2008 bis 25.8.2008 war die Klägerin wieder bei der Firma K. in Österreich beschäftigt; nach der Geburt des zweiten Kindes (2008) befand sich die Klägerin vom 26.8.2008 bis 25.8.2010 in Elternzeit; in der Zeit vom 26.8.2010 bis 30.11.2010 war die Klägerin erneut bei der Firma K. beschäftigt. In dem Formular E 301 bescheinigte der Arbeitsmarkt-Service Salzburg der Klägerin folgende, einer Beschäftigung entsprechende Versicherungszeiten und gleichgestellte Zeiten: 3.1 Versicherungszeiten: 1.4.2004 bis 30.9.2005 6.10.2005 bis 17.1.2006 18.2.2008 bis 22.6.2008 26.8.2010 bis 30.11.2010 3.2 gleichgestellte Zeiten: 18.1.2006 bis 7.6.2006 (Wochengeld) 23.6.2008 bis 17.11.2008 (Wochengeld).

Am 2.9.2010 meldete sich die Klägerin bei der Beklagten arbeitslos und beantragte Alg. Die Klägerin erklärte, sie wolle für die Erziehung ihrer Kinder in der Zeit vom 17.2.2006 bis 16.2.2009 bzw. vom 25.8.2008 bis 26.8.2010 Kindererziehungszeiten als versicherungspflichtige Zeit in der Arbeitslosenversicherung anerkannt bekommen; die zu erziehenden Kinder hätten ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland. Die Klägerin legte dar, sie habe während der Zeit der Beschäftigung bei der Firma K. in Österreich ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland gehabt; sie habe ihren Wohnsitz in Deutschland aufrechterhalten und sei täglich oder einmal wöchentlich an ihren Wohnort in Deutschland zurückgekehrt. Die Beklagte gewährte der Klägerin mit Bescheid vom 18.11.2010 ab 1.12.2010 Alg mit einer Anspruchsdauer von 360 Kalendertagen.

Nach Anhörung der Klägerin gemäß § 24 Sozialgesetzbuch (SGB) X nahm die Beklagte mit Bescheid vom 22.12.2010 die Gewährung von Alg ab 26.2.2011 zurück. Zur Begründung wurde u.a. ausgeführt, die Klägerin habe keinen Anspruch auf Alg, da sie innerhalb der Rahmenfrist vom 1.12.2008 bis 30.11.2010 keine 360 Tage versicherungspflichtig zur Arbeitslosenversicherung gewesen sei; die Zeit der Kindererziehung vom 1.12.2008 bis 25.8.2010 könne nicht als gleichgestellte Zeit im Sinne von § 26 SGB III berücksichtigt werden, da durch diese Erziehungszeit keine Beschäftigung im Geltungsbereich des SGB unterbrochen worden sei; wegen der von der Klägerin im Vertrauen auf die Alg-Gewährung bereits getätigte Neuanschaffung von Möbeln sei die Rücknahme der Alg-Bewilligung erst ab 26.2.2011 erfolgt.

Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 26.1.2011 als unbegründet zurück; sie führte u.a. aus, der Klägerin sei zu Unrecht Alg bewilligt worden; die Klägerin habe als Grenzgängerin in Österreich Beschäftigungszeiten zurückgelegt und könne sich nicht darauf berufen, dass die Zeiten der Kindererziehung bis zum vollendeten 3. Lebensjahr bei unmittelbar vorausgegangener Versicherungspflicht in Österreich nach deutschem Recht (§ 26 Abs. 2 a SGB III) versicherungspflichtig seien; Normzweck der im Bereich der EU geltenden Verordnung EG-VO 883/2004 sei nicht, Zeiten anwartschaftsbegründend werden zu lassen, die dies nach dem Recht des Beschäftigungsstaates nicht seien; in Österreich gebe es keine zu § 26 Abs. 2 a SGB III analoge gesetzliche Regelung.

Dagegen richtet sich die zum Sozialgericht München erhobene Klage. Die Klägerin wen-det sich unter Hinweis auf die EG-VO Nr. 883/2004 gegen die Rücknahme des Alg-Bewilligungsbescheides. Die Klägerin macht u.a. geltend, die Kindererziehungszeit sei in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Beschäftigung als Grenzgängerin zu bewerten; sie sei als Grenzgängerin gleich zu behandeln wie eine inländische Arbeitnehmerin; durch die getroffene Entscheidung würden Grenzgängerinnen, die während ihrer Beschäftigung Kinder zur Welt brächten und Erziehungszeit in Anspruch nähmen, im Bereich der Arbeitslosenversicherung ihren Schutz verlieren.

Die Beklagte wendet u.a. ein, Kindererziehungszeiten seien nach § 26 Abs. 2 a SGB III nur dann versicherungspflichtig, wenn unmittelbar (entspricht einem Monat) davor gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 1 SGB IV eine Beschäftigung in Deutschland ausgeübt worden sei; Auslandszeiten würden als Versicherungszeiten nicht anerkannt.

In der mündlichen Verhandlung beantragt die Klägerin, die Beklagte zu verurteilen, den Bescheid vom 22.12.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.1.2011 aufzuheben. Der Vertreter der Beklagten beantragt, die Klage abzuweisen.

Wegen weiterer Einzelheiten wird zur Ergänzung des Sachverhalts auf den Inhalt der die Klägerin betreffenden Akte der Beklagten sowie der Klageakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig und erweist sich auch als begründet.

Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 22.12.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.1.2011 ist aufzuheben, da die Rücknahme des Alg-Bewilligungsbescheides zu Unrecht erfolgt ist. Die Klägerin hat Anspruch auf Alg. § 26 Abs. 2 a SGB III i.V.m. § 3 Abs. 1 Nr. 1 SGB IV ist für die Klägerin als Grenzgängerin da-hingehend auszulegen, dass die in Österreich ausgeübte und im Formular E 301 bescheinigte versicherungspflichtige Beschäftigungszeit dem Alg-Anspruch unter Bejahung einer anwartschaftsbegründenden Erziehungszeit im Inland nicht entgegensteht, wenn – wie hier gegeben – die übrigen Leistungsvoraussetzungen erfüllt sind.

Ob und in welchem Umfang die Beklagte die Gewährung des Alg zurücknehmen durfte, richtet sich im vorliegenden Fall nach § 45 Abs. 1 und 2 SGB X. Danach darf ein rechts-widriger begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden.

Zwar handelt es sich bei dem mit Bescheid vom 18.11.2010 bewilligten Alg um einen begünstigenden Verwaltungsakt mit Dauerwirkung. Der Bewilligungsbescheid vom 18.11.2010 ist jedoch nicht rechtswidrig.

Nach § 118 Abs. 1 SGB III haben Anspruch auf Alg Arbeitnehmer, die arbeitslos sind, sich bei der Agentur für Arbeit arbeitslos gemeldet haben und die Anwartschaftszeit erfüllt haben. Gemäß §§ 123 Abs. 1, 124 Abs. 1 SGB III hat die Anwartschaftszeit erfüllt, wer in der Rahmenfrist von zwei Jahren mindestens zwölf Monate in einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden hat.

Diese Voraussetzungen liegen vor. Die Klägerin hat insbesondere unter Berücksichtigung der innerhalb der Rahmenfrist (1.12.2008 bis 30.11.2010) zurückgelegten Versicherungszeiten die Anwartschaftszeit erfüllt.

In dieser Zeit war die Klägerin vom 26.8.2010 bis 30.11.2010 unter Berücksichtigung der im Formular E 301 bescheinigten Versicherungszeiten 97 Kalendertage in der Arbeitslosenversicherung versicherungspflichtig.

Nach § 26 Abs. 2 a Satz 1 SGB III sind darüber hinaus auch Personen in der Zeit, in der sie ein Kind erziehen, das das 3. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, versicherungspflichtig, wenn sie unmittelbar vor der Kindererziehung versicherungspflichtig waren und sich mit dem Kind im Inland gewöhnlich aufhalten.

Die Klägerin hat ihr 2008 geborenes zweites Kind in der Zeit vom 25.8.2008 bis 26.8.2010 im Inland erzogen.

Die Anwendung von § 26 Abs. 2 a SGB III scheitert entgegen der Auffassung der Beklagten nicht gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 1 SGB IV daran, dass die Klägerin ihre versicherungspflichtige Beschäftigung vor der Erziehungszeit in Österreich und nicht in Deutschland ausgeübt hat.

Die Klägerin hat die bei der Firma K. in Österreich ausgeübte Beschäftigung gemäß Art. 1 f EG-VO Nr. 883/2004 als Grenzgängerin ausgeübt und – wie gesetzlich vorgesehen – in Österreich Beiträge zur Arbeitslosenversicherung entrichtet. Gemäß Art. 65 Abs. 2 Satz 1 EG-VO Nr. 883/2004 muss sich die Klägerin bei Vollarbeitslosigkeit der Arbeitsverwaltung des Wohnstaates (Deutschland) zur Verfügung stellen. Die besondere Situation der Grenzgänger ist durch ihre Nähe zum Staatsgebiet des Wohnortes, ihre zwangsweise Einbeziehung in das nationale Sicherungssystem des Beschäftigungsortes und nicht des Wohnsitzes mit entsprechender Beitragspflicht und durch den fortbestehen-den Bezug zum Inlandsarbeitsmarkt gekennzeichnet (s. Beschluss des BVerfG vom 30.12.1999 – 1 BvR 809/95). Nach Art. 65 Abs. 5 a der EG-VO Nr. 883/04 erhält ein Grenzgänger Leistungen nach den Rechtsvorschriften des Wohn-Mitgliedsstaates, als ob diese Rechtsvorschriften für ihn während seiner letzten Beschäftigung gegolten haben; diese Leistungen werden von dem Träger des Wohnorts gewährt.

Der Träger des Wohnsitzstaates hat den Grenzgänger umfassend in sein Sozialleistungssystem aufzunehmen (s. Fuchs / Eichenhofer, Kommentar zum Europäischen Sozialrecht, 5. Auflage, Art. 65 Rdnr. 9). Aus dieser rechtlichen Fiktion resultiert nach Auffassung des Gerichts, dass die in Österreich zurückgelegten Versicherungszeiten wie eine in Deutsch-land zurückgelegte versicherungspflichtige Beschäftigung anzusehen sind mit der Folge, dass die Bejahung der Voraussetzungen des § 26 Abs. 2 a SGB III nicht an einer Vorversicherungszeit in Österreich scheitert.

Soweit die Beklagte einwendet, dass nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 SGB IV bezüglich der Vorschriften über die Versicherungspflicht eine Beschäftigung im Geltungsbereich des SGB, d.h. in Deutschland, für die Anwendbarkeit des § 26 Abs. 2 a SGB III unabdingbare Voraussetzung sei, hat sich die Kammer dieser Auffassung nicht angeschlossen. Zwar ist die in § 26 Abs. 2 a SGB III geregelte beitragslose Versicherungszeit für die Erziehung von Kindern im Inland von einer beitragspflichtigen Vorversicherungszeit abhängig; jedoch ist diese Vorversicherungszeit über die vom Gesetzgeber geschaffenen Regeln für Grenz-gänger ( Art. 65 Abs. 5 a VO - EG Nr. 883 / 2004) mit einer Inlandsbeschäftigung gleich-zusetzen, so dass die von der Klägerin in Österreich ausgeübte Beschäftigung der Bejahung der Voraussetzungen des § 26 Abs. 2 a SGB III nicht entgegensteht. Die in § 3 Abs.1 Nr. 1 SGB IV getroffene Regelung wird insoweit gemäß § 6 SGB IV durch die für Grenzgänger im EU - Bereich geltenden Regeln modifiziert.

Soweit die Beklagte einwendet, dass Zeiten der Kindererziehung in Österreich nicht anwartschaftsbegründend seien, ist ihr entgegenzuhalten, dass es im vorliegenden Fall um die Gewährung von Alg nach deutschem Recht geht und in diesem Zusammenhang nur die österreichischen Vorversicherungszeiten nach den für Grenzgänger geltenden Regeln herangezogen werden.

Aber selbst wenn – was nach Auffassung des Gerichts nicht der Fall ist - § 3 Abs. 1 Nr. 1 SGB IV im Rahmen des § 26 Abs. 2 a SGB III zur Anwendung käme, wäre diese Vor-schrift mit Blick auf § 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) verfassungskonform dahingehend aus-zulegen, dass dem Alg-Anspruch einer zuvor in Österreich beitragspflichtigen deutschen Grenzgängerin mit Wohnsitz in Deutschland die in Österreich ausgeübte versicherungspflichtige Beschäftigung im Rahmen des § 26 Abs. 2 a SGB III jedenfalls dann nicht entgegensteht, wenn – wie im vorliegenden Fall – die übrigen Leistungsvoraussetzungen gegeben sind ( s. zur verfassungskonformen Auslegung von § 30 Abs. 1 SGB I Urteil des Bundessozialgerichts –BSG- vom 7.10.2009 – B 11 Al 25 / 08 R). Es ist kein sachlicher Differenzierungsgrund dafür ersichtlich, weshalb in Deutschland lebende Grenzgänger, die einerseits nach der Entscheidung des Gesetzgebers im Beschäftigungsstaat Beiträge zur Arbeitslosenversicherung entrichten müssen und die sich andererseits im Wohnsitz-staat Deutschland arbeitslos melden müssen, generell von anwartschaftsbegründenden, nicht beitragsgebundenen Erziehungszeiten ausgeschlossen sein sollen. Die Beklagte verkennt bei der von ihr getroffenen Entscheidung, dass Grenzgänger wegen des Wohnens im Wohnsitzstaat , des Arbeitens im Beschäftigungsstaat und der Alg – Leistungserbringung im Wohnsitzstaat eine Sonderstellung einnehmen und dieser Personenkreis auf besondere Koordinationsregeln angewiesen ist, die die Beklagte als vom Gesetzgeber bestimmte Alg-Leistungserbringerin zu beachten hat. Unter Beachtung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ist es deshalb nicht gerechtfertigt, dass die Beklagte die gemäß § 30 Abs. 1 SGB I im Geltungsbereich des SGB lebenden Grenzgänger von der Anwendbarkeit des § 26 Abs. 2 a SGB III generell ausschließt und die Grenzgänger mit der Nichtberücksichtigung der im Beschäftigungsstaat zurückgelegten Versicherungszeiten und hieraus resultierender Verneinung des Alg – Anspruchs schlechter stellt als Arbeitslose, die ihre Beschäftigungszeiten vor der Erziehungszeit im Inland zurückgelegt haben. Die verfassungskonforme Auslegung des § 3 Abs. 1 Nr.1 SGB IV gebietet daher bei im Inland lebenden Grenzgängern im Rahmen des § 26 Abs.2 a SGB III die Einbeziehungen von im Beschäftigungsstaat zurückgelegten Vorversicherungszeiten zur Anspruchserfüllung.

Im Ergebnis war die Klägerin durch die anwartschaftsbegründende Kindererziehung innerhalb der zweijährigen Rahmenfrist sowie der erneuten Beschäftigung bei der Firma K. insgesamt mehr als 12 Monate versicherungspflichtig, so dass die Anwartschaftszeit für einen Anspruch auf Alg erfüllt ist.

Da die übrigen Alg-Bewilligungsvoraussetzungen bei der Klägerin vorliegen und der Bewilligungsbescheid vom 18.11.2010 rechtmäßig ist, ist der angefochtene Rücknahmebescheid der Beklagten rechtswidrig und daher aufzuheben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Die Berufung wird zugelassen, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (§ 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
Rechtskraft
Aus
Saved