L 1 U 2703/10

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 20 U 664/08
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 1 U 2703/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 30. April 2010 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Im Streit steht ein Anspruch auf Verletztenrente wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 18. April 2006.

Die 1965 geborene Klägerin hat sich am 18. April 2006 bei der Arbeit an einer Stanzmaschine die Endglieder der Finger D III und D IV rechts teilamputiert (Unfallanzeige des Arbeitgebers vom 21. April 2006; Durchgangsarztbericht Prof. Dr. S., Chirurgische Universitätsklinik F.). Sie befand sich bis 21. April 2006 in stationärer Behandlung. Der intra- und postoperative Verlauf gestaltete sich komplikationslos. Im Bericht der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychosomatik der Universitätsklinik F. vom 11. Juli 2006 wurde mitgeteilt, dass sich die Klägerin am 21. Juni und 5. Juli 2006 dort vorgestellt habe, und als Diagnosen eine subklinische posttraumatische Belastungsstörung, Arbeitsunfall am 18. April 2006 mit Fingerkuppenamputation rechts II - IV sowie vorbestehende depressive Anpassungsstörung im Sinne einer pathologischen Trauerreaktion mitgeteilt. Die Fortführung der bereits vor dem Unfall begonnenen Psychotherapie werde empfohlen. Am 27. Oktober 2006 wurde der an D IV wachsende Restnagel operativ komplikationslos entfernt.

Die Beklagte nahm daraufhin Ermittlungen auf. Der behandelnde Facharzt für Plastische und Ästhetische Chirurgie Dr. Sch. berichtete unter dem 9. Oktober 2006, dass sich bei der klinischen Untersuchung reizlose, schlecht weichteilgepolsterte Fingerstümpfe D III und IV feststellen ließen. Der Zeigefinger sei nicht verletzt. Funktionell seien Fingerstreckung und Faustschluss komplett möglich. Die Fingerkuppen würden als extrem berührungsempfindlich beschrieben. Aus rein handchirurgischer Sicht sei die Klägerin ab dem 9. Oktober 2006 arbeitsfähig, die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) schätze er auf 5 v.H. Über das Ausmaß der psychischen Beeinträchtigung könne er keine Aussage machen.

Am 15. März 2007 beantragte die Klägerin telefonisch die Gewährung einer Verletztenrente.

Mit Bescheid vom 4. April 2007 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Als Folgen des Arbeitsunfalls wurden anerkannt an der rechten Hand geringe Missempfindungen im Bereich der Fingerkuppen des Mittel- und Ringfingers nach operativ versorgter Amputationsverletzung der Endglieder des Mittel- und Ringfingers. Keine Folge des Versicherungsfalls sei die vorbestehende depressive Anpassungsstörung.

Dagegen erhob die Klägerin Widerspruch und brachte zur Begründung vor, sie könne nicht mehr in ihrem erlernten Beruf als Speditionskauffrau bzw. im Verwaltungsbereich tätig sein. Wegen der fehlenden Feinmotorik könnten auch Tätigkeiten im Produktionsbereich nicht mehr ausgeübt werden. Außerdem würden in der therapeutischen Behandlung derzeit nur die Folgen des Unfalls verarbeitet, nicht der zuvor Gegenstand der Behandlung gewesene Tod ihrer Großmutter, zu der ein enges mütterliches Verhältnis bestanden habe.

Der um beratungsärztliche Stellungnahme gebetene PD Dr. R., Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, führte in seiner Stellungnahme vom 24. Juli 2007 aus, es sei bereits zweifelhaft, ob die Voraussetzungen für die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung überhaupt vorliegen würden. Denkbar sei eine leichte Anpassungsstörung, die sich entwickelt habe. Diese mindere jedoch nicht die Erwerbsfähigkeit.

Mit Widerspruchsbescheid vom 29. Januar 2008 wies der Widerspruchsausschuss der Beklagten den Widerspruch zurück.

Dagegen hat die Klägerin am 12. Februar 2008 Klage zum Sozialgericht Freiburg (SG) erhoben. Zur Begründung führt sie aus, dass sie unter psychischen Folgen des Unfalls leide. Sie leide unter dem Gefühl einer Verstümmelung. Das SG hat den behandelnden Facharzt für Psychiatrische Medizin Dr. H. schriftlich als sachverständigen Zeugen gehört. In seiner Stellungnahme vom 24. Juli 2008 hat er u.a. ausgeführt, als Diagnosen habe er eine exzessive Trauerreaktion auf dem Boden einer ängstlich-depressiven Anpassungsstörung wegen vorbestehender Langzeitarbeitslosigkeit nach dem Tod der Großmutter im Mai 2005 und eine ausgeprägte posttraumatische Belastungsstörung nach Arbeitsunfall gestellt. Letztere sei ausschließlich Folge des Unfalls. Eine MdE könne er nicht einschätzen, dies könne erst nach Abschluss der Psychotherapie erfolgen.

Im Auftrag des SG hat daraufhin der Arzt für Neurologie und Psychiatrie Prof. Dr. Dr. W. sein Gutachten vom 14. April 2009 erstellt. Dieser hat als Gesundheitsstörungen beschrieben eine Gefühlsminderung und Missempfindungen an den Stümpfen von Mittel- und Ringfinger rechts nach traumatischer Endgliedamputation, exzessive Trauerreaktion im Sinne einer Anpassungsstörung nach dem Tod der Großmutter im Mai 2005 - inzwischen weitgehend zurückgebildet, eine posttraumatische Belastungsstörung nach Arbeitsunfall am 18. April 2006 - im Verlauf großteils abgeklungen sowie Anpassungsstörung mit depressiven Zügen an die körperlichen Unfallfolgen mit Verstümmelung der rechten Hand. Der Arbeitsunfall sei mit überwiegender Wahrscheinlichkeit die alleinige Ursache für die posttraumatische Belastungsstörung. Die im Verlauf sich entwickelnde Anpassungsstörung an die körperlichen Unfallfolgen sei ebenfalls darauf zurückzuführen. Dies könne vor dem Hintergrund der Bedeutung der rechten Hand für eine Rechtshänderin, das Empfinden eines besonderen Anspruchs an die körperliche Ästhetik in der Frauenrolle erklärt werden sowie dadurch, dass von dem evidenten Fehlen der Fingerglieder ein ständiger Reiz als Chronifizierungsfaktor ausgehe. Gravierende psychische Vorerkrankungen lägen bei der Klägerin nicht vor. Es bestehe aufgrund der Unfallfolgen noch immer eine medizinische Behandlungsbedürftigkeit in Gestalt einer Psychotherapie zur Traumabewältigung und zur Bewältigung der noch bestehenden Funktionsbehinderungen (Vermeidungsverhalten, sozialer Rückzug, Umgang mit der entstellend erlebten Verletzung). Die durch die Unfallfolgen auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet eingetretene MdE werde ab Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit (Ende November 2006) auf 20 v.H. bis zum Ablauf des ersten Jahres nach dem Unfall (April 2007), dann aufgrund der Anpassungsstörung auf 10 v.H. geschätzt.

Mit Gerichtsbescheid vom 30. April 2010 hat das SG den Bescheid vom 4. April 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29. Januar 2008 aufgehoben, die Beklagte verurteilt, der Klägerin eine Verletztenrente nach einer MdE um 20 v.H. bis 18. April 2007 zu gewähren und die Klage im Übrigen abgewiesen. Zur Begründung hat sich das SG auf das Gutachten von Prof. Dr. Dr. W. gestützt. Dieser habe für das Gericht schlüssig dargelegt, dass das Unfallgeschehen eine akute posttraumatische Belastungsstörung ausgelöst habe, wofür die von der Klägerin, auch gegenüber der psychotraumatologischen Ambulanz geschilderten Eingangskriterien sprechen würden. Dabei habe es sich nicht um eine Folge der vorbestehenden depressiven Anpassungsstörung gehandelt. Diese posttraumatische Symptomatik sei seit März 2006 rückläufig. Es habe sich jedoch eine Anpassungsstörung an den unfallbedingten körperlichen Defekt gebildet. Es sei insbesondere die besondere Bedeutung der rechten Hand für eine Rechtshänderin und das Empfinden eines besonderen Anspruchs an die körperliche Ästhetik in der Frauenrolle zu berücksichtigen neben dem ständigen Reiz, der durch das evidente Fehlen der Fingerkuppen als Chronifizierungsfaktor ausgeübt werde. Ein Zusammenhang mit privaten belastenden Ereignissen habe er nachvollziehbar ausgeschlossen. Auf unfallchirurgischem Fachgebiet belaufe sich die MdE nach Aussage der mit dieser Frage befassten Ärzte jedenfalls unter 10 v.H.

Gegen den ihrer Bevollmächtigten am 5. Mai 2010 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin durch diese am 7. Juni 2010 Berufung eingelegt mit dem Ziel, Verletztenrente über den 18. April 2007 hinaus zu erhalten. Die Unfallfolgen auf psychiatrischem Fachgebiet seien erheblich.

Mit Bescheid vom 9. Juni 2010 hat die Beklagte den Bescheid vom 4. April 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29. Januar 2008 aufgehoben und der Klägerin in Ausführung des Gerichtsbescheids Rente für die Zeit vom 9. Oktober 2006 bis 18. April 2007 bewilligt. Als Unfallfolgen wurden anerkannt geringe Missempfindungen im Bereich der Fingerkuppen des Mittel- und Ringfingers an der rechten Hand nach operativ versorgter Amputationsverletzung der Endglieder des Mittel- und Ringfingers, eine vorübergehende posttraumatische Belastungsstörung und eine nachfolgende psychische Anpassungsstörung geringen Ausmaßes.

Die Klägerin beantragt, sinngemäß gefasst,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 30. April 2010 sowie den Bescheid vom 4. April 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheid vom 29. Januar 2008 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ihr über den 18. April 2007 hinaus Verletztenrente nach einer MdE um wenigstens 20 v.H. zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verweist zur Begründung auf den Inhalt der angefochtenen Entscheidungen.

Auf Antrag der Klägerin nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat unter dem 17. März 2011 der Facharzt für Chirurgie Dr. B.ein handchirurgisches Gutachten erstellt. Dieser hat als Unfallfolgen einen Zustand nach weitgehender Amputation des Endgliedes des III. und IV. Fingers rechts mit deutlichen Gefühlsstörungen im Bereich der Amputationsstellen und schlechter Weichteildeckung vor allem am III. Finger mit daraus resultierender Kraftminderung vor allem beim Grobgriff und beim Schlüsselgriff beschrieben. Die MdE werde auf 10 v.H. geschätzt.

Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Verwaltungs- und Gerichtsakten beider Instanzen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß §§ 143, 144 SGG statthafte und nach § 151 SGG auch im Übrigen zulässige Berufung, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entschieden hat (§ 124 Abs. 2 SGG), ist unbegründet. Der Klägerin steht über den 18. April 2007 hinaus keine Verletztenrente zu.

Streitgegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom 4. April 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheid vom 29. Januar 2008, nicht aber der Ausführungsbescheid vom 9. Juni 2010, da dieser den Bescheid vom 4. April 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29. Januar 2008 weder ersetzt noch ergänzt (§ 96 SGG), noch erledigt er die früheren Bescheide (§ 39 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch [SGB X], st. Rspr. vgl. bereits BSG vom 21. Februar 1959 - 11 RV 724/58 = BSGE 9, 169; vom 21. Oktober 1998 - B 6 KA 65/97 R = SozR 3-2500 § 85 Nr. 27; vom 20. Oktober 2005 - B 7a/7 AL 76/04 R = SozR 4-4300 § 193 Nr. 10; vom 11. Dezember 2007 - B 8/9b SO 20/06 R). Er trägt lediglich im Sinne einer vorläufigen Regelung dem Gerichtsbescheid vom 30. April 2010 Rechnung und würde dann hinfällig werden, wenn der Gerichtsbescheid, auf dem er beruht, aufgehoben würde.

Dies ist aber nicht der Fall, da die Beklagte keine Berufung eingelegt hat. Im Übrigen hat die Klägerin über den 18. April 2007 keinen Anspruch auf Verletztenrente.

Gemäß § 56 Abs. 1 Satz 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) haben Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche hinaus um wenigstens 20 v.H. gemindert ist, Anspruch auf eine Rente. Versicherungsfälle der gesetzlichen Unfallversicherung sind Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten (§ 7 Abs. 1 SGB VII). Arbeitsunfälle sind Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeiten (versicherte Tätigkeiten). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen (§ 8 Abs. 1 SGB VII).

Die Minderung der Erwerbsfähigkeit richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen oder geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (§ 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII), d.h. auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt (BSGE 1, 174, 178; BSG SozR 2200 § 581 Nr. 22). Als Folge eines Unfalls sind Gesundheitsstörungen nur zu berücksichtigen, wenn das Unfallereignis wie auch das Vorliegen der konkreten Beeinträchtigung bzw. Gesundheitsstörung jeweils bewiesen und die Beeinträchtigung mit Wahrscheinlichkeit auf das Unfallereignis zurückzuführen ist. Für die Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung ist ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfall einerseits (haftungsbegründende Kausalität) und zwischen der hierbei eingetretenen Schädigung und der Gesundheitsstörung andererseits (haftungsausfüllende Kausalität) erforderlich. Dabei müssen die versicherte Tätigkeit, die Schädigung und die eingetretene Gesundheitsstörung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen werden, während für den ursächlichen Zusammenhang als Voraussetzung der Entschädigungspflicht, welcher nach der auch sonst im Sozialrecht geltenden Lehre von der wesentlichen Bedingung zu bestimmen ist, grundsätzlich die hinreichende Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings die bloße Möglichkeit ausreicht (BSGE 58, 80, 82; 61, 127, 129; BSG, Urt. v. 27. Juni 2000 - B 2 U 29/99 R - m.w.N.). Hinreichende Wahrscheinlichkeit bedeutet, dass bei vernünftiger Abwägung aller Umstände den für den Zusammenhang sprechenden Umständen ein deutliches Übergewicht zukommt, so dass darauf die richterliche Überzeugung gegründet werden kann (BSGE 45, 285, 286). Kommen mehrere Ursachen in Betracht, so sind nur solche Ursachen als rechtserheblich anzusehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich beigetragen haben (vgl. BSGE 63, 277, 278). Daran fehlt es, wenn die Krankheitsanlage so leicht ansprechbar gewesen ist, dass die Auslösung akuter Erscheinungen aus ihr nicht besonderer, in ihrer Art unersetzlicher äußerer Einwirkungen bedurfte (vgl. BSGE 62, 220, 222; BSG, Urt. v. 2. Mai 2001 - B 2 U 18/00 R -, in: HVBG-Info 2001, 1713). Lässt sich ein Zusammenhang nicht wahrscheinlich machen, so geht dies nach dem im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Grundsatz der materiellen Beweislast zu Lasten des Versicherten (vgl. BSGE 6, 70, 72; BSG SozR 3-2200 § 548 Nr. 11 S. 33).

Mit den der Feststellung einer MdE um 20. v.H. bis 17. April 2007 und ab 18. April 2007 in Höhe von 10 v.H. zugrunde gelegten Unfallfolgen auf unfallchirurgischem und neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet sind diese vollständig und umfassend erfasst. Insbesondere liegen über den 17. April 2007 hinaus auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet keine Gesundheitsstörungen mehr vor, die eine rentenberechtigende MdE begründen können.

Wie bereits die die Klägerin in den Jahren 2006 und 2007 behandelnden Ärzte, insbesondere Dr. Sch. in seinem Bericht vom 9. Oktober 2006, ausgeführt haben, sind die Fingerstümpfe D III und D IV rechts reizlos, wenn auch nicht optimal weichteilgepolstert, verheilt. Dr. Sch. hat darüber hinaus keine funktionellen Einschränkungen bei Fingerstreckung und Faustschluss festgestellt, wenngleich die Fingerkuppen sehr berührungsempfindlich beschrieben worden sind. Dr. B.bestätigt in seinem Gutachten vom März 2011 im Wesentlichen diese Unfallfolgen. Nicht nachvollziehbar ist insoweit seine Aussage, wonach deshalb auch die grobe Kraft sowie der Schlüsselgriff nur eingeschränkt (möglich) sei. Möglicherweise schont die Klägerin ihre rechte Hand, jedoch ohne medizinische Notwendigkeit. Dies ergibt sich nach Auffassung des Gerichts nicht nur aus der Mitteilung des Dr. Sch., der die Klägerin zeitnah zum Unfall betreut und keine derartige Einschränkung festgestellt hat, sondern auch aus dem Umstand, dass die Klägerin nach eigenen Angaben gegenüber Dr. B.im Jahr 2007 eine berufliche Bildungsmaßnahme mit dem Ziel der Pflegehelferin absolviert hat und derzeit offenbar als Taxifahrerin in Freiburg tätig ist. Beide Tätigkeiten sind insbesondere bei einer Einschränkung der groben Kraft in der rechten (Gebrauchs)Hand nicht denkbar. Zudem hat Dr. B.die Beschwielung der Hände als seitengleich beschrieben und auch eine Muskelatrophie rechts nicht festgestellt. Nicht zuletzt hat auch Prof. Dr. Dr. W. in seinem Gutachten keine derartige Funktionsbeeinträchtigung beschrieben.

Auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet sind die noch bestehenden Unfallfolgen durch Prof. Dr. Dr. W. umfassend und zutreffend beschrieben und vom SG in seinem Gerichtsbescheid entsprechend gewürdigt worden. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird insowit auf die zutreffenden Ausführungen im angefochtenen Gerichtsbescheid verwiesen (§ 153 Abs. 2 SGG).

Diese Unfallfolgen rechtfertigen jedoch weder allein noch in ihrer Gesamtschau eine MdE um wenigstens 20 v.H.

Für die Bewertung einer unfallbedingten MdE kommt es auf die gesamten Umstände des Einzelfalles an. Die Beurteilung, in welchem Umfang die körperlichen oder geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch die Unfallfolgen beeinträchtigt sind, liegt in erster Linie auf ärztlich-wissenschaftlichem Gebiet (BSG, Urt. vom 26. Juni 1985 - 2 RU 60/84 -, in: SozR 2200 § 581 RVO Nr. 23 m.w.N.; BSG, Urt. vom 19. Dezember 2000 - B 2 U 49/99 R -, in: HVBG-Info 2001, 499). Die Sachkunde des ärztlichen Sachverständigen bezieht sich in erster Linie darauf, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch die Unfallfolgen beeinträchtigt sind. Schlüssige ärztliche Meinungsäußerungen darüber, inwieweit derartige Beeinträchtigungen sich auf die Erwerbsfähigkeit auswirken, sind zwar bedeutsame Anhaltspunkte, besitzen aber keine bindende Wirkung, auch wenn sie eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richterliche Schätzung der MdE darstellen (BSG, Beschluss vom 22. August 1989, - 2 BU 101/89 -, in: HVBG-Info 1989 S. 2268). Bei der Bewertung der MdE sind schließlich auch die in jahrzehntelanger Entwicklung von der Rechtsprechung und dem versicherungsrechtlichen oder versicherungsmedizinischen Schrifttum ausgearbeiteten Erfahrungssätze zu beachten, um eine gerechte und gleiche Bewertung der zahlreichen Parallelfälle der täglichen Praxis zu gewährleisten.

Soweit die Unfallfolgen auf unfallchirurgischem Fachgebiet betroffen sind, sind als Maßstab die in der unfallversicherungsrechtlichen Literatur (z.B. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Auflage 2010 S. 565 ff) niedergelegten Erfahrungswerte bei (Teil-)Amputationen von Fingern heranzuziehen. So wird für den Teilverlust im Endglied der Finger III und IV auf S. 566 Abb. 2.30 eine MdE um 10 v.H. vorgeschlagen. Auch wenn den tabellarischen Bewertungen die Annahme zugrunde liegt (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin aaO S. 565), dass die Amputationsstümpfe der betroffenen Finger gut einsetzbar sind, Durchblutungs- und Sensibilitätsstörungen sowie Neurome nicht vorliegen und vorhandene Gelenke der teilamputierten Finger sowie nicht betroffene Nachbarfinger frei in der Bewegung sind, rechtfertigt die bei der Klägerin bestehende Berührungsempfindlichkeit der Amputationsstümpfe keine abweichende Beurteilung, denn sie führt nicht zu einer rentenrechtlich wesentlich stärkeren Einschränkung als die Teilamputation an sich.

Die auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet bestehenden Unfallfolgen hat Prof Dr. Dr. W. zutreffend mit einer MdE um 10 v.H. ab 18. April 2007 eingeschätzt, dem sich das SG in seiner Entscheidung zu Recht angeschlossen hat. Auch insoweit verweist der Senat auf die zutreffenden Ausführungen im angefochtenen Gerichtsbescheid.

Auch wenn für die Unfallfolgen auf unfallchirurgischem und neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet jeweils eine Teil-MdE um 10 v.H. anzusetzen ist, rechtfertigt dies bei der Feststellung der Gesamt-MdE keine MdE um 20 v.H.

Die Bildung einer Gesamt-MdE, wenn der Versicherungsfall Gesundheitsstörungen an mehreren Körperteilen oder wie hier auf unterschiedlichen medizinischen Fachgebieten verursacht hat, erfolgt nicht durch eine mathematische Addition der Einzel-MdE-Werte (umfassend zur vergleichbaren Gesamt-MdE-Bildung im sozialen Entschädigungsrecht BSGE 48, 82 ff), sondern ist durch eine Gesamtwürdigung der Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit unter Berücksichtigung des Zusammenwirkens der verschiedenen Funktionsstörungen zu ermitteln (Burchardt in Brackmann, Handbuch des Unfallversicherungsrechts, § 56 Rn. 91 mit weiteren Nachweisen). Überschneiden sich die Funktionseinbußen in ihren Auswirkungen, wird die Gesamt-MdE niedriger sein als die Summe der einzelnen MdE-Grade. Überschneiden sie sich nicht oder stehen die einzelnen Gesundheitsschäden in einer Wechselwirkung, die zu einer Verstärkung der Funktionseinbußen führt, kann die Gesamt-MdE der Summe der einzelnen MdE-Grade entsprechen oder auch höher sein.

Wesentlich für die Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit der Klägerin ist die Teilamputation der Endglieder der Finger D III und D IV rechts mit einer damit verbundenen Berührungsempfindlichkeit, die ihr jedenfalls feinmotorische Tätigkeiten erschwert. Dass die Klägerin hinsichtlich des ästhetischen Empfindens unter der Teilamputation leidet und sich derzeit noch in einem Anpassungs- und Gewöhnungsprozess befindet, ist nachvollziehbar, führt jedoch zu keiner weiteren, über die unfallchirurgischen Unfallfolgen hinaus bestehenden beruflichen Einschränkung. Diese Anpassungsstörung verstärkt auch nicht die unfallchirurgisch bedingten funktionellen Beeinträchtigungen, so dass auch in einer Gesamtschau eine rentenberechtigende MdE um wenigstens 20 v.H. nicht festzustellen ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht erfüllt sind.
Rechtskraft
Aus
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