L 3 AS 1304/11

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
3
1. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 3 AS 1304/11
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Es wird festgestellt, dass der Rechtsstreit L 3 AS 1721/10 durch die Klagerücknahme vom 28. Mai 2010 erledigt ist.

Der Beklagte hat 1/5 der außergerichtlichen Kosten des Klägers beider Rechtszüge zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Rechtsstreit L 3 AS 1721/10 durch eine Klagerücknahme beendet ist.

Im Verfahren L 3 AS 1721/10 war zwischen den Beteiligten streitig, ob der Kläger in der Zeit vom 01.01. bis 30.09.2005 Anspruch auf höhere Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) hat.

Der Beklagte bewilligte dem Kläger mit Bescheid vom 20.12.2004 für die Zeit vom 01.01. bis 30.09.2005 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts i.H.v. 658,41 EUR monatlich. Er berücksichtigte hierbei den Regelleistungsbetrag von 345,- EUR, Unterkunftskosten i.H.v. 286,41 EUR sowie Heizkosten im Umfang von 36,- EUR, von denen er wiederum 9,- EUR monatlich für die Bereitung von Warmwasser in Abzug brachte. Den hiergegen mit der Begründung eingelegten Widerspruch, die Höhe der Regelleistung von 345,- EUR sei verfassungswidrig, wies der Beklagte, nachdem er mit Änderungsbescheiden vom 09.03.2005, vom 16.03.2005 und vom 25.07.2005 für Januar, Februar, April, Mai und September 2005 Leistungen i.H.v. 662,41 EUR monatlich, für März 2005 i.H.v. 796,51 EUR und für Juni, Juli und August 2005 i.H.v. 457,83 EUR monatlich bewilligt hatte, mit Widerspruchsbescheid vom 09.11.2005 zurück.

Seine hiergegen am 29.11.2005 zum Sozialgericht Ulm (SG) erhobene Klage, zu deren Begründung der Kläger wiederum die Verfassungswidrigkeit der Höhe der Regelleistung gerügt hat, hat das SG mit Urteil vom 30.10.2007 abgewiesen. Zur Begründung seiner Entscheidung hat das SG ausgeführt, die Höhe der Regelleistung begegne keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Der Kläger habe den Streitgegenstand zulässigerweise auf die Regelleistung begrenzt. Das Bundessozialgericht (BSG) habe in seiner Entscheidung vom 23.11.2006 entschieden, dass die vom Gesetzgeber gewählte Art der Bedarfsermittlung und deren Ergebnis verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden seien. Es sei zulässig, Bedarfe gruppenbezogen zu erfassen und eine Typisierung bei Masseverfahren vorzunehmen.

Gegen das am 14.11.2007 zugestellte Urteil hat der Kläger am 13.12.2007 anwaltlich vertreten Berufung eingelegt. Zu deren Begründung hat er auf die Begründung seiner Klage Bezug genommen. Ferner bringt er vor, er wende sich auch gegen den Abzug für die Warmwasserzubereitung.

Mit Bescheid vom 10.06.2008 hat der Beklagte dem klägerischen Begehren teilweise entsprochen und Leistungen für die Zeit vom 01.04. bis 31.05.2005 und für September 2005 i.H.v. 671,41 EUR monatlich sowie für die Zeit vom 01.06. bis 31.08.2005 i.H.v. 466,83 EUR monatlich bewilligt. Er hat hierbei berücksichtigt, dass die Warmwasserpauschale i.H.v. 9,- EUR monatlich nicht in Abzug zu bringen sei. Der Beklagte hat schließlich auch für die Zeit vom 01.01. - 31.03.2005 mit Bescheid vom 29.11.2010 die Kürzung um die Warmwasserpauschale zurückgenommen und weitere 27,- EUR an den Kläger ausbezahlt. Ferner hat er sich bereit erklärt, die außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Rechtszügen zu einem Fünftel dem Grunde nach zu übernehmen. Der Kläger hat das Teilanerkenntnis des Beklagten angenommen.

Mit Beschluss vom 05.08.2008 wurde das zunächst unter dem Aktenzeichen L 3 AS 5897/07 geführte Verfahren im Hinblick auf beim BSG anhängige Verfahren zum Ruhen gebracht. Nachdem das Verfahren am 14.04.2010 wieder aufgerufen und seitens des Senats auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 09.02.2010 hingewiesen worden ist, wurde die Klage mit anwaltlichem Schriftsatz vom 28.05.2010, beim erkennenden Gericht am gleich Tag eingegangen, zurückgenommen. Per E-Mail vom 30.05.2010 hat der Kläger persönlich mitgeteilt, er nehme die Klage gegen "Hartz IV" nur insofern zurück, als er sich "etwaige Schadensansprüche vorenthalte".

Nachdem der Senat dem Bevollmächtigten des Klägers mit Schreiben vom 16.03.2011 mitgeteilt hat, dass das Verfahren infolge der Klagerücknahme vom 28.05.2010 beendet sei, die chronologisch nachfolgende Erklärung des Klägers vom 30.05.2010 die Wirksamkeit der zuvor erklärten Klagerücknahme nicht beseitigen könne, hat der Kläger mit E-Mail vom 29.03.2011 mitgeteilt, dass er nichts von einer Klagerücknahme wisse. Die Entscheidung, ob eine Klage zurückgenommen werde, obliege dem Mandanten, ein Rechtsanwalt könne nicht alles machen, was ihm in den Sinn komme. Die Klagerücknahme sei durch einen Kommunikationsfehler zwischen ihm und dem Rechtsanwalt zustande gekommen. Er habe dem Anwalt und dem Senat mitgeteilt, dass die Klage nur zurückgenommen werde, wenn er Schadensersatzansprüche in einem erträglichen Rahmen geltend machen könne.

Der Kläger beantragt (zweckdienlich gefasst),

festzustellen, dass das Verfahren L 3 AS 1721/10 nicht durch eine Klagerücknahme beendet ist und das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 30. Oktober 2007 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 20. Dezember 2004 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 9. März 2005, vom 16. März 2005 und vom 25. Juli 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. November 2005 in der Fassung der Bescheide vom 10. Juni 2008 und vom 29. November 2010 zu verurteilen, ihm für die Zeit vom 1. Januar 2005 bis 30. September 2005 höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

festzustellen, dass das Verfahren L 3 AS 1721/10 durch die Klagerücknahme vom 28.05.2010 beendet ist, hilfsweise, die Berufung zurückzuweisen.

Zur Begründung seines Antrags verweist er auf sein bisheriges Vorbringen.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozessakten beider Rechtszüge sowie die bei der Beklagten für den Kläger geführte Leistungsakte, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung vom 08.06.2011 wurden sowie die Niederschrift der mündlichen Verhandlung vom 08.06.2011 verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Der Kläger wendet sich gegen die von seinem Bevollmächtigten am 28.05.2010 erklärte Klagerücknahme, weswegen das bisherige Verfahren fortzusetzen und über die Rechtswirksamkeit der Klagerücknahme zu entscheiden ist (vgl. Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9.Aufl, § 102, Rn. 12).

Gemäß § 76 Abs. 3 Satz 1 SGB II i.d.F. des mit Wirkung zum 01.01.2011 in Kraft getretenen Gesetzes zur Weiterentwicklung der Organisation der Grundsicherung für Arbeitssuchende vom 3.8.2010 (BGBl. I S.1112) tritt die gemeinsame Einrichtung (§ 44b Abs. 1 Satz 1 SGB II i.d.F. des Gesetzes zur Weiterentwicklung der Organisation der Grundsicherung für Arbeitssuchende vom 3.8.2010, BGBl I S.1112), die nach § 6d SGB II die Bezeichnung Jobcenter trägt, als Rechtsnachfolger an die Stelle der zunächst beklagten Arbeitsgemeinschaft. Dieser kraft Gesetzes eintretende Beteiligtenwechsel stellt keine unzulässige Klageänderung im Sinne des § 99 Abs. 1 SGG dar (vgl. BSG, Urteil vom 18.01.2011 - B 4 AS 90/10 R - veröffentlicht in juris). Lediglich das Passivrubrum war entsprechend von Amts wegen zu berichtigen.

Der vom Kläger geltend gemachte Anspruch auf Fortsetzung des Verfahrens L 3 AS 1721/10 ist aber nicht begründet, denn dieses Verfahren ist durch die Klagerücknahme vom 28.05.2010 wirksam beendet worden.

Gemäß § 102 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann der Kläger die Klage bis zur Rechtskraft des Urteils zurücknehmen. Eine Klagerücknahme ist hiernach auch noch im Berufungsverfahren möglich (vgl. § 153 Abs. 1 SGG; Leitherer, a.a.O. § 102, Rn. 6a). Mit der Klagerücknahme ist der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt (§ 102 Abs. 1 Satz 2 SGG).

Die Erklärung der Klagerücknahme ist eine Prozesshandlung, die nicht nur in einer mündlichen Verhandlung, sondern gemäß § 202 SGG i.V.m. § 269 Abs. 2 Satz 1 und 2 Zivilprozessordnung (ZPO) auch schriftlich gegenüber dem Gericht erklärt werden kann. Da sie zur ihrer Wirksamkeit der Einwilligung der Beklagten nicht bedarf (Leitherer, a.a.O. § 102, Rn. 6b), wird sie mit Eingang bei Gericht wirksam (vgl. Thüringer Landessozialgericht [LSG], Urteil vom 16.01.2002 - L 6 RJ 596/01 - veröffentlicht in juris). Nachdem die ausdrücklich und unzweideutig erklärte Klagerücknahme vom ehemals bevollmächtigten Rechtsanwalt per Telefax am 28.05.2010 abgegeben wurde, wurde sie an diesem Tag wirksam. Da die Erklärung auch im Rahmen der vom Kläger erteilten Vollmacht und damit prozessrechtlich wirksam abgegeben wurde, bindet sie den Kläger so, als hätte er diese Erklärung selbst abgegeben (§ 73 Abs. 6 Satz 6 SGG i.V.m. § 85 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Etwaige Weisungen im Innenverhältnis zwischen dem Kläger und seinem Rechtsanwalt, die der Kläger möglicherweise erteilt hat, sind im Außenverhältnis für die Wirksamkeit der Erklärung unerheblich (LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 19.12.2003 - L 14 RJ 155/03 - veröffentlicht in juris). Der Umstand, dass der Kläger selbst, nach Wirksamwerden der Klagerücknahme, am 30.05.2010 im Wege einer E-Mail dem Gericht mitgeteilt hat, dass er die Klage nur insofern zurücknehme, als er sich etwaige Schadenersatzansprüche vorbehalte, er mithin die Klagerücknahme unter eine Bedingung gestellt hat, vermag die Wirksamkeit der zuvor erklärten Klagerücknahme nicht nachträglich zu beseitigen, da der Kläger die Rücknahme nicht entsprechend den bürgerlich-rechtlichen Vorschriften widerrufen kann (LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, a.a.O.; vgl. auch BSG, Beschluss vom 04.11.2009 - B 14 AS 81/08 B - veröffentlicht in juris). Die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches über den Widerruf sind auf eine gestaltende Prozesshandlung wie die Klagerücknahme nicht anwendbar. Auch eine Anfechtung der Klagerücknahmeerklärung wegen eines Irrtums ist nicht möglich (BSG, Urteil vom 06.04.1960 - 11/9 RV 214/57 -; Beschluss vom 19.03.2002 - B 9 V 75/01 B - jeweils veröffentlicht in juris). Die Klagerücknahme vom 28.05.2010 bindet das Gericht und die Beteiligten, auch wenn der Rechtsstreit, aus Sicht des Klägers, materiell nicht vollständig erledigt wurde (vgl. BSG, Beschluss vom 04.11.2009 - B 14 AS 81/08 B - veröffentlicht in juris); dem Gericht ist eine materielle Prüfung des klägerischen Begehrens verwehrt. Eine Lösung von der Rücknahmeerklärung ist nur gemäß § 179 Abs. 1 SGG i.V.m. §§ 578 ff ZPO möglich (BSG, Beschluss vom 04.11.2009, a.a.O.; Leitherer, a.a.O. § 102 Rn. 7c). Gründe für eine Nichtigkeitsklage nach § 579 ZPO (schwere Verstöße gegen das Prozessrecht) oder einer Restitutionsklage nach § 580 ZPO (Entscheidung beruht auf einer unrichtigen, insbesondere einer verfälschten Grundlage z.B. auf einer Urkundenfälschung oder einer strafbaren Urteilserschleichung) liegen jedoch nicht vor und werden vom Kläger auch nicht geltend gemacht.

Mithin ist das Verfahren L 3 AS 1721/10 durch die Klagerücknahme vom 28.05.2010 beendet.

Der Senat weist ergänzend darauf hin, dass die Berufung des Klägers auch ohne die Klagerücknahme nicht zum Erfolg geführt hätte. Soweit der Kläger höhere Leistungen nach dem SGB II im Hinblick auf den Abzug der Warmwasserkosten geltend gemacht hat, ist die Berufung, nachdem der Beklagte mit Bescheiden vom 10.06.2008 und vom 29.11.2010 die zunächst einbehaltenen 9,- EUR monatlich vollumfänglich an den Kläger nachgezahlt hat und der Kläger deswegen kein Rechtsschutzbedürfnis mehr hatte, unzulässig geworden. Soweit der Kläger die Verfassungswidrigkeit des ihm gewährten Regelsatzes von 345,- EUR geltend gemacht hat, hat das Bundesverfassungsgericht zwar mit Urteil vom 09.02.2010 - 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09 - die Vorschrift über die Höhe der Regelleistung nach § 20 (und 28) SGB II einschließlich ihrer späteren Fassungen sowie Nachfolgeregelungen als mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt, es hat jedoch ferner entschieden, dass die Regelungen bis 31.12.2010 und damit auch für den streitgegenständlichen Zeitraum (01.01. - 30.09.2005) weiterhin anwendbar sind und der Regelsatz für die Vergangenheit nicht zu erhöhen ist, weswegen der dem Kläger gewährte Regelsatz von 345,- EUR nicht zu beanstanden ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt, entsprechend dem Anerkenntnis des Beklagten vom 22.07.2008, das teilweise Obsiegen des Klägers.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 Nr. 1, 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
Saved