L 2 AS 3257/10

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
2
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 13 AS 2293/08
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 2 AS 3257/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerinnen gegen das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 17. März 2010 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) noch für die Zeit vom 01.06. bis 31.10.2006 unter dem Gesichtspunkt eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs, nachdem ein Fortzahlungsantrag für diese Zeit nicht vorher gestellt war. Die am 29.11.1965 geborene Klägerin zu 1) (im Folgenden: Klägerin) und ihre am 03.04.2001 geborene Tochter, die Klägerin zu 2), bilden eine Bedarfsgemeinschaft (§ 7 Abs. 3 SGB II). Der Vater der Klägerin zu 2) lebt getrennt. Die Klägerinnen erhielten Kindergeld in Höhe von 154,00 EUR sowie ab 01.03.2006 Kindesunterhalt in Höhe von 150,00 EUR monatlich. Sie bewohnten in der Langemarckstr. in F. eine 77,04 m² Wohnung zum monatlichen Mietpreis von 643,70 EUR (Miete 485,20 EUR, Betriebskosten-Vorauszahlung 77,72 EUR, Heizkosten-Vorauszahlung 55,22 EUR, Wasser- u. Kanalgebühr-Vorauszahlung 25,56 EUR), wovon die Beklagte 639,49 EUR berücksichtigte. Am 01.10.2006 sind sie in eine preiswertere Wohnung innerhalb Freiburgs umgezogen. 1. Leistungszeitraum 11.04.2005 bis 30.06.2005 Die Klägerin beantragte nach Kündigung ihrer abhängigen Beschäftigung bei der Firma s. GmbH am 11.04.2005 Arbeitslosengeld II (Alg II) und Sozialgeld für sich und ihre Tochter. Daneben verfügte sie über Einnahmen in Höhe von 150 EUR aus einer selbständigen Tätigkeit (Verwaltungstätigkeit in der Fördergemeinschaft F. Tiergehege e.V.). Die Beklagte bewilligte diese Leistungen für die Zeit vom 11.04.2005 - wegen eines Arbeitsgerichtsrechtsstreits gegen den früheren Arbeitgeber - befristet bis 30.06.2005 (Bescheid vom 29.04.2005 bzw. Änderungsbescheid vom 19.05.2005 - Bl. 108/113 Verwaltungsakte (VA)). 2. Leistungszeitraum 01.07.2005 bis 31.10.2005 Am 14.06.2005 beantragte die Klägerin die Fortzahlung der Leistungen und legte den Bewilligungsbescheid über Arbeitslosengeld (Alg) ab 01.07.2005 in Höhe von 719,10 EUR vor (Bl. 123/125 VA). Nach einem Vergleich im Arbeitsgerichtsprozess standen ihr noch Arbeitsentgeltansprüche für die Monate April, Mai und Juni 2005 zu, die nur als Insolvenzgeld in Höhe von monatlich 1.083,34 EUR (gesamt 3.250,02 EUR - Bescheid vom 04.08.2005, Bl.152 VA) zu realisieren waren und zur Anspruchsberechtigung von Alg bis 31.12.2005 geführt hatten. Im Wege eines Erstattungsanspruchs machte die Beklagte gegenüber der Agentur für Arbeit Freiburg für die Monate April bis Juni 2005 insgesamt 2.294,43 EUR an gezahlten Leistungen geltend, die den Insolvenzgeldzahlanspruch der Klägerin entsprechend verringerten (Bescheid vom 04.08.2005). Die Beklagte gewährte den Klägerinnen SGB II-Leistungen für die Zeit vom 01.07. bis 31.10.2005 weiter, zuletzt in Höhe von 284,49 EUR monatlich ("Änderungsbescheid" vom 26.07.2005 - Bl. 163 VA). 3. Leistungszeitraum 01.11.2005 bis 30.04.2006 bzw. 31.05.2006 Am 28.09.2005 beantragte die Klägerin die Fortzahlung der Leistungen und teilte die Erhöhung ihres Einkommens aus selbständiger Tätigkeit auf 160,00 EUR ab Oktober 2005 mit. Die Beklagte bewilligte die Leistungen weiter für die Zeit vom 01.11.2005 bis 30.04.2006 sowie für den Monat Mai 2006, ab Januar 2006 - nach Auslaufen des Alg-Anspruchs nur noch unter Berücksichtigung des Einkommens aus selbständiger Tätigkeit bereinigt auf 41,85 EUR - in Höhe von insgesamt 992,64 EUR (mit zwei Bescheiden vom 25.10.2005 - Bl. 168/169 VA, Bl. 39 LSG-Akte). Nach Überprüfung gem. § 44 SGB X und Korrektur der Anrechnung der Einkünfte aus selbständiger Tätigkeit auf 16,00 EUR erhöhte sie später den Leistungsbetrag auf 1.018,49 EUR (Bescheid vom 17.03.2006 - Bl. 230 VA, Bl. 48 LSG-Akte). Zwischenzeitlich forderte die Beklagte nach Überprüfung der Berechnung der Leistungen - unter Berücksichtigung des Insolvenzgeldes, Alg und abzüglich der Erstattung durch die Insolvenzgeldstelle - von der Klägerin 752,98 EUR zurück (Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 14.11.2005, Bl. 194 VA). Dagegen legte die Klägerin Widerspruch ein und schlüsselte genau auf, was ihrer Meinung nach wie zu berücksichtigen sei (Bl. 200 VA). Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 16.03.2006 - Bl.220 VA). Klage haben die Klägerinnen nicht erhoben. Da der Vater der Klägerin Ziff. 2) in der ihn betreffenden Leistungsakte als Postadresse die Anschrift der Klägerin angegeben hatte, vermutete die Beklagte das Bestehen einer eheähnlichen Gemeinschaft und ermittelte. Die Klägerin teilte auf Nachfrage mit Schreiben vom 27.01.2006 mit, dass sie keine eheähnliche Gemeinschaft mit dem Kindsvater unterhalte und dass sie im Übrigen ab dem 09.01.2006 als Verwaltungsangestellte beim Jugendhilfswerk (JHW) unbefristet angestellt sei. Mit einem weiteren Schreiben vom 05.02.2006 (Bl. 218 VA) beschwerte sich die Klägerin über von dem Außendienst der Beklagten angestellten Ermittlungen wegen einer eheähnlichen Gemeinschaft. Sie teilte ferner mit, dass sie mit einem unbefristeten Vertrag und ansteigendem Einkommen in den Monaten Februar, März, April 2006 angestellt sei. Die Höhe benannte sie nicht. Sie gehe davon aus, dass sie ab Februar 2006 keinen Anspruch auf ergänzende Leistungen der Beklagten habe und werde deshalb für den Februar ergänzend einen Antrag auf Wohngeld stellen. Ihr fehle die Zeit, sich auf derartige Auseinandersetzungen einzulassen und sie verwende ihre Energie besser für ihre neue Arbeit. Mit einem weiteren Schreiben vom 02.03.2006 (Bl. 236 VA) teilte die Klägerin mit, dass sie im Februar das Januargehalt von 767,63 EUR netto, das Februargehalt von 1.022,53 EUR netto sowie eine Einkommensteuererstattung für 2005 in Höhe von 470,71 EUR und Fahrtkostenersatz in Höhe von 90,14 EUR erhalten habe. Wie bereits mitgeteilt, habe sie einen unbefristeten Vertrag mit einem ansteigenden Einkommen in den Monaten Februar bis April 2006. Deshalb sei sie davon ausgegangen, keinen Anspruch auf ergänzende Leistungen der Beklagten zu haben und habe für Februar einen Antrag auf Wohngeld gestellt. Die Wohngeldstelle bitte nun um Vorlage eines Bescheides bzgl. Alg II. Hinsichtlich ihres Schreibens vom 05.02.2006 bat sie um Akteneinsicht, die ihr gewährt wurde. Mit Bescheid vom 21.04.2006 (Bl. 245 VA) hob die Beklagte die Entscheidung über die Bewilligung der Leistungen ab dem 01.02.2006 ganz auf. Als Grund für die Aufhebung nannte die Beklagte die eigene Abmeldung der Klägerin. Sie wies darauf hin, dass eine erneute Zahlung der Leistung nur möglich sei, wenn diese nach Wegfall des Grundes, der zu der Aufhebung der Bewilligungsentscheidung geführt habe, erneut beantragt werde. Den Antrag solle sie stellen, wenn aus ihrer Sicht die Voraussetzungen für die Weiterzahlung der Leistungen wieder vorlägen. Mit einem weiteren Bescheid vom 21.04.2006 (Bl. 249 VA) hob die Beklagte die Entscheidung über die Bewilligung ab dem 01.02.2006 erneut ganz auf, da die Klägerin sich aus eigenem Wunsch und wegen des Bezuges von Wohngeld abgemeldet habe. Sie forderte zugleich die Erstattung für zu Unrecht in der Zeit vom 01.02. bis 30.04.2006 gezahlte SGB II-Leistungen in Höhe von insgesamt 2.217,96 EUR. Gegen beide Bescheide legte die Klägerin - zunächst - keinen Widerspruch ein. 4. Zeitraum ab 01.06.2006 Einen Fortzahlungsantrag über den Mai 2006 hinaus stellte die Klägerin - zunächst - nicht. Mit Schreiben vom 24.04.2006 teilte die Klägerin nochmals mit, dass sie in einem Arbeitsverhältnis stehe, und bat um die Erledigung ihrer früheren Schreiben. Am 27.06.2006 teilte die Klägerin in einem Telefonat der Beklagten mit, dass sie im Hinblick auf ihre Tätigkeit beim JHW um Abmeldung des BewA (Bewerbungs-Angebot) bitte. Die Beklagte stellte laut Aktenvermerk den Aufhebungsbescheid vom 21.04.2006 am 27.06.2006 erneut an die Klägerin zu (Bl. 255 VA). Mit Schreiben vom 08.08.2006 bat die Klägerin um Zusicherung für den Abschluss eines Mietvertrages in eine günstigere Wohnung. Diesen legte die Beklagte mit dem Vermerk "Ende 31.01.2006" zu den Akten. Auf einen Datenabgleich vom 30.06.2006 (Bl. 265 VA), nach dem die Klägerin seit 09.01.2006 beschäftigt sei, forderte die Beklagte am 11.10.2006 beim JHW eine Einkommensbescheinigung an. Nach dieser Bescheinigung verdiente die Klägerin im Monat September 2006 brutto 1.450,00 EUR und netto 1.017,11 EUR. Die Auszahlung erfolge zum 30. des laufenden Monats (Bl. 270 VA). Mit Schreiben vom 07.11.2006 beschwerte sich die Klägerin über die Nachfrage (Bl. 271 VA). Sie habe der Beklagten mit vier Briefen Angaben zu ihrem neuen Beschäftigungsverhältnis zukommen lassen und dann noch einmal persönlich vorgesprochen. Die Zahlungen seien ohne Benachrichtigung einfach eingestellt worden. Monate später sei eine Überweisung gekommen, zu Unrecht in der Höhe. Die Beklagte habe versäumt, ihr den Bescheid zuzustellen und ihren Anspruch mitzuteilen. Ebenfalls sei versäumt worden, ihren Anspruch auf ergänzende Leistungen in Abzug zu bringen. Da die Beklagte nun die ganze Sache wieder aufrolle, werde sie ihr sicher ihren Anspruch für die Monate Januar 2006 bis heute feststellen und ihr diesen mitteilen, damit die Sache endgültig abgewickelt werden könne. Nach einem Aktenvermerk der Beklagten vom 22.12.2006 klärte diese mit der Klägerin telefonisch, dass die Klägerin Anfang Februar nochmals anrufe. Mit Schreiben vom 04.02.2007 (Bl. 272 VA) stellte die Klägerin den Sachverhalt aus ihrer Sicht nochmals dar. Sie habe sich nicht wirklich aktiv von dem Bezug abgemeldet, sondern keine Chance zur Klärung des ganzen Sachverhalts gehabt. Immer wieder habe sie pflichtgemäß Angaben zu ihrem Beschäftigungsverhältnis gemacht ohne eine Antwort zu erhalten. Außer einem Rückforderungsbescheid ohne nachvollziehbare Berechnung habe sie nichts erhalten. Sie sei auch nicht darüber informiert worden, dass sie weiterhin Anspruch auf Hilfe gehabt habe. Sie selbst sei davon ausgegangen, dass sie zu viel verdiene, was aber so nicht gestimmt habe. Sodann bat sie darum, den Anspruch von Februar 2006 bis jetzt zu berechnen und diesen von der Rückforderung abzuziehen. Sie wolle erneut einen Antrag auf ergänzende Leistungen stellen. Die Klägerin legte mit Schreiben ihres Bevollmächtigten vom 07.03.2007 (Bl. 274 VA) nun Widerspruch gegen den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 21.04.2006 ein, soweit Einkommen den Bedarf nicht gedeckt habe, und beantragte zugleich Leistungen ab dem 01.05.2006. Sie habe aufgrund des rechtswidrigen Aufhebungs- und Erstattungsbescheides davon ausgehen müssen, dass ab dem 01.05.2006 kein Anspruch mehr bestehen würde. Der Widerspruch wurde als unzulässig wegen Verfristung verworfen (Widerspruchsbescheid vom 19.06.2007 - Bl. 282 VA). Auf einen weiteren Antrag der Klägerin vom 31.05.2007 bewilligte die Beklagte den Klägerinnen ergänzende Leistungen ab dem 31.05.2007 in Höhe von zuletzt 147,50 EUR (Bescheid vom 10.07.2007 Bl. 348 VA, Änderungsbescheid vom 24.07.2007, Bl. 355 VA). Den Antrag auf Überprüfung des Aufhebungs- und Erstattungsbescheids vom 21.04.2006 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 07.09.2007 (Bl. 361 VA) ab. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 21.04.2008 - Bl. 454 VA). Auf die Klage der Klägerinnen hin hob das Sozialgericht Freiburg (Az. zuletzt S 18 AS 2295/08) mit Urteil vom 06.11.2009 den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid mangels hinreichender Bestimmtheit auf. Mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom 29.10.2007 lehnte die Beklagte den Antrag vom 07.03.2007 auf Fortzahlung ab 01.05.2006 mangels rechtzeitiger Antragstellung ab und wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 18.04.2008 (Bl. 458 VA) zurück. Zur Begründung führte sie aus, dass Leistungen nicht für die Zeit vor Antragstellung erbracht würden. Die Klägerin habe mit Schreiben vom 05.02.2006 erklärt, dass sie nicht mehr bedürftig sei. Der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 21.04.2006 sei erst zweieinhalb Monate danach erlassen worden und habe daher nicht zu einer Fehlinformation bei dem Schreiben vom 05.02.2006 führen können. Einen Folgeantrag habe sie nicht gestellt. Die dagegen zum Sozialgericht Freiburg (SG) erhobene Klage haben die Klägerinnen damit begründet, dass ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch bestehe. Die Beklagte habe fehlerhaft nicht darauf hingewiesen, dass auch bei Einkommen aufstockende Leistungen möglich seien. Die Klägerin habe zudem aus dem Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 21.04.2006 den unzutreffenden Schluss ziehen müssen, dass ein Anspruch ab dem 01.05.2006 nicht mehr bestanden habe. Die Beklagte hat die Auffassung vertreten, dass eine Pflichtverletzung, die Grundlage eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruches sein könne, nicht vorliege. Die Klägerin zu 1) habe mit Schreiben vom 05.02.2006 ausdrücklich erklärt, aufgrund des Einkommens keinen Leistungsantrag mehr stellen zu wollen und damit aus eigener Entscheidung auf einen Neuantrag verzichtet. Sie habe bereits zuvor Leistungen ergänzend zum Erwerbseinkommen bezogen, so dass ihr bekannt gewesen sei, dass ein ergänzender Anspruch bestehen könne. Dahingehend habe keine Beratung mehr erfolgen müssen. Auf einen Hinweis des Gerichts auf einen früheren Leistungsantrag hin hat die Beklagte den Klägerinnen Leistungen bereits ab dem 06.02.2007 bis 31.03.2007 und vom 01.05. bis 30.05.2007 gewährt (Bescheid vom 18.06.2009). Die Klägerinnen haben das Teilaner¬kenntnis angenommen.

Mit Urteil vom 17.03.2010 hat das SG die Beklagte dem Grunde nach verurteilt, den Klägerinnen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II auch für die Zeit vom 01.01.2007 bis 05.02.2007 zu gewähren und im Übrigen die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass ein Leistungsantrag bereits in dem Schreiben der Klägerin vom 07.11.2006 mit der Bitte um Feststellung des Anspruchs ab Januar 2006 zu sehen sei. Einen früheren Antrag habe sie auch nach ihrer eigenen Auffassung nicht gestellt. Die Klägerin könne sich für eine frühere Antragstellung auch nicht auf einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch berufen. Eine Verletzung der Beratungspflicht der Beklagten scheide aus, weil die Klägerin auch aus dem Vorbezug gewusst habe, dass neben Einkommen ein ergänzender Anspruch auf SGB II-Leistungen bestehen könne. Auch habe sie aus dem Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 21.04.2006 keine diesbezüglichen falschen Schlüsse ziehen können, da sich nach der Begründung ein Anspruch nicht wegen Einkommens, sondern wegen der Abmeldung nicht mehr ergeben habe. Deshalb komme es auf die Rechtswidrigkeit dieses Bescheides nicht an. Die Klägerin habe sich vielmehr aus eigenen Gründen für den Verzicht auf einen weiteren Antrag auf ergänzende Leistungen entschieden. Die Motivation für den späteren Antrag am 07.11.2006 habe ersichtlich darin bestanden, der Erstattungsforderung der Beklagten entgegen zu treten. Dieser Antrag führe auf Grund der Höhe des Einkommens der Klägerin erst ab 01.01.2007 zu einem Zahlungsanspruch der Klägerinnen.

Gegen das dem Prozessbevollmächtigten der Klägerinnen gegen Empfangsbekenntnis am 18.06.2010 zugestellte Urteil hat er am 13.07.2010 schriftlich beim Landessozialgericht Berufung eingelegt und das Begehren im Wesentlichen mit der gleichen Begründung weiterverfolgt. Es sei gem. §§ 14, 15 Sozialgesetzbuch Erstes Buch - Allgemeiner Teil - (SGB I) Pflicht der Behörde Leistungsempfänger zutreffend über Ansprüche aufzuklären und nicht Aufgabe des Anspruchsberechtigten, selbst das Gesetz zu lesen, um aus eigener Kompetenz ermitteln zu können, ob Bedürftigkeit vorliege. Im Termin zur Erörterung des Sachverhalts am 14.12.2010 haben die Klägerinnen im Hinblick auf die Höhe des Einkommens Leistungen für den Monat November 2006 nicht mehr geltend gemacht (Anm.: für den Dezember 2006 waren bereits zuvor keine Leistungen geltend gemacht worden).

Die Klägerinnen beantragen,

das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 17. März 2010 sowie den Bescheid der Beklagten vom 29. Oktober 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18. April 2008 aufzuheben und den Klägerinnen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II (Alg II und Sozialgeld) auch für die Zeit vom 01. Juni bis 31. Oktober 2006 in gesetzlicher Höhe zu gewähren,

hilfsweise die Revision zuzulassen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen. Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Nach einer vom Senat noch eingeholten Auskunft der Stadt Freiburg - Amt für Liegenschaften und Wohnungswesen - vom 02.05.2011 wurde nach Vorlage des Einstellungsbescheids der Beklagten vom 21.04.2006 durch die Klägerin mit Bescheid vom 29.05.2006 in der Sache der geltend gemachte Wohngeldanspruch abgelehnt. Dieser Bescheid sei danach mit Ablauf des 05.07.2006 bestandskräftig geworden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten sowie die Prozessakten beider Rechtszüge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

I.

Die Berufung der Klägerinnen hat keinen Erfolg.

Die gem. §§ 143, 144 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte Berufung ist zulässig; sie ist unter Beachtung der maßgeblichen Form- und Fristvorschriften (§ 151 Abs. 1 SGG) eingelegt worden. Die Berufung ist jedoch unbegründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Denn die Klägerinnen haben mangels Antragstellung - auch nicht über den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch - keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts im streitigen Zeitraum.

Gem. § 76 Abs. 3 Satz 1 SGB II ist das Jobcenter als Rechtsnachfolger an die Stelle der bisherigen beklagten Arbeitsgemeinschaft getreten.

Streitgegenstand ist der Bescheid der Beklagten vom 29.10.2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18.04.2008, mit dem die Beklagte über den Antrag der Klägerinnen vom 07.03.2007 entschieden und die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II ab dem 01.05.2006 abgelehnt hat. Dagegen gehen die Klägerinnen zulässig mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage vor (§ 54 Abs. 1 und 4 SGG).

II.

Die Klägerinnen haben mit der Klage Leistungen ab 01.06.2006 begehrt. Mit dem Verzicht auf die Geltendmachung von Leistungen für die Monate November und Dezember 2006 (mangels Bedürftigkeit) und dem zusprechenden Urteil für die Zeit ab 01.01.2007, das nicht mit Rechtsmitteln angegriffen worden ist, ist der streitige Zeitraum im Berufungsverfahren damit auf die Zeit vom 01.06. bis 31.10.2006 begrenzt.

In diesem Zeitraum haben die Klägerinnen keinen Anspruch auf die nachträgliche Gewährung von Leistungen nach dem SGB II.

Zwar gehören die Klägerinnen grundsätzlich zum Kreis der Leistungsberechtigten nach § 7 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 SGB II. Die Klägerin zu 1) war mangels ausreichenden Einkommens und anzurechnenden Vermögens auch hilfebedürftig - insoweit wird auf die Probeberechnung der Beklagten für die streitige Zeit Bezug genommen -, so dass sie als erwerbsfähige Hilfebedürftige nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II anspruchsberechtigt war. Die Klägerin zu 2) gehörte als Kind der Klägerin zu 1) der Bedarfsgemeinschaft an, da sie aus ihrem Einkommen ihren Bedarf nicht decken konnte (§ 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II) und war demnach gemäß § 7 Abs. 2 Satz 1 SGB II leistungsberechtigt. Indes hat die Klägerin zu 1) den Antrag auf Gewährung von Leistungen nach dem SGB II für die Bedarfsgemeinschaft erst am 07.03.2007 bzw. am 07.11.2006 gestellt, so dass für die Zeit nach Ende des letzten Bewilligungsabschnitts am 31.05.2006 - im Hinblick auf die Erzielung ausreichenden Einkommens in den Monaten November und Dezember - bis 01.01.2007 kein Anspruch auf Leistungen besteht.

Nach § 37 Abs. 1 SGB II werden die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende auf Antrag erbracht, nach der ausdrücklichen Regelung in § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB II jedoch nicht für Zeiten vor der Antragstellung. Auch ein Fortzahlungsbegehren bedarf eines Antrags nach § 37 SGB II. Bei verspäteter Antragstellung kommt eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand i.S. des § 27 SGB X nicht in Betracht (vgl. BSG, Urteile vom 18.01.2011 - B 4 AS 99/10 R und B 4 AS 29/10 R, letzteres über juris Rn. 11). Ohne Zweifel hat die Klägerin vor dem 07.11.2006 ihr Fortzahlungsbegehren nicht zum Ausdruck gebracht, so dass es an einem Antrag fehlt.

1.) Der Antrag vom 07.11.2006 wirkt auch nicht durch die Beantragung von Wohngeld über § 28 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Sozialverwaltungsverfahren - SGB X zurück. § 28 Satz 1 SGB X bestimmt, dass ein Antrag auf eine Sozialleistung bis zu einem Jahr zurückwirkt, wenn der Leistungsberechtigte von der Stellung eines Antrags auf diese Sozialleistung deshalb abgesehen hat, weil er einen Antrag auf eine andere Sozialleistung geltend gemacht hat, die ihm versagt wurde oder die er zu erstatten hat. Dies gilt allerdings grundsätzlich nur, wenn der nachgeholte Antrag innerhalb von sechs Monaten nach Ablauf des Monats gestellt ist, in dem die Ablehnung oder Erstattung der anderen Leistung bindend geworden ist. Zu einer solchen Rückwirkung nach § 28 Satz 1 SGB X kommt es gemäß § 28 Satz 2 SGB X auch dann, wenn der rechtzeitige Antrag auf eine andere Leistung aus Unkenntnis über deren Anspruchsvoraussetzungen unterlassen wurde und die zweite Leistung gegenüber der ersten Leistung, wenn diese erbracht worden wäre, nachrangig gewesen wäre. Mit Wirkung vom 01.08.2006 ist diese Frist gem. § 40 Abs. 3 SGB II insoweit eingeschränkt worden, als nur noch der unverzüglich nach Ablauf des Monats, in dem die Entscheidung bindend geworden ist, nachgeholte Antrag ausreicht (Abs. 3 angef. durch Fortentwicklungsgesetz vom 20.07.2006, BGBl I S. 1706, 1712).

Die Vorschrift des § 28 SGB X über die Zurückwirkung eines Antrags findet zwar auch auf das Antragserfordernis nach § 37 Abs. 1 SGB II Anwendung (vgl. § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II; BSG, Urteil vom 19.10.2010 - B 14 AS 16/09 R über juris Rn. 22). Die obengenannten Voraussetzungen liegen jedoch nicht vor. Zum einen hat die Klägerin durch den Antrag auf Wohngeld für den Monat Februar zwar einen Anspruch auf eine andere Sozialleistung geltend gemacht, die auch i.S. des § 28 Satz 2 SGB X nachrangig wäre (vgl. § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Wohngeldgesetz (WoGG)). Es bestand jedoch keine zeitliche Deckungsgleichheit zum Leistungszeitraum ab 01.06.2006, für den nun Leistungen geltend gemacht werden, so dass der Antrag auf Wohngeld für Februar 2006 nicht anstelle eines Antrags auf SGB II Leistungen über den 31.05.2006 hinaus anzusehen ist. Zum anderen hat sie den Antrag am 07.11.2006 nicht innerhalb der sich dann aus § 40 Abs. 3 SGB X ergebenden Frist (unverzüglich nach Ablauf des Monats seit Bestandskraft des Wohngeldbescheids vom 29.05.2006) auf die von ihnen nunmehr beanspruchten Sozialleistungen (SGB II) nachgeholt. § 40 Abs. 3 SGB II ist auf den vorliegenden Sachverhalt anwendbar, weil es um die rechtliche Bewertung der nachgeholten Antragstellung am 07.11.2006 geht, die sich nach dem dann geltenden Recht beurteilt. Eine Übergangsvorschrift ist in § 69 SGB II für § 40 Abs. 3 SGB II nicht vorgesehen. Andere Hinweise lassen sich auch nicht der Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitssuchende (BT-Drs. 16/1410 v. 09.05.2006, S. 27) entnehmen.

2.) Den Klägerinnen steht auch kein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch zur Seite. Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch hat zur Voraussetzung (vgl. u.a. BSG Urteil vom 31.10.2007 - B 14/11b AS 63/06 R, SozR 4-1200 § 14 Nr. 10), dass der Sozialleistungsträger eine ihm aufgrund des Gesetzes oder eines Sozialrechtsverhältnisses obliegende Pflicht, insbesondere zur Beratung und Auskunft (§§ 14, 15 SGB I), verletzt hat. Ferner ist erforderlich, dass zwischen der Pflichtverletzung des Sozialleistungsträgers und dem Nachteil des Betroffenen ein ursächlicher Zusammenhang besteht. Schließlich muss der durch das pflichtwidrige Verwaltungshandeln eingetretene Nachteil durch eine zulässige Amtshandlung beseitigt werden können. Die Korrektur durch den Herstellungsanspruch darf dem jeweiligen Gesetzeszweck nicht widersprechen (vgl. BSG, B 4 AS 29/10 R, a.a.O. mit Hinweis auf: zum Lohnsteuerklassenwechsel BSG Urteil vom 1.4.2004 - B 7 AL 52/03 R, BSGE 92, 267, 279 = SozR 4-4300 § 137 Nr. 1 mit zahlreichen weiteren Nachweisen).

Es mangelt bereits an einer Pflichtverletzung der Beklagten, die für die Entscheidung der Klägerin, keinen Fortzahlungsantrag rechtzeitig zu stellen, kausal geworden sein könnte. Das SG hat zutreffend hierzu ausgeführt, dass eine Beratungspflicht nicht hinsichtlich der Möglichkeit von aufstockenden Leistungen neben Erwerbseinkommen bestand, weil der Klägerin dies aus dem Vorbezug bereits bekannt war. Weiter zutreffend ist, dass der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 21.04.2006 nicht für die Entscheidung der Klägerin kausal geworden sein kann, weil dieser keine Aussage über eine konkrete Berechnung der Hilfebedürftigkeit anhand des Einkommens getroffen hat, sondern ohne weitere Prüfung durch die Beklagte die Aussage der Klägerin im Schreiben vom 05.02.2006 als Abmeldung auf eigenen Wunsch und wegen des Bezugs von Wohngeld interpretiert hat und davon ausgehend die zu viel gezahlten Leistungen zurückgefordert hat. Eine Berechnungsgrundlage, die die Klägerin zu falschen Schlüssen hinsichtlich einer späteren Antragstellung hätte veranlassen können, findet sich darin nicht. Vielmehr ist dem Bescheid zu entnehmen, dass die Leistungseinstellung auf Motiven der Klägerin beruht. Auf die Entscheidung des SG wird daher Bezug genommen. Der Senat sieht deshalb von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab und weist die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurück (§ 153 Abs. 2 SGG). Ergänzend ist auszuführen, dass sich aus den Mitteilungen der Klägerin über ihre neue Arbeitsstelle beim JHW auch keine weitere Beratungspflicht für die Beklagte ergeben hat. Der Leistungsträger ist zwar von Amts wegen gehalten, den Bürger bei Vorliegen eines konkreten Anlasses von sich aus spontan auf klar zu Tage tretende Gestaltungsmöglichkeiten hinzuweisen, deren Wahrnehmung offensichtlich so zweckmäßig ist, dass sie eine verständige Person mutmaßlich nutzen würde (BSG v. 05.08.1999 - B 7 AL 38/98 R - SozR 3-4100 § 110 Nr. 2; BSG v. 16.12.1993 - 13 RJ 19/92 - SozR 3-1200 § 14 Nr. 12). Hierzu gab es jedoch keinen Anlass, nachdem die Klägerin wohl von einem ansteigenden Einkommen ab Februar 2006 für die Folgemonate berichtet, nicht jedoch die konkrete Höhe mitgeteilt hat. Von daher war es der Beklagten gar nicht möglich, die von der Klägerin gezogene Schlussfolgerung, wonach sie davon ausgehe, keinen Anspruch auf ergänzende Leistungen zu haben, vor der Aufhebungsentscheidung auf Plausibilität hin zu überprüfen, dies vor dem Hintergrund, dass jedenfalls auf Grund des für Februar mitgeteilten Zahlungseingangs (doppeltes Gehalt und Steuerrückzahlung etc.) Hilfebedürftigkeit nicht gegeben war.

Ihrer Verpflichtung zur Information der Klägerin auf das Erfordernis einer Antragstellung ist die Beklagte mit dem Hinweis im Aufhebungsbescheid vom 21.04.2006 nachgekommen. Im Übrigen war der Klägerin, die nach Auskunft der Prozessbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung ein betriebswirtschaftliches Studium absolviert hat, aus dem Vorbezug der Leistungen bekannt, dass ein Antrag Leistungsvoraussetzung ist.

Die Formulierungen der Klägerin im Schreiben vom 05.02.2006 im Zusammenhang mit dem Ärger über die Ermittlungen der Beklagten wegen einer eheähnlichen Gemeinschaft, die Unstimmigkeiten hinsichtlich vorheriger Leistungszeiträume und auch das spätere Verhalten der Klägerin, etwa mit der Bitte um Abmeldung aus dem BewA im Telefonat mit der Beklagten am 27.06.2006 belegen, dass die Klägerin sowohl kein Interesse mehr hatte, ihre Zeit für die Auseinandersetzung mit der Beklagten zu investieren, als auch selber irrig "berechnet" hatte, dass ein Leistungsanspruch nicht besteht. Die fehlende Antragstellung für den Folgezeitraum beruhte daher auf einem unbeachtlichen Motivirrtum der Klägerin. Dies legt auch die Formulierung im Schreiben vom 04.02.2007 nahe "Nun habe ich mich nicht wirklich aktiv von dem Bezug abgemeldet ...".

Die Berufung der Klägerinnen war daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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