L 12 AS 3490/08

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
12
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 12 AS 4245/07
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 12 AS 3490/08
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 19. Juni 2008 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Höhe der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für die Zeit vom 01. November 2007 bis zum 30. April 2008 streitig.

Die 1958 geborene, alleinstehende Klägerin bezieht seit 01. Januar 2005 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II von der Beklagten. Die Kosten für Unterkunft und Heizung werden gesondert durch den kommunalen Träger, den R.-N.-K., erbracht.

Am 26. September 2007 beantragte die erwerbsfähige Klägerin, die weder über Einkommen noch Vermögen verfügte, die Fortzahlung des Arbeitslosengeldes II (ALG II). Die Beklagte bewilligte ihr mit Bescheid vom 25. Oktober 2007 für die Zeit vom 01. November 2007 bis zum 30. April 2008 monatlich 347,- EUR und setzte davon für die Zeit vom 01. November bis 31. Dezember 2007 aufgrund der mit Bescheid vom 04. September 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12. September 2007, der Gegenstand eines gesonderten Klageverfahrens war und durch Urteil des SG Mannheim vom 28. Februar 2008 (S 12 AS 3292/07) und durch Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 03. November 2008 (L 8 AS 1583/08) bestätigt wurde, verfügten Absenkung um monatlich 30 % der Regelleistung einen monatlichen Minderungsbetrag von 104,- EUR ab. Den dagegen eingelegten Widerspruch wies die Beklagte als unbegründet zurück (Widerspruchsbescheid vom 20. November 2007). Gemäß § 20 SGB II umfasse die Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhalts insbesondere Ernährung, Kleidung, Körperpflege, Hausrat, Haushaltsenergie ohne die auf die Heizung entfallenden Anteile, Bedarf des täglichen Lebens sowie in vertretbarem Umfang auch Beziehungen zur Umwelt und eine Teilhabe am kulturellen Leben. Die monatliche Regelleistung betrage für Personen, die alleinstehend seien, ab 01. Juli 2007 monatlich 347,- EUR. In dieser Höhe sei der Klägerin die Regelleistung auch bewilligt worden.

Hiergegen hat die Klägerin am 17. Dezember 2007 Klage zum Sozialgericht Mannheim (SG) erhoben und im Wesentlichen die Verfassungswidrigkeit der Höhe der Regelleistung gerügt. Die in der Regelsatzverordnung festgesetzten Beträge seien vollkommen unzulänglich. Die in den jeweiligen Abteilungen angesetzten Geldbeträge seien keinesfalls kostendeckend. Die Regelsatzverordnung berücksichtige nicht die zum 01. Januar 2007 erfolgte Mehrwertsteuererhöhung auf 19 %. Das verfassungsrechtlich gesicherte Existenzminimum sei nicht mehr gewährleistet. Die Klägerin bezifferte den zur Deckung ihres notwendigen Bedarfs erforderlichen Betrag mit 705,52 EUR, wobei in diesem Betrag die Mehrwertsteuererhöhung und die Inflation nicht berücksichtigt sei. Ihre Aufwendungen für Strom, Telefon, Internet, Tages- und Fachzeitschriften, Kino- und Theaterbesuche, Mitgliedsbeiträge (Sportverein, Stadtbibliothek, Gewerkschaft, Mietverein), öffentliche Verkehrsmittel, Versicherungen, Gesundheitsfürsorge, Bekleidung und Schuhe, Friseur, Fußpflege, Schuhmacher, Schneider, Handwerker, die Inanspruchnahme von Beherbergungs- und Gaststättenbetrieben, Nahrungsmittel, Getränke und Tabakwaren, Möbel und Haushaltsgeräte würden nicht hinreichend durch die Regelleistung gedeckt.

Das SG hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 19. Juni 2008 abgewiesen. Die Beklagte habe die der Klägerin in der Zeit vom 01. November 2007 bis zum 30. April 2008 zustehenden Leistungen nach dem SGB II zutreffend festgesetzt. Die monatliche Regelleistung betrage gemäß § 20 Abs. 2 SGB II unter Berücksichtigung der Bekanntmachung über die Höhe der Regelleistung nach § 20 Abs. 2 Satz 1 SGB seit 01. Juli 2007 347,- EUR. Diesen Betrag habe die Beklagte im angefochtenen Bewilligungsbescheid zutreffend festgesetzt. Soweit diese für die Monate November und Dezember 2007 von dieser Regelleistung jeweils einen Minderungsbetrag aufgrund von Sanktionen in Höhe von 104,- EUR abgezogen habe, beruhe dies auf einer Sanktion gemäß § 31 Abs. 1, Absatz 4 Nr. 3 b SGB II, die Gegenstand des Rechtsstreits S 12 AS 3292/07 sei. Gegen die gesetzlichen Regelungen, die der Bemessung der Regelleistung zugrunde liegen, bestünden keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken. Daher bestehe auch keine Veranlassung für eine Vorlageentscheidung gemäß Art. 100 Grundgesetz an das Bundesverfassungsgericht.

Gegen den ihr am 23. Juni 2008 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die am 23. Juli 2008 eingelegte Berufung der Klägerin, mit der sie weiterhin die Verfassungswidrigkeit der Höhe der Regelleistung unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vortrags geltend macht. Weiterhin rügt die Klägerin u.a. die Verletzung des rechtlichen Gehörs, da das SG ihren substantiierten Vortrag, insbesondere hinsichtlich der einzelnen Abteilungen des Regelsatzes sowie ihres konkreten Bedarfes, übergangen habe. Das SG habe zu Unrecht von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen und durch Gerichtsbescheid entschieden. Auch habe das SG ihre Ausführungen übergangen, unzutreffend die Sprungrevision nicht zugelassen und den Rechtsstreit nicht dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt.

Die Klägerin beantragt,

1. den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 19. Juni 2008 aufzuheben, 2. unter Abänderung des Bescheids vom 25. Oktober 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20. November 2007 die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin für die Zeit vom 01. November 2007 bis zum 30. April 2008 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in Höhe von monatlich 705,52 EUR abzüglich bereits erbrachter Zahlungen zu gewähren, 3. die Rechtssache dem Bundesverfassungsgericht im Rahmen einer konkreten Normkontrolle nach Art. 100 GG vorzulegen, da das Gesetz, auf dem die Ausführungsverordnung (RSV) beruht, gegen geltendes Verfassungsrecht, insbesondere Art. 1 Abs. 1 und 3, Art. 20. Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 Satz 1 und Art. 80 GG verstößt.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung als unbegründet zurückzuweisen.

Die Beklagte verweist zur Begründung auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Gerichtsbescheids.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge und die Verwaltungsakten der Beklagten (Band II) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin ist zulässig, jedoch unbegründet.

1. Die form- und fristgerecht (§ 151 Abs. 1 SGG) eingelegte Berufung ist statthaft (§ 143 SGG) und zulässig, da der Wert des Beschwerdegegenstandes 750,- EUR übersteigt (§ 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG).

2. Gegenstand des Berufungsverfahrens bildet der Bescheid vom 25. Oktober 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20. November 2007, mit dem die Beklagte der Klägerin für die Zeit vom 01. November 2007 bis zum 30. April 2008 Alg II in Höhe der Regelleistung bewilligt hat. Die in Vollzug des Sanktionsbescheids vom 04. September 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12. September 2007 erfolgte Absetzung von monatlich 104,- EUR für die Zeit vom 1. November bis zum 31. Dezember 2007 ist vom Senat nicht zu überprüfen, da der Sanktionsbescheid in einem gesonderten Verfahren durch Urteil des SG Mannheim vom 28. Februar 2008 (S 12 AS 3292/07) und durch Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 03. November 2008 (L 8 AS 1583/08) rechtskräftig bestätigt wurde und damit die Beteiligten bindet (§ 141 Abs. 1 Nr. 1 SGG).

3. Der Bescheid der Beklagten vom 25. Oktober 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20. November 2007 stellt sich als rechtmäßig dar und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Der Klägerin steht gegen die Beklagte kein Anspruch auf die Gewährung höherer Leistungen für die Zeit vom 01. November 2007 bis zum 30. April 2008 zu. Zwar war die Klägerin in diesem Zeitraum Berechtigte im Sinne des § 7 Abs. 1 SGB III, weil sie das 15. Lebensjahr, nicht jedoch das 65. Lebensjahr vollendet hatte, erwerbsfähig und auch durchgehend hilfebedürftig war (§ 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II). Jedoch ist der Klägerin, wie das SG im Gerichtsbescheid vom 19. Juni 2008 zurecht festgestellt hat, ALG II in der gesetzlichen Höhe bewilligt worden. Insofern nimmt der Senat auf die Darlegungen des SG Bezug und weist die Berufung aus den Gründen des angefochtenen Gerichtsbescheids zurück (§ 153 Abs. 2 SGG).

4. Ergänzend weist der Senat im Hinblick auf das Vorbringen der Klägerin im Berufungsverfahren daraufhin, dass ein wesentlicher Verfahrensfehler, der zur Zurückweisung an das SG nach § 159 Abs. 1 SGG führen könnte, nicht vorliegt. Der geltend gemachte Verfahrensmangel, das SG habe den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 GG verletzt, ist nicht ersichtlich. Ihr Einwand, das SG habe ihren Vortrag nicht berücksichtigt, begründet keinen Verfahrensmangel. Das Gericht ist im Rahmen des rechtlichen Gehörs nicht verpflichtet, sich mit jedem Vorbringen auch in der Begründung seiner Entscheidung ausdrücklich zu befassen. Insbesondere ist es nicht verpflichtet, auf sämtliche Tatsachen und Rechtsansichten einzugehen, die im Laufe eines Verfahrens von der einen oder der anderen Seite zur Sprache gebracht worden sind (BVerfGE 96, 205; BSG, Beschluss vom 05. Oktober 2010 - B 8 SO 62/10 b -). Ein Verstoß gegen das rechtliche Gehör gem. § 62 SGG, Art. 103 Abs. 1 GG kann nicht angenommen werden, wenn das Gericht Ausführungen eines Beteiligten unerwähnt lässt, die nach seinem Rechtsstandpunkt unerheblich und offensichtlich haltlos sind (BSG, a.a.O.). Danach war das SG nicht verpflichtet, ausgehend von seinem Rechtsstandpunkt, die Höhe der Regelleistung begegne keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken, sich mit den ausführlichen Darlegungen der Klägerin zu ihrem Bedarf auseinanderzusetzen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass das Gericht den Vortrag der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und mit in seine Erwägungen einzubeziehen hat. Dieses ist grundsätzlich anzunehmen, wenn das Gericht den Vortrag entgegengenommen hat (vgl. Keller in Meyer-Ladewig, SGG, 9. Auflage 2008, § 62 Rdnr. 7). In den Entscheidungsgründen muss daher nicht zu den vorgetragenen Ausführungen Stellung genommen werden. In Einklang mit diesen Grundsätzen hat das SG in den Entscheidungsgründen die aus seiner Sicht den Gerichtsbescheid tragenden Umstände dargelegt und damit hinreichend den Vortrag der Klägerin berücksichtigt.

Das SG durfte ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, nachdem es die Beteiligten zu der beabsichtigten Verfahrensweise angehört und ihnen eine angemessene Frist zur Stellungnahme gegeben hatte. Das Einverständnis der Klägerin zu einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid ist nach der Verfahrensordnung nicht erforderlich. Selbst wenn das SG wegen einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache nicht mit Gerichtsbescheid nach § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG hätte entscheiden dürfen, wäre der Senat gem. § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG zwar befugt, nicht aber verpflichtet, die Sache an das SG zurückzuverweisen (bspw. BSG, Urteil vom 17. Juni 2008 - B 8/9 b AY 1/07 R -). Nach dieser Vorschrift steht eine Zurückweisung an das SG im Ermessen des Senats, wobei die Zurückweisung die Ausnahme sein sollte (vgl. Keller in Meyer-Ladewig, 9. Aufl. 2008, § 159 Rdnr. 5a). Unter Beachtung der Tatsache, dass die Sache entscheidungsreif ist, keine Ermittlungen mehr durchzuführen sind, das Berufungsverfahren bereits seit Juli 2008 anhängig ist und die Klägerin im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 10. Juni 2011 vor dem Senat die Gelegenheit hatte, ihren Standpunkt in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zu äußern, würde hier das Interesse an einer Entscheidung durch den Senat überwiegen und wäre von einer Zurückverweisung der Sache an das SG nach § 159 SGG abzusehen.

Auch in der Sache hat die Berufung keinen Erfolg. Die vom Bundesverfassungsgericht festgestellte verfassungswidrige Ermittlung der Regelleistung (vgl. Urteil vom 09. Februar 2010 - 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09 - ) führt nicht dazu, dass die Klägerin eine höhere Regelleistung verlangen kann. Denn das Bundesverfassungsgericht konnte gerade nicht feststellen, dass die gesetzlich festgesetzten Regelleistungsbeträge unzureichend sind. Daher sah es den Gesetzgeber nicht unmittelbar von Verfassungs wegen als verpflichtet an, für die Zeit ab Inkrafttreten des SGB II ab 01. Januar 2005 höhere Leistungen festzusetzen. Da die Vorschriften des SGB II weiterhin anwendbar sind und der Gesetzgeber nach den Ausführungen in den Urteilsgründen nicht zu einer rückwirkenden Neuregelung verpflichtet ist, steht fest, dass es bei den im streitgegenständlichen Zeitraum aufgrund von § 20 Abs. 2 Satz 1 SGB III festgesetzten Regelleistungen bleibt und die Klägerin mit ihrem Begehren auf Gewährung höherer Leistungen nicht durchdringen kann (BVerfG, Beschluss vom 24. März 2010 - 1 BvR 395/09 -). Der Gesetzgeber hat durch das Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buchs Sozialgesetzbuch vom 13. Mai 2011 (Bundesgesetzblatt I, S. 453) den Regelbedarf für alleinstehende Personen mit Wirkung zum 01. Januar 2011 auf monatlich 364,- EUR festgesetzt, jedoch keine Änderungen für die Vergangenheit vorgenommen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG) liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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