L 16 SB 50/09

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
16
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 11 SB 1366/07
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 16 SB 50/09
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 9 SB 28/11 B
Datum
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Bildung eines Gesamt GdB nach § 69 SGB IX.
I. Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozial-
gerichts München vom 8. Januar 2009 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Höhe des Grades der Behinderung (GdB) des Klägers nach dem Schwerbehindertenrecht, Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX) streitig.

Der 1947 geborene Kläger stellte erstmals am 3.1.2001 einen Antrag auf Feststellung einer Behinderung. Mit bestandskräftigem Bescheid vom 27.9.2001 stellte der Beklagte einen GdB von 40 bei folgenden Gesundheitsstörungen fest:
Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Nervenwurzelreizerscheinungen, rezidivierend vertrebagener Schwindel und Kopfschmerzen (Einzel-GdB 30), psychovegetative Störungen (Einzel-GdB 20), Schwerhörigkeit beidseits (Einzel-GdB 10) sowie Funktionsbehinderung beider Kniegelenke, Neuralgien linker medialer Fußrand nach Schnittverletzung (Einzel-GdB 10). Außerdem traf der Beklagte die Feststellung, dass mit der Gesundheitsstörung "Sehminderung" kein GdB von wenigstens 10 bedingt sei.

Ein Antrag auf Erhöhung des GdB vom 18.7.2003 wurde bestandskräftig mit Bescheid vom 14.10.2003 abgelehnt, ebenso der Antrag vom 27.11.2003, der mit Bescheid vom 15.3.2004 abgelehnt wurde.

Auf den Antrag des Klägers vom 11.12.2006 hin holte der Beklagte Befundberichte der behandelnden Ärzte des Klägers ein. Nach einer versorgungsärztlichen Stellungnahme lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 22.3.2007 die Neufeststellung der Behinderung nach § 48 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch (SGB X) i.V.m. § 69 SGB IX ab. Die Gesundheitsstörungen wurden in diesem Bescheid wie folgt bezeichnet:
1. Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, degenerative Veränderungen, Bandscheibenschäden, Nervenwurzelreizerscheinungen, rezidivierender vertebragener Schwindel, Kopfschmerzen (Einzel-GdB 30)
2. Schwerhörigkeit mit Ohrgeräuschen (Einzel-GdB 20)
3. psychovegetative Störungen (Einzel-GdB 20)
4. Mittelnervendruckschädigung beidseits (Carpaltunnel-Syndrom), rechts operiert (Einzel-GdB 10)
5. Funktionsbehinderung beider Kniegelenke, Neuralgien linker medialer Fußrand nach Schnittverletzung (Einzel-GdB 10).

Trotz der zusätzlich hinzugetretenen Gesundheitsstörungen ergebe sich keine Änderung hinsichtlich des bereits bestehenden GdB von 40. Gegen diesen Bescheid legte der Kläger Widerspruch ein und führte aus, dass seine einzelnen Gesundheitsstörungen zu gering bewertet worden seien. Der Beklagte ließ den Kläger durch die Fachärztin für Allgemeinmedizin Dr. V. begutachten. Diese stellte in ihrem Gutachten vom 5.9.2007 als weitere Gesundheitsstörung eine Parakeratose mit einem Einzel-GdB von 20 sowie ein hyperreagibles Bronchialsystem mit einem Einzel-GdB von 10 neu fest. Eine "wertige" Schwerhörigkeit bestehe laut Audiogramm nicht mehr, daher sei für das gelegentliche Auftreten des Tinnitus der Einzel-GdB von 20 großzügig festgesetzt. Insgesamt sei unverändert ein Gesamt-GdB von 40 für die Behinderungen ausreichend. Daraufhin wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 26.11.2007 den Widerspruch des Klägers zurück. Im Widerspruchsbescheid führte der Beklagte folgende Gesundheitsstörungen auf:

1. Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, degenerative Veränderungen, muskuläre Verspannungen, Bandscheibenschäden, Nervenwurzelreizerscheinungen, rezidivierender vertebragener Schwindel, Kopfschmerzen (Einzel-GdB 30)
2. Parakeratose (Einzel-GdB 20)
3. psychovegetative Störungen, Ohrgeräusche beidseits (Tinnitus), Schlafstörungen (Einzel-GdB 20)
4. hyperreagibles Bronchialsystem (Einzel-GdB 10)
5. Funktionsbehinderung beider Hüftgelenke, Funktionsbehinderung beider Kniegelenke, Neuralgien linker medialer Fußrand nach Schnittverletzung (Einzel-GdB 10)
6. Funktionsbehinderung des Schultergelenkes rechts, Mittelnervendruckschädigung links (Carpaltunnel-Syndrom), Reststörungen nach Neurolyse wegen Carpaltunnel-Syndrom rechts (Einzel-GdB 10).
Diese Gesundheitsstörungen seien mit einem Gesamt-GdB von 40 angemessen beurteilt.

Am 27.12.2007 hat der Kläger Klage beim Sozialgericht München erhoben und vorgetragen, dass die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit und verschiedene Gesundheitsstörungen nicht bzw. nicht ausreichend berücksichtigt worden seien.

Das Sozialgericht hat Befundberichte der behandelnden Ärzte des Klägers eingeholt. Anschließend wurde Dr. T. mit der Erstellung eines orthopädischen Gutachtens beauftragt. Dieser hat in seinem Gutachten vom 17.4.2008 festgestellt, dass im Vergleich zu den für den Bescheid vom 27.9.2001 maßgeblichen Verhältnissen sich keine wesentlichen Änderungen im Sinne einer Verschlimmerung ergäben. Weitere Gesundheitsstörungen auf orthopädischem Fachgebiet, die vom Kläger geltend gemacht worden und die nicht bereits in der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 25.9.2007 festgestellt worden seien, lägen nicht vor. Die Funktionsbehinderungen der Wirbelsäule seien mit einem Einzel-GdB von 30 zutreffend bewertet, wobei der Ermessensspielraum ausgeschöpft sei. Insgesamt sei der Gesamt-GdB von 40 zutreffend festgestellt worden.

Anschließend wurde der Kläger vom Neurologen und Psychiater Dr. K. auf nervenfachärztlichem Gebiet begutachtet. Im Gutachten vom 11.9.2008 hat der Gutachter ausgeführt, dass sich im Vergleich zum Bescheid vom 27.9.2001 keine wesentliche Änderung im Sinne einer Verschlimmerung ergeben habe. Bei der seelischen Störung des Klägers handle es sich weniger um eine Entwicklung im psychodynamischen Sinne, sondern mehr um eine Akzentuierung bestimmter Eigenschaften, die in der Persönlichkeitsstruktur angelegt seien. Diese seien mit einem Einzel-GdB von 20 korrekt bewertet. Eine Restsymptomatik des operierten Carpaltunnel-Syndroms liege nicht mehr vor. Insgesamt sei ein Gesamt-GdB von 40 weiterhin zutreffend.

Mit Gerichtsbescheid vom 8.1.2009 hat das Sozialgericht München die Klage abgewiesen, da gegenüber dem bestandskräftigen Bescheid von 27.9.2001 keine wesentlichen Änderungen der gesundheitlichen Verhältnisse des Klägers eingetreten seien. Auch eine weitere Gesundheitsstörung, die zu einer Feststellung eines höheren Gesamt-GdB führen könnte, läge nicht vor.

Gegen diesen Gerichtsbescheid hat der Kläger am 10.3.2009 Berufung zum Bayerischen Landessozialgericht eingelegt. Er hat vorgetragen, dass dem Gericht wesentliche Befundberichte zur Bewertung seiner Behinderungen nicht vorgelegen hätten. Außerdem sei der Gesamt-GdB ohne Berücksichtigung des Zusammenhangs der wechselseitigen Beziehungen und der negativen Einflüsse auf die Gesamt-Behinderung festgesetzt worden. Seine orthopädischen Gesundheitsstörungen seien mit einem GdB zwischen 40 und 60 festzustellen, seine Schwerhörigkeit und der Leistenbruch mit einem GdB von jeweils 20 sowie die Hüft-Gelenksarthrose mit einem GdB von 20.

Im Berufungsverfahren wurden ärztliche Unterlagen über den Gesundheitszustand des Klägers beigezogen.

Der Neurologe Dr. F. hat den Kläger am 12.8.2009 untersucht. In seinem Gutachten vom 14.8.2009 hat der Gutachter folgende Gesundheitsstörungen festgestellt:
1. leichte seelische Störung, Ohrgeräusch beidseits, Schlafstörungen (Einzel-GdB 20)
2. Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, degenerative Veränderung, muskuläre Verspannungen, Bandscheibenschäden, Nervenwurzelreizerscheinung, rezidivierender vertebragener Schwindel, Kopfschmerzen (Einzel-GdB 30)
3. hyperreagibles Bronchialsystem (Einzel-GdB 10)
4. Funktionsbehinderung beider Hüftgelenke, Funktionsbehinderungen beider Kniegelenke, Neuralgien linker medialer Fußrand nach Schnittverletzung (Einzel-GdB 10)
5. Parakeratose (Einzel-GdB 20)
6. Funktionsbehinderung des Schultergelenks rechts, Mittelhandnervensdruckschädigung links, Carpaltunnel-Syndrom, Reststörungen nach Neurolyse wegen Carpaltunnel-Syndrom rechts (Einzel-GdB 10).
Unter Einbeziehung aller Gesundheitsstörungen, auch fachfremder, sei aus neurologischer Sicht ein Gesamt-GdB von 40 angemessen.

Der Allgemeinmediziner Dr. I. hat aufgrund einer Untersuchung des Klägers am 3.8.2009 ein Gutachten vom 3.8.2009 erstattet. In seinem Gutachten hat er folgende Gesundheitsstörungen aufgeführt:
1. Gesundheitsstörungen im Bereich des Stütz- und Bewegungsapparates (aus den Akten übernommen und in einem orthopädischen Zusatzgutachten zu bewerten), Einzel-GdB von 30
2. Gesundheitsstörungen entsprechend dem neurologischen Gutachten, Einzel-GdB von 20
3. geringgradigere Minderung des Hörvermögens beidseits, Einzel-GdB von 10 ab dem 18.1.2007, ab dem Zeitpunkt der Untersuchung Einzel-GdB von 20
4. Parokeratose (Extremitäten), Einzel-GdB von 20.
Insgesamt sei für die Gesundheitsstörungen ein Gesamt-GdB von 40 ab dem 3.1.2001, sowie ab dem Zeitpunkt der Untersuchung angemessen.

Im Auftrag des Senats hat der Orthopäde Dr. P. den Kläger am 16.3.2010 untersucht und in seinem Gutachten folgende Gesundheitsstörungen aufgeführt:

1. chronisches Hals- und Lendenwirbelsäulensyndrom mittelschwerer Prägung unter Ausschluss eines sensomotorischen Defizits, Einzel-GdB von 30
2. Coxalgien links, Chondropathia patellae, Senk-Spreizfüße beiderseits mit
O-Beinfehlstellung, Einzel-GdB von 10
3. Supraspinatussehnensyndrom rechts bei leichtgradigen Funktionsdefizit, Einzel-GdB von 10,
4. unspezifische Handgelenkarthralgien rechts bei Zustand nach Spaltung des Carpaltunnels, Einzel-GdB unter 10
5. kleiner nicht operationswürdiger Nabelbruch, Einzel-GdB unter 10
6. Vena-saphena-parva-Varikosis beidseits im Entfall eines Geschwürsleidens der Haut, Einzel-GdB unter 10
Der Gesamt-Grad der Behinderung sei unverändert mit einem Gesamt-GdB von 40 zu bewerten.

Der Kläger hat zum Gutachten von Dr. P. ausgeführt, dass dieses nicht den formalen Vorgaben der Anhaltspunkte entspreche, es sei unvollständig und der Gutachter sei nicht neutral und unabhängig gewesen. Insbesondere sei die Bewertung der Gesundheitsstörungen nicht entsprechend den Anhaltspunkten vorgenommen worden. Zu diesem Vorbringen hat Dr. P. ergänzend Stellung genommen.

Auf Antrag des Klägers wurde ein weiteres orthopädisches Gutachten von Dr. B. als Arzt des Vertrauens gemäß § 109 SGG eingeholt, das dieser am 5.12.2010 erstattet hat.
Dr. B. hat im Wesentlichen die Feststellungen im Gutachten von Dr. P. bestätigt und folgende Gesundheitsstörungen, die beim Kläger seit dem 11.12.2006 auf orthopädischem Fachgebiet bestehen würden, festgestellt:
-Funktionsbeeinträchtigungen der Wirbelsäule in allen Abschnitten, Einzel-GdB von 20
-Funktionsbehinderungen der oberen Extremität, Einzel-GdB von 10
-Funktionsbeeinträchtigung der unteren Extremität, Einzel-GdB von 10
Bezüglich der weiteren Erkrankungen hat er darauf hingewiesen, dass das beschwerdeführende Problem des Klägers eine psychiatrische Erkrankung sei.
Die Parakeratose sei zum Gutachtenszeitpunkt nicht mehr feststellbar gewesen. Zusammenfassend sei die Feststellung eines objektivierbaren Grades der Behinderung im Bereich des muskuloskelletalen Systems in sämtlichen Einzelbereichen von einer massiven Aggravations- und Simulationstendenz des Klägers überlagert. Die Beschwerden seien in ihrer vorgetragenen Dauer und Intensität nicht glaubhaft. Der Gesamt-GdB betrage zu keinem Zeitpunkt mehr als 30. Der zuerkannte Gesamt-GdB von 40 sei bereits sehr großzügig.

Auf Nachfrage hat der Kläger angegeben, dass er sich derzeit nicht in psychiatrischer Behandlung befinde. Der Senat hat einen Befundbericht der Psychotherapeutin C. beigezogen, bei der der Kläger im April und Mai 2010 Vorgespräche über eine mögliche Therapie führte.

Auf die Einwendungen des Klägers gegen das Gutachten von Dr. B. hat dieser in einer Stellungnahme vom 21.2.2011 geantwortet.

Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 8.1.2009 sowie den Bescheid des Beklagten vom 22.3.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.11.2007 aufzuheben und bei ihm ab 11.12.2006 einen höheren GdB als 40 festzustellen.

Der Beklagte hat beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Der Senat hat die Akten des Beklagten und des Sozialgerichts München beigezogen. Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf den Inhalt der Berufungsakte sowie der beigezogenen Akten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist gemäß §§ 143, 151 SGG statthaft und zulässig, sie erweist sich jedoch als unbegründet.

Zutreffend hat das Sozialgericht die Klage mit Gerichtsbescheid vom 8.1.2009 abgewiesen. Der Kläger begehrt im Rahmen einer kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage die Anerkennung eines höheren GdB als 40 nach § 48 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch (SGB X).

Nach § 48 Abs. 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Der Verwaltungsakt ist mit Wirkung zum Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufzuheben, soweit die Änderung zu Gunsten des Betroffenen erfolgt (vgl. § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB X). Gegenüber dem bestandskräftigen Bescheid vom 24.9.2001 ist keine wesentliche Änderung eingetreten. Es sind keine weiteren Gesundheitsstörungen in einem Ausmaß hinzugetreten, die zu einer Feststellung eines höheren Gesamt-GdB als 40 führen würden.

Rechtsgrundlage für den Anspruch des Klägers auf Feststellung eines höheren GdB als 40 ist § 69 Abs. 1 und Abs. 3 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch in der Fassung des Gesetzes vom 23.4.2004 (BGBl I 606) sowie, für die Zeit ab 21.12.2007, in der Fassung des Gesetzes vom 13.12.2007 (BGBl I 2904). Nach § 69 Abs. 1 S. 1 SGB IX (beider Fassungen) stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden auf Antrag eines behinderten Menschen in einem besonderen Verfahren das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest. Als GdB werden dabei nach § 69 Abs. 1 S. 4 SGB IX die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft, nach Zehnergraden abgestuft, festgestellt. Nach § 69 Abs. 1 S. 5 SGB IX in der bis zum 20.12.2007 geltenden Fassung sind die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG entsprechend anzuwenden. In § 69 Abs. 1 S. 5 SGB IX (in der ab dem 21.12.2007 geltenden Fassung) wird zusätzlich auf die nach § 30 Abs. 17 BVG erlassene Rechtsverordnung Bezug genommen. Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, wird der GdB gemäß § 69 Abs. 3 S. 1 SGB IX nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt.

Der GdB ist als Ausmaß der Behinderung bis zum 31.12.2008 unter Heranziehung der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz (AHP) in der jeweils gültigen Fassung festzulegen (vgl. BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 19, Bundesverfassungsgericht SozR 3-3870 § 3 Nr. 6). Die AHP sind nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts als antizipierte Sachverständigengutachten anzusehen und wegen ihrer normähnlichen Wirkung wie untergesetzliche Normen von den Gerichten anzuwenden. Sie unterliegen nur einer eingeschränkten Kontrolle durch die Gerichte und können nicht durch Einzelgutachten hinsichtlich ihrer generellen Richtigkeit widerlegt werden. Gleiches gilt für die seit dem 1.1.2009 geltenden Versorgungsmedizinische Verordnung (VersMedV), die die AHP abgelöst hat. Aus diesem Wechsel ergeben sich keine Änderungen der Rechtslage, da der Wortlaut der maßgebenden Abschnitte der AHP sowie der Anlage zu § 2 VersMedV, die Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (Anl VersMedV) weitgehend inhaltlich identisch ist.

Zur Feststellung des GdB werden in einem ersten Schritt die einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinne von regelwidrigen (von der Norm abweichenden) Zuständen (vgl. § 2 Abs. 1 SGB IX) und die sich daraus ableitenden Teilhabebeeinträchtigungen festgestellt. In einem zweiten Schritt sind diese den in den AHP bzw. der Anl VersMedV genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. In einem dritten Schritt ist in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Beeinträchtigungen der Gesamt-GdB zu bilden. Dabei können die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen (sich decken), sich überschneiden, sich verstärken oder beziehungslos neben-einander stehen. Außerdem sind bei der Gesamtwürdigung die Auswirkungen mit den-jenigen zu vergleichen, für die in der GdB-Tabelle der AHP feste Grade angegeben sind (vgl. Nr. 19 Abs. 3 und Abs. 2 AHP/A3 Anlage 3 Anl VersMedV bzw. Art.3 Anlage 3
VersMedV), (so BSG, Urteil vom 30.09.2009, B 9 SB 4/08 R). Hierbei ist das sogenannte Finalitätsprinzip zu beachten (vgl. BSG SozR 3870 § 57 Nr. 1 Rn. 20), das sowohl im Behinderungsbegriff des § 2 Abs. 1 SGB IX als auch in den Prinzipien zur Feststellung des GdB nach § 69 Abs. 1 und Abs. 3 SGB IX festgeschrieben worden ist. Nach diesem Prinzip sind alle dauerhaften Gesundheitsstörungen unabhängig von ihrem Entstehungsgrund zu erfassen und ihre Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu berücksichtigen.

Ausgehend von diesen Grundsätzen steht nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme zur Überzeugung des Senats fest, dass dem Kläger kein höherer Gesamt-GdB als 40 zusteht.

Alle eingeholten Sachverständigengutachten haben übereinstimmend festgestellt, dass die Behinderung des Klägers mit einem Gesamt-GdB von 40 ausreichend bewertet ist. Die Orthopäden Dr. P. und Dr. B. haben im Berufungsverfahren die im Verwaltungsverfahren und auch die vom orthopädischen Sachverständigen des Sozialgerichts festgestellten Gesundheitsstörungen auf orthopädischem Fachgebiet in vollem Umfang bestätigt. Dr. P. bescheinigt dem Kläger eine Funktionseinschränkung der Wirbelsäule in zwei Wirbelsäulenabschnitten, Dr. B. in allen Abschnitten. Die AHP 26.18 sehen für Wirbelsäulenschäden mit mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in einen Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität mittleren Grades, häufig rezidivierende oder Tage andauernde Wirbelsäulensyndrome) einen Einzel GdB von 20 vor. Bei mittelgradigen bis schweren funktionellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten ist ein GdB von 30-40 nach den AHP angemessen. Lediglich bei besonders schweren Auswirkungen (zum Beispiel Versteifung großer Teile der Wirbelsäule; anhaltende Ruhigstellung durch Rumpforthese, die drei Wirbelsäulenabschnitte umfasst) ist ein GdB von 50-70 anzunehmen. Hieraus folgt, dass entsprechend der AHP 26.18 ein Einzel-GdB von 30 für die Behinderung des Klägers zutreffend ist, da die Beweglichkeit der Wirbelsäule nicht vollständig eingeschränkt ist. Es liegt eine mittelgradige Funktionseinschränkung der Wirbelsäule in mehreren Abschnitten vor, wobei es für die Bewertung nach den AHP unerheblich ist, ob diese in zwei Abschnitten oder in allen Abschnitten vorliegt. Diese ist nach den AHP mit einem Einzel-GdB von 30 angemessen beurteilt. Ein sensomotorisches Defizit liegt nicht vor. Hinsichtlich des Supraspinatussehnensyndroms rechts sowie der unspezifischen Handgelenkarthralgie rechts wird ein GdB von 20 nicht erreicht. Die Beweglichkeit des rechten Schultergelenkes ist leichtgradig eingeschränkt, die Schultereckgelenke und die Schlüsselbein- und Brustbeingelenke sind klinisch unauffällig. Dies war sowohl bei der Untersuchung von Dr. T. im sozialgerichtlichen Verfahren, als auch bei der von Dr. P. festzustellen. Das rechte Hüftgelenk ist frei beweglich. Links liegt eine leichte eingeschränkte Innendrehfähigkeit vor. Insgesamt sind die Behinderungen der unteren Extremitäten nach den AHP mit einem GdB von 10 zu bewerten.

Der Neurologe Dr. F. stellte auf seinem Fachgebiet eine leichte seelische Störung, Ohrgeräusche beiderseits sowie Schlafstörungen fest. Die seelische Störung ist als leichtere psychovegetative oder psychische Störung einzuordnen, die laut AHP 26.3 mit einem GdB zwischen 0 und 20 zu bewerten ist. Der Gutachter hat eine Einstufung im oberen Ermessensspielraum vorgenommen, da ein langjähriges Mobbing am Arbeitsplatz bestanden hat und auch deutliche psychische Reaktionen vorliegen. Diese Bewertungen des Gutachters stehen in Übereinstimmung mit den Feststellungen, die der erstinstanzliche Gutachter, der Neurologe und Psychiater Dr. K. getroffen hat. Sie wird auch durch den Befund der Psychotherapeutin Frau C. bestätigt. Der Senat sieht sich durch das Gutachten von Dr. B. nicht zu weiteren Ermittlungen von Amts wegen veranlasst, da der Kläger sich nicht in psychiatrischer Behandlung befindet.

Der Allgemeinarzt Dr. I. hat die Gesundheitsstörungen auf orthopädischem und neurologischem Fachgebiet von den Vorgutachtern übernommen und eine geringgradige Minderung des Hörvermögens erstmals ab 18.1.2007 festgestellt. Diese Feststellung beruht auf einem HNO-ärztlichen Befundbericht, in dem eine gering- bis mittelgradige hochtonbetonte Innenohrschwerhörigkeit beschrieben wird, bei Normalhörigkeit des rechten Ohrs und einer geringgradigeren Minderung des Hörvermögens des linken Ohrs ist unter Beachtung der AHP 26.5 diese Beeinträchtigung ab dem 18.1.2007 mit einem Einzel-GdB von 10 und ab dem Zeitpunkt der Begutachtung einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten. Der Tinnitus ist als psychisch belastende Störung im neurologischen Fachgutachten berücksichtigt worden. Die Hautveränderung, die der Gutachter Dr. B. nicht mehr feststellen konnte, ist in einer Analogie zur Psoriasis ab dem 19.5.2007 mit einem Einzel-GdB von 20 zutreffend bewertet (vgl. AHP 26.17).

Nach AHP 19 bzw. A 3 VersMedV ist bei der Beurteilung des Gesamt-GdB in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen der Hauptbehinderung des Klägers 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Von, hier nicht gegebenen, Ausnahmefällen abgesehen führen zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, auch nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (vgl. AHP 19 bzw. VersMedV a.a.O.). Vorliegend besteht die Hauptbeeinträchtigung des Klägers auf orthopädischem Fachgebiet. Alle Gutachter haben den Funktionsbeeinträchtigungen der Wirbelsäule einen Einzel-GdB von 30 zugeordnet. Dies entspricht auch den Angaben in den AHP. Unter Berücksichtigung dieser Hauptbeeinträchtigung und der psychischen Beeinträchtigung und der Hörminderung des Klägers wird ein Gesamt-GdB von 40 gebildet. Die übrigen leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 10 wirken sich nicht GdB erhöhend aus.

Ausgehend davon, dass die Funktionsbehinderung der Hals- und Lendenwirbelsäule als Hauptbeeinträchtigung des Klägers mit einem Einzel-GdB von 30 angemessen berücksichtigt wurde und auch unter Berücksichtigung dreier weitere Funktionsstörungen (Parakterose- die aktuell nicht mehr besteht-, seelische Störung, Schwerhörigkeit), die einen

Einzel-GdB von 20 bedingen, besteht kein Anlass den bisher bestandskräftig mit 40 festgestellten GdB auf 50 zu erhöhen.

Die Berufung des Klägers ist zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
Saved