L 28 AS 630/11 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
28
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 99 AS 3697/11 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 28 AS 630/11 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 17. März 2011 geändert. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller für den Zeitraum vom 09. Mai 2011 bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens, längstens bis zum 30. September 2011 Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitsuchende in Höhe von monatlich 628,78 EUR (364,00 EUR Regelbedarf zzgl. 264,78 EUR für die Kosten der Unterkunft und Heizung) zu gewähren. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Der Antragsgegner hat dem Antragsteller seine notwendigen außergerichtlichen Kosten für das gesamte einstweilige Rechtsschutzverfahren zu erstatten. Die Gewährung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin J K für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.

Gründe:

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 17. März 2011 ist gemäß § 172 Abs. 1 und Abs. 3 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthaft und zulässig, insbesondere schriftlich und fristgerecht eingelegt (§ 173 SGG). Auch ist sie in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.

Der Antragsgegner ist im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig zu verpflichten, dem Antragsteller für die Zeit ab Entscheidung durch den Senat bis zum rechtskräftigen Abschluss der Hauptsache, längstens bis zum 30. September 2011 Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB II) unter Ansatz des Regelbedarfs für Alleinstehende nach § 20 Abs. 2 Satz 1 SGB II i.d.F. des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24.03.2011 (BGBl. I, S. 453) in Höhe von 364,00 EUR zzgl. der geltend gemachten anteiligen Kosten für Unterkunft und Heizung in Höhe von 264,78 EUR ohne Anrechnung des Einkommens des E L zu gewähren.

Nach § 86b Abs. 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Dies setzt voraus, dass nach materiellem Recht ein Anspruch auf die begehrte Leistung besteht (Anordnungsanspruch) und die Regelungsanordnung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig ist (Anordnungsgrund). Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind jeweils glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).

Ob dem Antragsteller im Hauptsacheverfahren für die Zeit vom 09. Februar bis zum 30. September 2011, für die er vorliegend die vorläufige Bewilligung von Leistungen erstrebt, ein Anspruch auf Arbeitslosengeld II in dem genannten Umfang zugesprochen werden wird, vermag der Senat im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht abschließend zu beurteilen. Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II erhalten diejenigen Personen Leistungen nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuches, die das 15. Lebensjahr vollendet, nicht aber die Altersgrenze nach § 7a erreicht haben, erwerbsfähig und hilfebedürftig sind sowie ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben. Nach den vorliegenden Unterlagen und dem Vortrag der Beteiligten ist allein der Umfang der Hilfebedürftigkeit des Antragstellers fraglich.

Hilfebedürftig ist nach § 9 Abs. 1 SGB II, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen erhält. Gemäß § 9 Abs. 2 Satz 1 SGB II ist bei Personen, die in einer Bedarfsgemeinschaft leben, auch das Einkommen und Vermögen des Partners zu berücksichtigen. Zur Bedarfsgemeinschaft gehört nach § 7 Abs. 3 SGB II neben dem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen bzw. nunmehr Leistungsberechtigten (Nr. 1) als Partner eine Person, die mit ihm in einem gemeinsamen Haushalt so zusammenlebt, dass nach verständiger Würdigung der wechselseitige Wille anzunehmen ist, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen (Nr. 3c). Dieser Wille wird gemäß Absatz 3a Nr. 1 der Vorschrift vermutet, wenn Partner länger als ein Jahr zusammenleben. Gemessen daran hat der Senat erhebliche Zweifel, ob der 1949 geborene Antragsteller – wie der Antragsgegner und ihm folgend das Sozialgericht Berlin meinen - mit dem 1972 geborenen E L in einer Bedarfsgemeinschaft lebt. Entgegen der in den jeweiligen Begründungen der Entscheidungen anklingenden Rechtsauffassung hat vorliegend nicht der Antragsteller die sich aus der Dauer des Zusammenlebens ergebende Vermutung des Einstandswillens zu widerlegen, sondern vorrangig erst einmal der Antragsgegner den Nachweis dafür zu erbringen, dass E L überhaupt als Partner des Antragstellers mit diesem zusammenlebt.

Für das Vorliegen einer Bedarfsgemeinschaft nach § 7 Abs. 3 Nr. 3c SGB II kann auf die vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG, Urteil vom 17.11.1992 – 1 BvL 8/87 – juris, Rn. 92-96) herausgearbeiteten Kriterien für das Vorliegen einer eheähnlichen Gemeinschaft - modifiziert lediglich um die Voraussetzung, dass es sich bei der Partnerschaft nicht um eine solche aus Mann und Frau handeln muss - zurückgegriffen werden. Maßgeblich wäre mithin bezogen auf den vorliegenden Fall, dass zwischen dem Antragsteller und E L eine auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaft besteht, die daneben keine weitere Lebensgemeinschaft gleicher Art zulässt und sich durch innere Bindungen auszeichnet, die ein gegenseitiges Einstehen der Partner füreinander begründet, also über die Beziehungen in einer reinen Haushalts- und Wirtschaftsgemeinschaft hinausgeht. Beide müssten sich so sehr füreinander verantwortlich fühlen, dass sie zunächst den gemeinsamen Lebensunterhalt sicherstellen, bevor sie ihr persönliches Einkommen zur Befriedigung eigener Bedürfnisse verwenden.

Davon, dass dies der Fall ist, vermag der Senat sich auf der Grundlage der vorgelegten Akten nicht zu überzeugen. Der Antragsteller und E L haben sich – soweit ersichtlich – zu keinem Zeitpunkt als Lebenspartner bezeichnet, sondern von Anfang an darauf verwiesen, in einer Wohngemeinschaft zu leben. Anhaltspunkte, die dies widerlegen könnten, sind den Akten nicht zu entnehmen. Insbesondere reichen hierzu die vom Prüfdienst im April 2008 ermittelten Lebensverhältnisse nicht aus. Vielmehr spricht die dort geschilderte Aufteilung der beiden Zimmer – nämlich je ein mit einer Schlafcouch (und entsprechendem Bettzeug) ausgestatteter Raum für jeden Bewohner - eher gegen ein partnerschaftliches Zusammenleben. Auch kann hierauf nicht allein aus dem gemeinsamen Einkaufen, Zubereiten und Einnehmen der Mahlzeiten sowie Waschen der Wäsche geschlossen werden. Ebenso wenig liegen ausreichende Anhaltspunkte dafür vor, dass einer der Mitbewohner über das Einkommen oder Vermögen des anderen verfügen könnte. Sofern daher ein partnerschaftliches Zusammenleben nicht von vornherein verneint wird, dürfte ggf. eine Beweisaufnahme insbesondere dazu, welche Beweggründe zu dem langjährigen gemeinsamen Wohnen geführt haben und wie sich das Zusammenwohnen – abgesehen von den alltäglichen Haushaltsverrichtungen – konkret gestaltet, kaum entbehrlich sein.

Da der Senat die bisher nicht erfolgte Aufklärung der Sachlage nicht im Rahmen eines einstweiligen Rechtsschutzverfahrens nachholen kann, hat er anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. Diese muss zugunsten des Antragstellers getroffen werden. Denn Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende dienen der Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens. Diese Sicherstellung ist eine verfassungsrechtliche Pflicht des Staates, die aus dem Gebot zum Schutze der Menschenwürde in Verbindung mit dem Sozialstaatsgebot folgt (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des 1. Senats vom 12.05.2005, - 1 BvR 569/05 -, zitiert nach juris). Da der elementare Lebensbedarf eines Menschen grundsätzlich nur in dem Augenblick befriedigt werden kann, in dem er entsteht ("Gegenwärtigkeitsprinzip"), wären selbst im Falle einer nachträglichen Leistungsgewährung im Rahmen eines Hauptsacheverfahrens die Folgen der (zunächst) ungerechtfertigten Leistungsversagung ungleich schwerwiegender als die einer möglicherweise nicht gebotenen Gewährung.

Allerdings ist der Antragsgegner zur vorläufigen Leistungsbewilligung in dem genannten Umfang - der ständigen Rechtsprechung des Senats folgend - erst für die Zeit ab Entscheidung durch den Senat zu verpflichten. Denn das Vorliegen eines Anordnungsgrundes beurteilt sich nach dem Zeitpunkt, in dem das Gericht über den Eilantrag entscheidet; im Beschwerdeverfahren ist dies der Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung. Die prozessuale Funktion des einstweiligen Rechtsschutzes besteht vor dem Hintergrund des Artikels 19 Absatz 4 des Grundgesetzes (GG) darin, in dringenden Fällen effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten, in denen eine Entscheidung im – grundsätzlich vorrangigen – Verfahren der Hauptsache zu spät käme, weil ohne sie schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (Bundesverfassungsgericht, Beschlüsse vom 22.11.2002 – 1 BvR 1586/02 - NJW 2003, 1236 und vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05 - NVwZ 2005, 927). Dies bedeutet aber zugleich, dass die Annahme einer besonderen Dringlichkeit und dementsprechend die Bejahung eines Anordnungsgrundes in aller Regel ausscheidet, soweit diese Dringlichkeit lediglich vor dem Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vorgelegen hat. Insoweit ist die besondere Dringlichkeit durch den Zeitablauf überholt; das Abwarten einer Entscheidung im Verfahren der Hauptsache über den zurückliegenden Zeitraum ist dem Rechtsschutzsuchenden in aller Regel zumutbar. Dass vorliegend anderes zu gelten hätte, ist nicht vorgetragen und auch sonst nicht ersichtlich. Insbesondere liegen keinerlei Anhaltspunkte dafür vor, dass es zwischenzeitlich zu Mietaußenständen gekommen sein könnte, die den Vermieter der von dem Antragsteller mitgenutzten Wohnung auch nur berechtigen würden, eine außerordentliche Kündigung des Mietverhältnisses auszusprechen.

Schließlich ist die vorläufige Leistungsbewilligung – insoweit auch dem Antrag des Antragstellers entsprechend - auf die Zeit bis zum rechtskräftigen Abschluss der Hauptsache, längstens bis zum 30. September 2011 zu befristen, da im Höhenstreit der streitgegenständliche Zeitraum an den Bewilligungsabschnitt gekoppelt ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG analog. Auch wenn der Antragsteller mit seinem Begehren letztlich aufgrund des Zeitablaufs keinen vollen Erfolg haben kann, entspricht es billigem Ermessen, den Antragsgegner vollständig mit seinen außergerichtlichen Kosten zu belasten. Aufgrund der nicht ausreichenden Sachverhaltsaufklärung, des Anlegens eines unsauberen Prüfungsmaßstabs und der Zugrundelegung zumindest zweifelhafter Tatsachen (z.B. "gemeinsame Nutzung von Räumen" im Ablehnungsbescheid vom 03. Februar 2011) hat der Antragsgegner Anlass zu dem einstweiligen Rechtsschutzverfahren gegeben.

Mit der obigen Kostenentscheidung hat sich der Antrag des Antragstellers, ihm für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe zu gewähren, erledigt. Ihm steht hinsichtlich seiner für das Beschwerdeverfahren entstandenen Kosten ein Erstattungsanspruch gegen den Antragsgegner zu.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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