L 8 AL 5716/10

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 14 AL 4131/07
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 AL 5716/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 14. November 2007 abgeändert. Die Klage des Klägers wird in vollem Umfang abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind in beiden Instanzen nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist im Berufungsverfahren noch streitig, ob der Kläger Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung zu erstatten hat.

Der 1960 geborene verheiratete Kläger bezog von der Beklagten bis 07.09.1999 Arbeitslosengeld. Auf Anträge vom 14.06.2000 (Bl. 189), 13.08.2001, 15.08.2002 und 19.08.2003 bewilligte die Beklagte dem Kläger Arbeitslosenhilfe (Alhi) ab 08.09.1999 bis 31.12.2004 in Höhe von insgesamt 47.882,78 EUR (hierzu wird auf die Berechnung Blatt 311 der Beklagtenakte Bezug genommen). Der Kläger verneinte in seinen Anträgen jeweils, dass er und seine 1960 geborene Ehefrau mit Ausnahme eines Girokontos bzw. eines Sparbuches - wozu er Kopien vorgelegte - über sonstiges Vermögen verfügten und versicherte jeweils mit seiner Unterschrift, vom Inhalt des Merkblattes 1 für Arbeitslose Kenntnis genommen zu haben.

Mit Schreiben vom 29.03.2007 (Bl. 301ff.) übersandte das Polizeipräsidium K. der Beklagten Unterlagen aus einem Ermittlungsverfahren gegen den Kläger. Nach diesen Unterlagen habe der Kläger im Zeitraum vom 01.02.1994 bis 14.03.1996 insgesamt 198.000 DM bei der T. M. B. in A. angelegt.

Nach Anhörung des Klägers (Anhörungsschreiben vom 02.04.2007) und Äußerung des Klägers (Schreiben vom 07.05.2007) nahm die Beklagte mit Bescheid vom 11.05.2007 (Bl. 340) die Bewilligung von Alhi für die Zeit vom 08.09.1999 bis 31.12.2004 ganz zurück. Der Kläger habe am 08.09.1999 über ein zu berücksichtigendes Gesamtvermögen in Höhe von mindestens 172.000 DM verfügt, weshalb für 188 Wochen (vom 08.09.1999 bis 15.04.2003) keine Bedürftigkeit bestanden habe und für die Zeit vom 16.04.2003 bis 31.12.2004 die Vorfrist nicht erfüllt sei, so dass ein Anspruch auf Alhi nicht vorgelegen habe. Die fehlerhafte Bewilligung sei erfolgt, weil der Kläger zumindest grob fahrlässig falsche und unvollständige Angaben gemacht habe. Auch sei ihm bekannt gewesen, dass die Bewilligung fehlerhaft gewesen sei. Gleichzeitig forderte die Beklagte die in der Zeit vom 08.09.1999 bis 31.12.2004 zu Unrecht gezahlte Alhi in Höhe von 47.882,78 EUR sowie gezahlte Beiträge zur Krankenversicherung in Höhe von 10.263,58 EUR und Pflegeversicherung in Höhe von 885,64 EUR, insgesamt 59.032,00 EUR, zurück.

Gegen den Bescheid vom 11.05.2007 legte der Kläger am 11.06.2007 Widerspruch ein. Er machte geltend, er habe weder vorsätzlich noch grob fahrlässig unrichtige Angaben gemacht. Er habe auf den Bestand des Verwaltungsaktes schutzwürdig vertraut. Er habe alle Fragen, soweit es ihm aufgrund seiner dürftigen Deutschkenntnisse möglich gewesen sei, wahrheitsgemäß beantwortet. Es sei jeweils nach Vermögen in Deutschland gefragt worden. Eine ausdrückliche Frage nach im Ausland befindlichen Vermögen sei in den Anträgen nicht vorhanden gewesen. Das Erfordernis der Offenlegung von Auslandsvermögen werde auch im Merkblatt zur Arbeitslosenhilfe nicht erwähnt. Ihm sei die Rechtswidrigkeit der Bewilligungen zudem nicht bekannt oder infolge grober Fahrlässigkeit unbekannt gewesen. Auch die Voraussetzungen für die Rückforderung der gezahlten Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge seien nicht erfüllt. Mit Widerspruchsbescheid vom 12.07.2007 wurde der Widerspruch des Klägers gegen den Bescheid vom 11.05.2007 zurückgewiesen.

Hiergegen erhob der Kläger am 16.08.2007 Klage beim Sozialgericht Karlsruhe (SG). Er verwies zur Begründung auf sein bisheriges Vorbringen und führte vertiefend aus, nicht richtig sei, dass die Anträge nicht nach Vermögen im In- oder Ausland unterschieden hätten. In aktuellen Anträgen nach dem SGB II, die mit Alhi-Leistungen vergleichbar seien, werde jedoch ausdrücklich nach ausländischem Vermögen gefragt. Er habe die Fragen nicht auf "gut Glück" beantwortet. Der Widerspruchsbescheid vom 12.07.2007 sei am 16.07.2007 bei seinem Prozessbevollmächtigten eingegangen.

Die Beklagte trat der Klage entgegen.

Das SG hörte den Kläger in der öffentlichen Sitzung vom 14.11.2007 an. Hierzu wird auf die Niederschrift des SG vom 14.11.2007 Bezug genommen.

Mit Urteil vom 14.11.2007 änderte das SG den Bescheid vom 11.05.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.07.2007 dahin ab, dass der Kläger keine Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung zu erstatten hat. Im Übrigen wies es die Klage ab. Zur Begründung wurde ausgeführt, die rückwirkende Aufhebung der Bewilligung von Alhi für die Zeit vom 08.09.1999 bis 31.12.2004 wegen nicht bestehender Bedürftigkeit und die Rückforderung überzahlter Leistungen in Höhe von 59.032,00 EUR sei rechtlich nicht zu beanstanden. Die Beklagte könne ihre Entscheidung auf §§ 45, 50 SGB X stützen. Die Bewilligungen von Alhi seien wegen verwertbaren Vermögens in der Türkei von Anfang an mangels Bedürftigkeit rechtswidrig gewesen. Auf Vertrauensschutz könne sich der Kläger nicht berufen, da er bei den Antragstellungen zumindest grob fahrlässig wahrheitswidrige Angaben zum vorhandenen Vermögen gemacht habe. Die Pflicht zur Offenlegung des gesamten Vermögens sei für den Kläger ohne weiteres erkennbar gewesen. Ob der Kläger wusste oder hätte wissen müssen, dass er keinen Anspruch auf Alhi gehabt habe und die Bewilligungen daher rechtswidrig gewesen seien, könne offen bleiben. Die für die rückwirkende Aufhebung der Bewilligung von Alhi maßgeblichen Fristen seien eingehalten. Dagegen sei die Rückforderung von Beiträgen zur Kranken- und Pflegeversicherung rechtswidrig. Infolge der Streichung des Wortes "Arbeitslosenhilfe" in § 335 Abs. 1 S. 1 SGB III bestehe ab dem 01.01.2005 keine Rechtsgrundlage mehr für die Rückforderung von Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträgen bei der Rücknahme der Arbeitslosenhilfebewilligung für die Vergangenheit.

Gegen das der Beklagten am 13.12.2007 zugestellte Urteil hat sie am 20.12.2007 Berufung (L 8 AL 6068/07) eingelegt. Sie hat zur Begründung vorgetragen, entgegen der Ansicht des SG bestehe bei einer erweiterten, umfassenden Auslegung des § 335 Abs. 1 SGB III auch bei Beziehern von Alhi die Möglichkeit der Rückforderung der im Zusammenhang mit der Leistung von Alhi erfolgten Beitragszahlungen an die Kranken- und Pflegeversicherung.

Im Hinblick auf beim Bundessozialgericht anhängige Revisionsverfahren hat der Senat auf Antrag der Beteiligten mit Beschluss vom 06.03.2008 das Ruhen des Verfahrens angeordnet.

Am 14.12.2010 hat die Beklagte das ruhende Verfahren wieder angerufen, das unter dem vorliegenden Aktenzeichen weitergeführt worden ist. Die Beklagte hat sich auf zwischenzeitlich ergangenen Entscheidungen des Bundessozialgerichts vom 07.10.2009 in den Revisionsverfahren B 11 AL 31/08 und 32/08 berufen.

Die Beklagte beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 14.11.2007 abzuändern und die Klage des Klägers in vollem Umfang abzuweisen.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz sowie zwei Band Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht (§ 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) eingelegte Berufung der Beklagten, über die der Senat mit dem Einverständnis der Beteiligten gem. § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist statthaft und insgesamt zulässig. Die Berufung ist auch begründet. Der Kläger ist verpflichtet, die für ihn im streitigen Zeitraum 08.09.1999 bis 31.12.2004 von der Beklagten gezahlten Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung zu erstatten. Der streitgegenständliche Bescheid vom 11.05.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.07.2007 ist auch insoweit rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Das davon abweichende Urteil des SG war dementsprechend abzuändern.

Der Senat hat die Berufungsanträge nach dem erkennbaren Begehren der Beteiligten sachdienlich gefasst.

Der Kläger ist - auch - zur Erstattung der Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge verpflichtet. Rechtsgrundlage für die Erstattungspflicht hinsichtlich der von der Beklagten entrichteten Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung ist § 335 Absatz 1 Satz 1, Absatz 5 SGB III in der ab dem 1. Januar 2005 geltenden Fassung (n.F.). Danach hat der Bezieher von Arbeitslosengeld (Alg) oder Unterhaltsgeld (Uhg) die von der Bundesagentur für Arbeit (BA) für ihn gezahlten Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung zu ersetzen, soweit die Entscheidung über die Leistung rückwirkend aufgehoben und die Leistung zurückgefordert worden ist. Entsprechendes gilt für die Beiträge zur sozialen Pflegeversicherung (§ 335 Absatz 5 SGB III). Diese Voraussetzungen sind beim Kläger erfüllt.

Nach dem vom Kläger nicht angefochtenen - und insoweit rechtskräftigen - Urteil des SG vom 14.11.2007 hat die Beklagte die Entscheidungen über die dem Kläger im streitigen Zeitraum gewährten Leistungen (Alhi) rückwirkend zur Recht aufgehoben und zurückgefordert. Auch der Senat gelangt zum selben Ergebnis und nimmt auf die hierzu gemachten Ausführungen des SG Bezug (§ 153 Abs. 2 SGG).

Zwar sieht der Wortlaut des § 335 Absatz 1 Satz 1, Abs. 5 SGB III n.F. einen Ersatzanspruch bei rückwirkender Aufhebung der Leistungsbewilligung und Rückforderung der Leistung nur vor, wenn von der BA für einen Bezieher von Alg oder Uhg Beiträge zur gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung gezahlt wurden. Nicht mehr vom Wortlaut erfasst ist hingegen die vorliegende Fallgestaltung, dass für einen Bezieher von Alhi Beiträge zur gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung gezahlt worden sind. Da der mögliche Wortsinn die Grenze der Auslegung darstellt, ist nach der vollständigen Streichung des Begriffs der Alhi aus dem Gesetzeswortlaut keine Auslegung der Norm dahin möglich, die diese Leistungsart weiterhin - wie bisher - mit einbezieht. Das bei der Neufassung des § 335 Absatz 1 Satz 1 SGB III gestrichene Wort "Arbeitslosenhilfe" kann daher nicht in die Vorschrift "hineingelesen" werden. Wörtlich genommen sind allerdings die unrechtmäßigen Bezieher des Alg und Uhg im Vergleich zu den unrechtmäßigen Beziehern der Alhi ohne erkennbaren Grund schlechter gestellt. Denn allen Fallgestaltungen ist gleichermaßen gemeinsam, dass der Leistungsempfänger pflichtwidrig gehandelt hat. Im vorliegenden Fall ist deshalb die Übernahme ausdrücklich geregelter Rechtsfolgen auf andere nicht geregelte Fallgestaltungen, wenn nicht im Wege der Auslegung, so doch im Wege gesetzesimmanenter Rechtsfortbildung geboten. Die Gerichte sind zur Ausfüllung von Regelungslücken u.a. bei Schweigen des Gesetzes aufgrund eines Versehens oder Übersehens eines Tatbestandes berufen. Die ab dem 1. Januar 2005 geltende Fassung des § 335 Absatz 1 Satz 1 SGB III ist lückenhaft. Vor allem die Auswertung der Gesetzesmaterialien zur Entstehung des § 335 SGB III ergibt keinen Anhaltspunkt, dass eine unterschiedliche Behandlung der (unrechtmäßigen) Bezieher von Alg und Uhg einerseits und Alhi andererseits für die Zeit ab 1. Januar 2005 gewollt war. Der Kreis der Ersatzpflichtigen ist daher im Wege der gesetzesimmanenten Rechtsfortbildung auf den Kreis der unrechtmäßigen Alhi-Bezieher zu erweitern. Insbesondere ist die für Uhg-Leistungsempfänger geltende Regelung des § 335 Absatz 1 Satz 1 SGB III auf Alhi-Bezieher zu erstrecken. Dieser Lückenschließung stehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken entgegen (vgl. zum Vorstehenden BSG, Urteile vom 07.10.2009 - B 11 AL 31/08 R - und - B 11 AL 32/08 R -, veröffentlicht in juris, auf die sich die Beklagte berufen hat). Diesen Urteilen des BSG hat sich der Senat angeschlossen (vgl. Urteil vom 16.04.2010 - L 8 AL 789/09 -).

Der Kläger ist daher auch verpflichtet, gezahlte Beiträge zur Krankenversicherung in Höhe von 10.263,58 EUR und zur Pflegeversicherung in Höhe von 885,63 EUR, die die Beklagte rechnerisch zutreffend ermittelt hat, zu erstatten. Gegen die Höhe der zu erstattenden Sozialversicherungsbeiträge hat der Kläger im Übrigen keine Einwendungen erhoben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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