L 7 AS 700/10 B ER

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 29 AS 1800/10 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 7 AS 700/10 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Widerspruch und Klage gegen eine Leistungsversagung wegen fehlender Mitwirkung gem. § 66 SGB I haben aufschiebende Wirkung gem. § 86a Abs. 1 Satz 1 SGG. Um effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten, kann eine Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG ergehen, obwohl in der Hauptsache allein die isolierte Anfechtungsklage die richtige Klageart darstellt.

2. Verweigert ein SGB II-Empfänger es, sich ärztlich oder psychologisch untersuchen zu lassen, kann eine Sanktion nach § 31 Abs. 2 SGB II ergehen. Der Gesetzgeber hat in § 59 SGB II i.V.m. § 309 Abs. 1 S 1 SGB III eine spezielle Regelung getroffen, die die Anwendung des SGB I ausschließt.

2. Ist nicht geklärt, ob derjenige, der Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende begehrt, erwerbsfähig ist, hat der SGB II-Träger nach § 44a Abs. 1 SGB II bis zu einer Entscheidung der Einigungsstelle über die Erwerbsfähigkeit Leistungen zu erbringen.
I. Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 13.12.2010 abgeändert.

Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig vom 11.11.2010 bis zum 31.07.2011, längstens bis zur rechtskräftigen Entscheidung in den Hauptsachen (Az.: S 7 AS 909/10 und Antrag v. 23.12.2010), Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.

Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

II. Die Antragsgegnerin trägt 1/2 der notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin in beiden Rechtszügen. Im Übrigen sind Kosten nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Antragstellerin begehrt Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Sozialgesetzbuch, 2. Buch -SGB II- im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes.

Die 1968 geborene Antragstellerin bezog von 1988 bis Ende 2004 Leistungen nach dem BSHG. Vom 01.01.2005 bis 31.12.2008 gewährte die Antragsgegnerin ihr Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II.

Mit Bescheid vom 22.12.2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.03.2009 versagte die Antragsgegnerin eine Leistungsgewährung ab dem 01.01.2009 wegen fehlender Mitwirkung der Antragstellerin, da diese sich geweigert habe, an den Feststellungen zu ihrer gesundheitlichen Leistungsfähigkeit (Erstellung eines psychiatrischen Gutachtens) mitzuwirken. Das Verfahren ist vor dem Sozialgericht Frankfurt am Main unter dem Az.: S 7 AS 562/09 anhängig. Auf einen weiteren Antrag vom 18.03.2009 versagte die Antragsgegnerin mit gleicher Begründung mit Bescheid vom 31.03.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.07.2009 (Klage vor dem Sozialgericht Az.: S 7 AS 1411/09) Leistungen. Auch auf den Antrag vom 11.11.2009 versagte die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 12.11.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.04.2010 die Leistungen. Zur Begründung führte sie aus, wie bereits mit den vorangegangenen Bescheiden mitgeteilt, sei zur Beurteilung der Erwerbsfähigkeit der Antragstellerin eine ärztliche Untersuchung erforderlich. Nach Aktenlage ergäben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass die Antragstellerin beabsichtige, ihrer Mitwirkungspflicht nachzukommen. Aus diesem Grund verbleibe es bei der in den vorangegangenen Bescheiden ausgesprochenen Leistungsversagung auf der Grundlage der §§ 60, 62 und 66 Erstes Buch Sozialgesetzbuch -SGB I-. Die Antragstellerin erhob hiergegen Klage, die beim Sozialgericht Frankfurt am Main unter dem Az.: S 7 AS 909/10 anhängig ist.

Am 11.11.2010 hat die Antragstellerin bei dem Sozialgericht Frankfurt am Main Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gestellt. Sie trägt – wie bereits in der Vergangenheit – vor, erwerbsunfähig krank zu sein. Die Versagungsbescheide seien rechtswidrig, da sie zum Zeitpunkt des anberaumten Untersuchungstermins am 11.12.2008 arbeitsunfähig krank gewesen sei und dies durch Vorlage eines ärztlichen Attestes nachgewiesen habe.

Die Antragsgegnerin hat vorgetragen, es läge kein aktueller Leistungsantrag der Antragstellerin vor. Daraufhin hat das Sozialgericht Frankfurt am Main mit Beschluss vom 13.12.2010 den Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes abgelehnt. Die Antragstellerin habe nicht dargelegt, für welchen Zeitraum sie Leistungen begehre und die Antragsgegnerin habe unwidersprochen vorgetragen, dass kein Antrag auf SGB II-Leistungen gestellt worden sei.

Gegen den ihr am 16.12.2010 zugestellten Beschluss hat die Antragsstellerin am 22.12.2010 Beschwerde beim Hessischen Landessozialgericht eingelegt. In ihrer Antragsschrift vom 11.11.2010 habe sie klar gemacht, SGB II-Leistungen zu benötigen. Der Antrag beziehe sich eindeutig auf alle drei Ablehnungsbescheide - und Zeiträume.

Sie beantragt sinngemäß,
den Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 13.12.2010 abzuändern und die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr ab 01.01.2009 vorläufig Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II, längstens bis zur Entscheidung in der Hauptsache, zu gewähren.

Die Antragsgegnerin beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.

Sie hält den erstinstanzlichen Beschluss für zutreffend.

Die Antragsstellerin hat am 23.12.2010 einen neuen Leistungsantrag bei der Antragsgegnerin gestellt, den diese mit Bescheid vom 24.03.2011 abgelehnt hat, weil die Leistungsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 Nr. 2 SGB II i.V.m. § 8 Abs. 1 SGB II nicht erfüllt seien. Die Antragstellerin habe selbst erklärt, nicht erwerbsfähig zu sein.

Das Gericht hat einen Erörterungstermin durchgeführt, zu dem die Antragstellerin nicht erschienen ist und die Stadt Frankfurt als zuständigen Sozialhilfeträger zu dem Verfahren beigeladen.

Die Beigeladene vertritt die Auffassung, dass eine Überprüfung der Erwerbsfähigkeit der Antragstellerin durch die Antragsgegnerin zu erfolgen habe. Allein die Behauptung der Antragstellerin, nicht erwerbsfähig zu sein, reiche für die Feststellung nicht aus. Solange keine Klärung in Bezug auf die Erwerbsfähigkeit der Antragstellerin erfolgt sei, bestehe kein Anspruch auf SGB XII-Leistungen.

Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte der Antragsgegnerin und Beigeladenen sowie der vom Gericht beigezogenen Verfahren vor dem Sozialgericht Frankfurt am Main mit den Aktenzeichen: S 7 AS 1758/08, S 7 AS 1759/08, S 7 AS 562/09, S 7 AS 1411/09 und S 7 AS 909/10 verwiesen.

II.

Die gemäß §§ 172, 173 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässige Beschwerde ist teilweise begründet. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 86 Abs. 2 Satz 1 SGG hat für den Zeitraum ab Ersuchen um gerichtlichen Eilrechtsschutz am 11.11.2010 Erfolg.

Eine Regelungsanordnung im Sinne der Verpflichtung zur vorläufigen Leistung kann auch bei Ablehnung von Leistungen nach dem SGB II wegen mangelnder Mitwirkung nach § 66 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - SGB I ergehen, da bei Leistungen zum Lebensunterhalt nur so effektiver Rechtsschutz gewährt werden kann. Mit ihrer gegen den Bescheid vom 12.11.2009 und Widerspruchsbescheid vom 28.04.2010 unter dem Az.: S 7 AS 909/10 vor dem Sozialgericht Frankfurt am Main erhobenen Klage wendet die Antragstellerin sich im Wege der Anfechtungsklage gegen die Versagung der Leistungen nach den §§ 60, 66 SGB I. Mit diesem Bescheid hat die Antragsgegnerin die Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Zeit ab erneuter Antragstellung am 11. November 2009 versagt. Im anhängigen Klageverfahren S 7 AS 909/10 ist grundsätzlich allein die isolierte Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. SGG; vgl. BSG SozR 1200 § 66 Nr. 13; SozR 4-1200 § 66 Nr. 1; BSG, Urteil vom 1. Juli 2009 - B 4 AS 78/08 R) die zulässige Klageart. Diese Klage hat nach inzwischen einhelliger Auffassung nach § 86a Abs. 1 Satz 1 SGG aufschiebende Wirkung, weil keiner der Ausnahmefälle des § 86a Abs. 2 SGG gegeben ist. Nach § 39 Nr. 1 SGB II (in der ab 1. Januar 2009 geltenden Fassung des Gesetzes zur Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente vom 21. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2917)) haben Widerspruch und Anfechtungsklage lediglich gegen Verwaltungsakte, die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende aufheben, zurücknehmen, widerrufen oder herabsetzen oder Leistungen zur Eingliederung in Arbeit oder Pflichten des erwerbsfähigen Hilfebedürftigen bei der Eingliederung in Arbeit regeln, keine aufschiebende Wirkung. Die vollständige Versagung von Leistungen nach § 66 SGB I wird von den in § 39 Nr. 1 SGB II hinsichtlich einer Leistungsverweigerung abschließend aufgeführten Fallvarianten nach dem eindeutigen Wortlaut der Norm nicht erfasst (LSG Saarland, v. 02.05.2011, L 9 AS 9/11 B ER; LSG Baden-Württemberg, v. 08.04.2010, L 7 AS 304/10 ER-B; Groth in GK-SGB II, § 39 Rdnr. 25; Hengelhaupt in Hauck/Noftz, SGB II, K § 39 Rdnr. 75). Denn die Leistungsversagung nach § 66 SGB I ist gerade nicht auf die Kassation einer früheren Leistungsbewilligung oder auf eine Leistungsherabsetzung gerichtet.

Das Gebot des effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG macht es in diesem Fall erforderlich, eine einstweilige Anordnung gem. § 86b Abs. 2 S. 2 SGG zu erlassen (für Sozialhilfe: Hess. LSG v. 22.12.2008, L 7 SO 80/08 B ER; SGB II: LSG Saarland, v. 02.05.2011, L 9 AS 9/11 B ER; LSG Baden-Württemberg, v. 08.04.2010, L 7 AS 304/10 ER-B u. v. 02.07.2004, L 13 RJ 2467/04 ER-B). Denn allein mit dem Erlass einer einstweiligen Anordnung ist für die Antragstellerin die Möglichkeit eröffnet, vor einer Entscheidung in der Hauptsache über die Anfechtungsklage gegen den Versagungsbescheid auch hinsichtlich des dahinter stehenden Leistungsbegehrens selbst den einstweiligen Rechtsschutz zu erreichen.

Der neue Leistungsantrag der Antragstellerin vom 23.12.2010 kann in die Entscheidung mit einbezogen werden, obwohl durch den neuen Antrag ein neuer Leistungszeitraum entstanden ist, über den das Sozialgericht Frankfurt am Main noch nicht entschieden hat. Denn die Antragstellerin hat den neuen Antrag gerade aufgrund der Ausführungen im erstinstanzlichen Beschluss, es liege kein aktueller Leistungsantrag vor, gestellt. Der Leistungsabschnitt ab 23.12.2010 stellt sich damit als Teil des bereits anhängigen Eilverfahrens dar. Ab diesem Zeitpunkt hat die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 24.03.2011, gegen den die Antragstellerin Widerspruch eingelegt hat, Leistungen wegen mangelnder Erwerbsfähigkeit der Antragstellerin abgelehnt. Hiergegen ist die Anfechtungs- und Leistungsklage die statthafte Klageart; einstweiliger Rechtsschutz ist allein im Wege einer Regelungsanordnung zu erreichen.

Nach § 86b Abs. 2 S. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Sicherungsanordnung – vorläufige Sicherung eines bestehenden Zustandes -). Nach Satz 2 der Vorschrift sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis statthaft, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (Regelungsanordnung - vorläufige Regelung zur Nachteilsabwehr -). Bildet ein Leistungsbegehren des Antragstellers den Hintergrund für den begehrten einstweiligen Rechtsschutz, ist dieser grundsätzlich im Wege der Regelungsanordnung gemäß § 86b Abs. 2 S. 2 SGG zu gewähren. Danach muss die einstweilige Anordnung erforderlich sein, um einen wesentlichen Nachteil für den Antragsteller abzuwenden. Ein solcher Nachteil ist nur anzunehmen, wenn einerseits dem Antragsteller gegenüber der Antragsgegnerin ein materiell-rechtlicher Leistungsanspruch in der Hauptsache - möglicherweise - zusteht (Anordnungsanspruch) und es ihm andererseits nicht zuzumuten ist, die Entscheidung über den Anspruch in der Hauptsache abzuwarten (Anordnungsgrund). Das Abwarten einer Entscheidung in der Hauptsache darf nicht mit wesentlichen Nachteilen verbunden sein; d.h. es muss eine dringliche Notlage vorliegen, die eine sofortige Entscheidung erfordert (Conradis in LPK–SGB II, 2. Aufl., Anhang Verfahren Rn. 117).

Dabei stehen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund nicht isoliert nebeneinander. Vielmehr stehen beide in einer Wechselbeziehung zueinander, nach der die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils (dem Anordnungsgrund) zu verringern sind und umgekehrt. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bilden nämlich aufgrund ihres funktionalen Zusammenhangs ein bewegliches System (Senat, 29.6.2005 – L 7 AS 1/05 ER - info also 2005, 169; Keller in Meyer-Ladewig u.a., SGG, 9. Aufl., § 86b Rn. 27 und 29, 29a mwN.): Wäre eine Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist der Antrag auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Wäre eine Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so vermindern sich die Anforderungen an den Anordnungsgrund, auch wenn in diesem Fall nicht gänzlich auf einen Anordnungsgrund verzichtet werden kann. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, wenn etwa eine vollständige Aufklärung der Sach- oder Rechtslage im einstweiligen Rechtsschutz nicht möglich ist, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden, welchem Beteiligten ein Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache eher zuzumuten ist. Dabei sind grundrechtliche Belange des Antragstellers umfassend in der Abwägung zu berücksichtigen. Insbesondere bei Ansprüchen, die darauf gerichtet sind, als Ausfluss der grundrechtlich geschützten Menschenwürde das soziokulturelle Existenzminimum zu sichern (Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip) ist ein nur möglicherweise bestehender Anordnungsanspruch, vor allem wenn er eine für die soziokulturelle Teilhabe unverzichtbare Leistungshöhe erreicht und für einen nicht nur kurzfristigen Zeitraum zu gewähren ist, in der Regel vorläufig zu befriedigen, wenn sich die Sach- oder Rechtslage im Eilverfahren nicht vollständig klären lässt (BVerfG, 3. Kammer des Ersten Senats, 12.5.2005, 1 BvR 569/05 - info also 2005, 166 unter Hinweis auf BVerfGE 82, 60 (80)). Denn im Rahmen der gebotenen Folgeabwägung hat dann regelmäßig das Interesse des Leistungsträgers ungerechtfertigte Leistungen zu vermeiden gegenüber der Sicherstellung des ausschließlich gegenwärtig für den Antragsteller verwirklichbaren soziokulturellen Existenzminimums zurückzutreten (Senat, 27.7.2005, 7 AS 18/05 ER).

Dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung steht -anders als von der Antragsgegnerin und im erstinstanzlichen Beschluss dargelegt- nicht entgegen, dass die Antragstellerin keinen aktuellen Leistungsantrag für den Zeitraum ab 11.11.2010 gestellt hatte. Denn der Antragsgegner hatte den zuletzt am 12.11.2009 gestellten Antrag auf Grundsicherungsleistungen ohne zeitliche Beschränkung abgelehnt. Dadurch wirkt der Antrag bis zur gerichtlichen Entscheidung über den Antrag fort. Gegenstand des Rechtsstreits ist in diesem Fall grundsätzlich der gesamte Zeitraum bis zur Entscheidung des Gerichts unter Berücksichtigung aller tatsächlichen oder rechtlichen Änderungen, ohne dass es eines neuen Bescheides bedarf; es sei denn, der Leistungsträger hat auf einen weiteren Leistungsantrag für einen späteren Zeitraum einen neuen Ablehnungsbescheid mit der Folge erlassen, dass sich der zunächst angefochtene Bescheid insoweit gemäß § 39 Abs. 2 SGB X erledigt hat (für SGB II: BSG, 7.11.2006 – B 7b AS 14/06 R; 16.5.2007 – B 11b AS 37/06 R; 31.10.2007 – B 14/11b AS 59/06 R und 7/07 R; für SGB XII: BSG, 11.12.2007 – B 8/9b SO 12/06 R).

Die mit Bescheid vom 14.12.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.04.2010 auf § 66 SGB I gestützte Leistungsablehnung ist auch in der Sache rechtswidrig. Einerseits hat die Antragsgegnerin es unterlassen, die Antragstellerin vor der Leistungsablehnung mit Fristsetzung auf die Folgen fehlender Mitwirkung hinzuweisen, § 66 Abs. 3 SGB I. Ein Hinweis auf die bereits in der Vergangenheit erfolgten Ablehnungen wegen fehlender Mitwirkung genügt dieser Anforderung nicht. Zudem hat die Antragsgegnerin das für die Leistungsablehnung wegen fehlender Mitwirkung notwendige Ermessen (BSG v. 20.10.2005, B 7a/7 AL 102/04 R; LSG NRW v. 28.09.2009, L 19 B 255/09 AS ER) nicht ausgeübt. Ein Ermessen hätte aber zumindest hinsichtlich des Zeitpunkts und der Höhe der Versagung in dem Ablehnungsbescheid erkennbar werden müssen. Des Weiteren ist der Bescheid auch deshalb rechtswidrig, weil die Anwendung des SGB I im Falle der Verweigerung, einen ärztlichen oder psychologischen Untersuchungstermin wahrzunehmen, ausgeschlossen ist. Die in den §§ 60 ff SGB I bestimmten Mitwirkungspflichten sind nur heranzuziehen, soweit nicht Regelungen über besondere Mitwirkungsobliegenheiten existieren, die den Lebenssachverhalt ausdrücklich oder stillschweigend ausdrücklich regeln (LSG für das Saarland, v. 02.05.2011, L 9 AS 9/11 B ER; LSG Sachsen-Anhalt v. 20.02.2009, L 5 B 376/08 AS ER). Nach § 309 Abs. 1 Satz 1 SGB III, der über § 59 SGB II im Recht der Grundsicherung für Arbeitsuchende anwendbar ist, hat der Arbeitslose sich während der Zeit, für die er Anspruch auf Leistungen erhebt, bei der Agentur für Arbeit oder einer sonstigen Dienststelle der Bundesagentur persönlich zu melden oder zu einem ärztlichen oder psychologischen Untersuchungstermin zu erscheinen, wenn er dazu aufgefordert wird. Der Gesetzgeber hat damit eine spezielle Regelung getroffen, die nur über die Sanktionsvorschrift des § 31 Abs. 2 SGB II zu lösen ist (LSG für das Saarland, Beschluss v. 02.05.2011, L 9 AS 9/11 B ER; LSG Sachsen-Anhalt v. 20.02.2009, L 5 B 376/08 AS ER; offen gelassen LSG Baden-Württemberg v.08.04.2010, L 7 AS 304/10 ER-B m.w.N.; a.A. LSG NRW v. 28.09.2009, L 19 B 255/09 AS ER u. v. 23.05.2007, L 19 B 47/07 AS ER).

Der von der Antragstellerin geltend gemachte Anspruch auf Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II setzt -neben ihrer Bedürftigkeit- insbesondere Erwerbsfähigkeit voraus (§ 7 S. 1 Nr. 2 SGB II), die derzeit gerade nicht festgestellt ist und für die die Antragstellerin auch letztlich beweispflichtig ist. Jedoch steht der Antragstellerin für den Fall, dass sie nicht erwerbsfähig ist ein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB XII zu. Die Antragsgegnerin hat nach § 44 a Abs. 1 SGB II bis zu einer Entscheidung der Einigungsstelle über die Erwerbsfähigkeit Leistungen zu erbringen. § 44a S 3 SGB II enthält eine Nahtlosigkeitsregelung nach dem Vorbild des § 125 Sozialgesetzbuch Drittes Buch - Arbeitsförderung -SGB III- (BSG v. 7.11.2006 B 7b AS 10/06 R; Blüggel in Eicher/Spellbrink, SGB II, § 44a RdNr. 23; Mrozynski, Grundsicherung und Sozialhilfe, II. 14 RdNr. 33, Stand August 2006). Im Hinblick auf die Vorleistungspflicht des SGB II-Trägers gegenüber dem SGB XII-Träger bei Streitigkeiten über die Erwerbsfähigkeit, erscheint zur Sicherung des Lebensunterhalts die vorläufige Verpflichtung der Antragsgegnerin angezeigt, zumal diese gegebenenfalls ein Erstattungsanspruch gegen den SGB XII-Leistungsträger erwächst.

Die Antragstellerin hat für den Zeitraum ab 11.11.2010 auch einen Anordnungsgrund, d.h. die besondere Eilbedürftigkeit, glaubhaft gemacht. Dabei ist zu beachten, dass die Antragsgegnerin sich grundsätzlich nicht darauf berufen kann, die Antragstellerin habe in der Vergangenheit ihren Lebensunterhalt bestreiten können, wenn sie selbst die Leistung rechtswidrig abgelehnt hat. Die Antragstellerin hat vorgebracht, ihre Habe verkauft, ihr Schonvermögen verzehrt und sich überschuldet zu haben. Insbesondere die gegen die Antragstellerin gerichtete Räumungsklage vom 27.04.2011 macht deutlich, dass sie ihren Lebensunterhalt nicht durch eigenes Einkommen oder Vermögen sicherstellen kann.

Nicht begründet ist die Beschwerde dagegen, soweit die Antragstellerin Leistungen für die Zeit vor dem 11.11.2010 geltend macht. Dies ergibt sich für die Zeit vor Nachsuchen um gerichtlichen Rechtsschutz daraus, dass eine rückwirkende vorläufige Regelungsanordnung regelmäßig nicht in Frage kommt, sofern - wie auch hier- keine Besonderheiten geltend gemacht werden (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. Beschlüsse v. 17.09.2010, L 7 AS 314/10 B ER und v. 11.02.2008, L 7 AS 19/08 B ER m.w.N. und einhellige Meinung, z.B. Keller in Meyer/Ladewig/Keller/Leitherer, 9. Aufl. 2008, § 86 b Rn 35a m.w.N.).

Die einstweilige Anordnung ist auf den Folgemonat der Bekanntgabe der Entscheidung beschränkt, soweit die Hauptsacheverfahren nicht vorher erledigt sein werden, weil im einstweiligen Rechtsschutz nur eine gegenwärtige dringliche Notlage beseitigt werden soll (Krodel, NZS 2007, 20 (21); enger, nur laufender Monat: Grieger, ZFSH/SGB 2004, 579 (585) mwN zum Meinungsstand). Die Antragsgegnerin ist gehalten, über den tenorierten Zeitraum hinaus bis zu einer Erledigung der Hauptsacheverfahren der einstweiligen Anordnung Folge zu leisten, solange eine wesentliche Änderung der Tatsachen- oder Rechtslage nicht eintritt, um weitere Folgeverfahren zu vermeiden. Der Senat weist die Antragstellerin darauf hin, dass sie verpflichtet ist, der Aufforderung der Antragsgegnerin, sich neurologisch/psychiatrisch untersuchen zu lassen, Folge zu leisten, § 62 SGB I. Gegebenenfalls kann die Bestellung eines Vertreters gem. § 15 Abs. 1 Nr. 4 SGB X in Betracht kommen, wenn die Antragstellerin infolge einer psychischen Krankheit oder körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung nicht in der Lage ist, in dem Verwaltungsverfahren selbst tätig zu werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.
Rechtskraft
Aus
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