Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
15
1. Instanz
SG Würzburg (FSB)
Aktenzeichen
S 5 VG 5/10
Datum
-
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 15 VG 19/10 B PKH
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Es existiert ein verfassungsrechtlich begründetes Verbot, das Hauptsacheverfahren in das PKH-Verfahren zu verlagern. Bei der Beurteilung, ob die Erfolgschance des Rechtsschutzbegehrens nur eine entfernte ist, kann dies dazu führen, dass das Gericht nicht jeden Fall bis ins letzte rechtlich "durchprüfen" darf.
2. Die Lösung schwieriger rechtlicher Probleme muss dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.
3. Dass Nachforschungen in der höchstrichterlichen Rechtsprechung erforderlich sind, macht eine Rechtsfrage noch nicht zu einer schwierigen, sofern sie vom Bundessozialgericht eindeutig beantwortet wird.
2. Die Lösung schwieriger rechtlicher Probleme muss dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.
3. Dass Nachforschungen in der höchstrichterlichen Rechtsprechung erforderlich sind, macht eine Rechtsfrage noch nicht zu einer schwierigen, sofern sie vom Bundessozialgericht eindeutig beantwortet wird.
Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Würzburg vom 8. Oktober 2010 wird zurückgewiesen.
Gründe:
I.
Zwischen der Klägerin und Beschwerdeführerin (Bf) und dem Beklagten und Beschwerdegegner (Bg) ist vor dem Sozialgericht Würzburg ein Klageverfahren in einer Angelegenheit nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) anhängig (Aktenzeichen S 5 VG 5/10). Im hier vorliegenden Verfahren geht es darum, ob die Bf die Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) und Beiordnung ihrer Prozessbevollmächtigten verlangen kann.
Die Bf ist in der ehemaligen DDR Opfer eines langjährigen sexuellen Missbrauchs während ihrer Kindheit und Jugend geworden. 1989 siedelte sie in die Bundesrepublik Deutschland über. Am 29.10.1996 stellte sie beim damaligen Versorgungsamt W. einen Antrag auf Beschädigtenversorgung nach dem OEG wegen des erlittenen sexuellen Missbrauchs. Mit Bescheid vom 21.01.2008 erkannte der Bg mit Wirkung vom 01.10.1996 die Schädigungsfolge "schizotype Störung mit Borderlinestruktur" an, stellte eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 50 v.H. fest und regelte, dass die Höhe der Beschädigtenversorgung im Rahmen eines Härteausgleichs nach § 10a OEG festzustellen sei.
Am 24.07.2008 beantragte die Bf, ihr Beschädigtenversorgung bereits vor Oktober 1996 zu gewähren. Sie trug vor, sie sei ohne ihr Verschulden an einer früheren Antragstellung gehindert gewesen. Das Schadensereignis sei erst im Lauf einer psychotherapeutischen Behandlung im Jahr 1996 an die Oberfläche ihres Bewusstseins gedrungen. Bis dahin habe sie das Geschehen verdrängt und nicht erkennen können. Jedoch habe sie, die Bf, bereits seit ihrer Kindheit an mannigfaltigen körperlichen und psychischen Beschwerden gelitten, deren Ursache sie bis dato nicht habe deuten können.
Mit Bescheid vom 09.03.2010 lehnte der Bg den Antrag auf Beschädigtenversorgung vor Oktober 1996 ab. Zur Begründung führte er aus, die Verlängerung nach § 60 Abs. 1 Satz 3 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) greife nicht, weil keine unverschuldete Verhinderung vorgelegen habe. Der Verlängerungstatbestand beziehe sich vorwiegend auf traumatische Verletzungen, welche zeitweise die Vornahme von Überlegungen bezüglich der Geltendmachung eines Versorgungsanspruchs verhindern würden. Das wäre beispielsweise bei einem monatelangen Koma der Fall. Der Ausnahmecharakter von § 60
Abs. 1 Satz 3 BVG gebiete eine enge Handhabung. Eine Erweiterung auf Konstellationen, in denen Betroffene um die Möglichkeit einer Leistungsgewährung bzw. eines Schädigungstatbestandes vor der Antragstellung überhaupt nichts gewusst hätten, wäre, so der Bg weiter, mit dem Antragsprinzip nicht vereinbar und würde die Möglichkeit der Gewährung von Versorgungsleistungen in einem rückwirkenden Ausmaß erweitern, wie es vom Gesetzgeber nicht gewollt sei.
Den dagegen eingelegten Widerspruch wies der Bg mit Widerspruchsbescheid vom 15.06.2010 als unbegründet zurück. Er vertrat in der Begründung die Ansicht, ein Verschulden liege regelmäßig nicht vor, wenn der Leistungsberechtigte objektiv nicht in der Lage sei, einen Antrag zu stellen. Verzögerungen aufgrund von Unwissenheit über die Opferentschädigung oder das Antragserfordernis seien stets verschuldet, weil sie subjektiver Natur seien. Das Verschulden eines gesetzlichen oder bevollmächtigten Vertreters müsse sich der Betroffene zurechnen lassen; nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) anerkannte Ausnahmetatbestände seien nicht gegeben.
Am 15.07.2010 hat die Bf Klage beim Sozialgericht Würzburg erhoben mit dem Ziel, Beschädigtenversorgung bereits vor Oktober 1996 zuerkannt zu erhalten. Mit der Klageerhebung hat die Bf beantragt, ihr PKH zu bewilligen und ihre Prozessbevollmächtigte beizuordnen.
Das Sozialgericht hat den Antrag auf Bewilligung von PKH und Anwaltsbeiordnung mit Beschluss vom 08.10.2010 abgelehnt, weil eine hinreichende Erfolgsaussicht im Sinn des PKH-Rechts nicht bestehe. In Bezug auf die Regelung des § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG, so das Sozialgericht zur Begründung, fehle es an einem durchgehend unverschuldeten Verhindertsein an der Antragstellung. Das Sozialgericht hat insoweit die Argumentation des Bg weitgehend übernommen. Gleichwohl hat es seine Entscheidung nicht auf die Erwägungen zu § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG gestützt. Wesentlich sei vielmehr, so das Sozialgericht weiter, dass gemäß § 44 Abs. 4 Satz 3 des Sozialgesetzbuchs Zehntes Buch (SGB X) eine Rücknahme des bestandskräftigen Bescheids vom 21.01.2008 nur für einen Zeitraum ab 01.01.2004 in Betracht käme. Von daher würden Leistungen bereits vor Oktober 1996 ausscheiden. § 44 Abs. 4 SGB X werde - anders als § 48 Abs. 4 Satz 1 in Verbindung mit § 44 Abs. 4 SGB X durch § 60 Abs. 2 BVG - nicht durch § 60 Abs. 1 BVG verdrängt. Zudem habe das Sozialgericht mit Urteil vom 19.01.2007 rechtskräftig über das
Bestehen eines Anspruchs gerade ab Oktober 1996 entschieden. Eine Rechtskraftdurchbrechung komme hier nicht in Betracht.
Am 19.11.2010 hat die Bf Beschwerde eingelegt. Zur Begründung hat sie vorgetragen, eine hinreichende Erfolgsaussicht im Sinn des PKH-Rechts sei gegeben. In Bezug auf die Regelung des § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG habe das Sozialgericht verkannt, dass bei der Bf eine Amnesie vorgelegen habe, die gerade durch die schädigende Gewalttat hervorgerufen worden sei. Zudem sei nicht ausschließlich ein Antrag auf Zugunstenentscheidung nach § 44 SGB X, sondern auch auf eine Entscheidung nach § 48 SGB X beantragt worden.
II.
Die zulässige Beschwerde ist nicht begründet. Das Sozialgericht hat den Antrag auf Bewilligung von PKH und Anwaltsbeiordnung zurecht abgelehnt.
Nach § 73 a Abs. 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) in Verbindung mit § 114 Abs. 1 der Zivilprozessordnung (ZPO) erhält eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag PKH, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Das Klagebegehren der Bf besitzt keine hinreichende Erfolgsaussicht in diesem Sinn.
Das Tatbestandsmerkmal "hinreichende Erfolgsaussicht" ist unter Berücksichtigung seiner verfassungsrechtlichen Bezüge zu interpretieren. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes geboten. Das ergibt sich aus Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip, das in Art. 19 Abs. 4 GG seinen besonderen Ausdruck findet (vgl. BVerfGE 81, 347 ; stRspr). Verfassungsrechtlich ist zwar nicht zu beanstanden, wenn die Gewährung von PKH davon abhängig gemacht wird, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint. Die Prüfung der Erfolgsaussicht soll jedoch nicht dazu dienen, die Rechtsverfol-
gung oder Rechtsverteidigung selbst in das Nebenverfahren der PKH vorzuverlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen. Das bedeutet zugleich, dass PKH nur verweigert werden darf, wenn ein Erfolg in der Hauptsache zwar nicht schlechthin ausgeschlossen, die Erfolgschance aber nur eine entfernte ist (vgl. BVerfGE 81, 347 ; stRspr).
Bei der Beurteilung, ob die Erfolgschance in diesem Sinn nur eine entfernte ist, darf das Gericht indes nicht jeden Fall rechtlich "durchprüfen". Denn neben den oben genannten verfassungsrechtlichen Vorgaben existiert ein ebenfalls verfassungsrechtlich begründetes Verbot, das Hauptsachverfahren in das PKH-Verfahren zu verlagern. Insoweit muss berücksichtigt werden, dass die Klärung schwieriger Rechtsfragen im PKH-Verfahren keinen Platz hat (vgl. BVerfG NJW 2000, S. 1936; BVerfG NJW 2003, S. 1857). Die Folge dessen kann sein, dass mitunter auch dann, wenn das Gericht im Rahmen der lückenlosen Prüfung in der Sache zu einem letzten Endes eindeutigen und nahezu unangreifbaren Resultat zu Ungunsten des Antragstellers gelangt, PKH zu bewilligen ist. Dieser Fall tritt dann ein, wenn das Gericht auf dem Weg zu seinem Ergebnis schwierige rechtliche Probleme zu bewältigen hat. Deren Lösung muss dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. Somit kann es sein, dass das Ergebnis der juristisch anspruchsvollen Überlegungen unter Umständen nicht für die Bewertung der hinreichenden Erfolgsaussicht im Sinn des PKH-Rechts verwertet werden darf.
Unter Verweisung auf eine Kommentierung bei Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Sozialgerichtsgesetz, hat es das Sozialgericht hinsichtlich der Beurteilung der "hinreichenden Erfolgsaussicht" für maßgebend gehalten, dass das Obsiegen im Prozess nach den vorhandenen Gegebenheiten eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich hat. Dieser rechtliche Maßstab erscheint nicht nur zu unbestimmt, sondern bei unbefangener Auslegung des Attributs "gewisse" auch zu streng.
Gleichwohl wahrt die Entscheidung des Sozialgerichts den verfassungsrechtlich gesetzten Rahmen. Denn die Erfolgsaussicht der Bf ist nur eine entfernte. Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, bedarf es keiner rechtlich schwierigen Erwägungen, die das PKH-Verfahren "überstrapazieren" würden und deswegen dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben müssten.
Wie das Sozialgericht zutreffend entschieden hat, kommt es im vorliegenden Fall auf die Handhabung von § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG nicht an. Zwar hat es deutlich zu erkennen gegeben, dass es insoweit der Ansicht des Bg folgen würde. Für den Senat erübrigt es sich aber, dazu Stellung zu beziehen. Denn in der Tat fehlt es an einer hinreichenden Erfolgsaussicht schon deshalb, weil § 44 Abs. 4 SGB X mögliche Versorgungsansprüche materiell-rechtlich beseitigt.
Zunächst steht gänzlich außer Zweifel, dass der Bg mit dem Bescheid vom 21.01.2008 auch entschieden hat, dass vor Oktober 1996 gerade keine Versorgungsansprüche bestehen. Somit kann die Bf ihr Ziel nur über eine Abänderung dieses Bescheids erreichen, was § 44 SGB X als Rechtsgrundlage in den Fokus rückt.
Gemäß § 44 Abs. 4 SGB X werden Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile des SGB - dazu zählt auch das Bundesversorgungsgesetz, wenn es über § 1 Abs. 1 OEG in Bezug genommen wird (§ 68 Nr. 7 lit. f des Sozialgesetzbuchs Erstes Buch) - längstens bis zu einem Zeitraum von vier Jahren vor der Rücknahme erbracht. Dabei wird der Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird. Erfolgt allerdings wie hier die Rücknahme auf Antrag, tritt bei der Berechnung des Zeitraums, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, anstelle der Rücknahme der Antrag.
Bei Erlass eines Zugunstenbescheids wird § 44 Abs. 4 SGB X nicht durch § 60 Abs. 1 BVG verdrängt, sondern findet daneben voll Anwendung. Das Sozialgericht hat dies richtig gesehen und begründet. Eine schwierige Rechtsfrage, deren Lösung dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben müsste, liegt darin nicht. Denn das BSG hat im Urteil vom 02.10.2008 (B 9 VH 1/07 R) unzweifelhaft die Sperrwirkung des § 44 Abs. 4 SGB X auch im sozialen Entschädigungsrecht bejaht und diesbezüglich klar den Unterschied zum Rangverhältnis von § 60 Abs. 2 BVG zu § 48 Abs. 4 Satz 1 i.V.m. § 44 Abs. 4 SGB X dargelegt. Dass Nachforschungen in der höchstrichterlichen Rechtsprechung erforderlich sind, macht eine Rechtsfrage noch nicht zu einer schwierigen, sofern sie wie hier vom BSG eindeutig beantwortet wird.
§ 44 Abs. 4 SGB X bewirkt unbeschadet der versorgungsrechtlichen Anspruchsvoraussetzungen, dass die Bf keinen Versorgungsanspruch für die gewünschte Zeit vor Oktober 1996 hat. Die Vorschrift führt zu einer materiell-rechtlichen Anspruchsvernichtung (vgl. BSG, SGb 1994, S. 85) und berührt nicht nur die Durchsetzbarkeit eines Leistungsanspruchs. Dabei zählt als Sozialleistung im Sinn von Satz 1 schon die Versorgung nach dem OEG als Anspruch dem Grunde nach; solche "Sozialleistungen" sind nicht erst die in § 9 BVG genannten Einzelkomponenten der Beschädigtenversorgung. Deshalb darf im vorliegenden Verfahren der Bf nicht ein Versorgungsanspruch quasi in Form eines "Stammrechts", welches von § 44 Abs. 4 SGB X unberührt bliebe, zuerkannt und erst der von ihr letztlich erstrebte Rentenanspruch aufgrund dieser Ausschlussregelung abgelehnt werden. Liegt aber wie hier ein materiell-rechtlicher Wegfall des Versorgungsanspruchs in seiner Gesamtheit vor, besteht kein "berechtigtes Interesse" im Sinn von § 55 Abs. 1 SGG für die Bf, für die Zeit vor Oktober 1996 eine Schädigungsfolge und einen Grad der Schädigung feststellen zu lassen. Denn auch wenn das Bestehen einer Schädigungsfolge und eines relevanten Grads der Schädigung verfahrensrechtlich nicht bloße Begründungselemente in Bezug auf die Zuerkennung eines Versorgungsanspruchs sind, sondern eigenständige Regelungsgegenstände verkörpern, so haben entsprechende Feststellungen gleichwohl keinen Selbstzweck (anders § 69 Abs. 1 des Sozialgesetzbuchs Neuntes Buch). Auch dabei handelt es sich nicht um eine schwierige Rechtsfrage, sondern lediglich um ein gedankliches Anknüpfen an den grundlegenden Charakter versorgungsbehördlicher Entscheidungen.
Nicht vertretbar ist die Ansicht der Bf, bei ihr liege - ebenso wie in dem durch das BSG im Urteil vom 02.10.2008 (B 9 VH 1/07 R) entschiedenen Fall - auch ein Antrag auf Neufeststellung vor, für den wegen der Sonderregelung des § 60 Abs. 2 BVG § 44 Abs. 4 SGB X nicht gelte. Zwar ist die Anwendung von § 48 SGB X auch auf rechtswidrige Verwaltungsakte nicht von vornherein ausgeschlossen. Unabdingbare Voraussetzung dafür ist jedoch stets eine nachträgliche Änderung der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse; dabei meint "nachträglich" nach Erlass des Bescheids, dessen Korrektur in Frage steht. An dieser Grundvoraussetzung fehlt es hier offensichtlich.
Die in die Vergangenheit gerichtete Vier-Jahres-Frist des § 44 Abs. 4 SGB X endet bei dem gebotenen Anknüpfen an den Rücknahmeantrag (März 2008) bereits mit dem 01.01.2004, so dass die von der Bf begehrte Versorgung vollständig von der anspruchsvernichtenden Wirkung erfasst wird.
Eine Entscheidung zur Tragung der außergerichtlichen Kosten unterbleibt wegen § 73 a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 127 Abs. 4 ZPO.
Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.
Gründe:
I.
Zwischen der Klägerin und Beschwerdeführerin (Bf) und dem Beklagten und Beschwerdegegner (Bg) ist vor dem Sozialgericht Würzburg ein Klageverfahren in einer Angelegenheit nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) anhängig (Aktenzeichen S 5 VG 5/10). Im hier vorliegenden Verfahren geht es darum, ob die Bf die Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) und Beiordnung ihrer Prozessbevollmächtigten verlangen kann.
Die Bf ist in der ehemaligen DDR Opfer eines langjährigen sexuellen Missbrauchs während ihrer Kindheit und Jugend geworden. 1989 siedelte sie in die Bundesrepublik Deutschland über. Am 29.10.1996 stellte sie beim damaligen Versorgungsamt W. einen Antrag auf Beschädigtenversorgung nach dem OEG wegen des erlittenen sexuellen Missbrauchs. Mit Bescheid vom 21.01.2008 erkannte der Bg mit Wirkung vom 01.10.1996 die Schädigungsfolge "schizotype Störung mit Borderlinestruktur" an, stellte eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 50 v.H. fest und regelte, dass die Höhe der Beschädigtenversorgung im Rahmen eines Härteausgleichs nach § 10a OEG festzustellen sei.
Am 24.07.2008 beantragte die Bf, ihr Beschädigtenversorgung bereits vor Oktober 1996 zu gewähren. Sie trug vor, sie sei ohne ihr Verschulden an einer früheren Antragstellung gehindert gewesen. Das Schadensereignis sei erst im Lauf einer psychotherapeutischen Behandlung im Jahr 1996 an die Oberfläche ihres Bewusstseins gedrungen. Bis dahin habe sie das Geschehen verdrängt und nicht erkennen können. Jedoch habe sie, die Bf, bereits seit ihrer Kindheit an mannigfaltigen körperlichen und psychischen Beschwerden gelitten, deren Ursache sie bis dato nicht habe deuten können.
Mit Bescheid vom 09.03.2010 lehnte der Bg den Antrag auf Beschädigtenversorgung vor Oktober 1996 ab. Zur Begründung führte er aus, die Verlängerung nach § 60 Abs. 1 Satz 3 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) greife nicht, weil keine unverschuldete Verhinderung vorgelegen habe. Der Verlängerungstatbestand beziehe sich vorwiegend auf traumatische Verletzungen, welche zeitweise die Vornahme von Überlegungen bezüglich der Geltendmachung eines Versorgungsanspruchs verhindern würden. Das wäre beispielsweise bei einem monatelangen Koma der Fall. Der Ausnahmecharakter von § 60
Abs. 1 Satz 3 BVG gebiete eine enge Handhabung. Eine Erweiterung auf Konstellationen, in denen Betroffene um die Möglichkeit einer Leistungsgewährung bzw. eines Schädigungstatbestandes vor der Antragstellung überhaupt nichts gewusst hätten, wäre, so der Bg weiter, mit dem Antragsprinzip nicht vereinbar und würde die Möglichkeit der Gewährung von Versorgungsleistungen in einem rückwirkenden Ausmaß erweitern, wie es vom Gesetzgeber nicht gewollt sei.
Den dagegen eingelegten Widerspruch wies der Bg mit Widerspruchsbescheid vom 15.06.2010 als unbegründet zurück. Er vertrat in der Begründung die Ansicht, ein Verschulden liege regelmäßig nicht vor, wenn der Leistungsberechtigte objektiv nicht in der Lage sei, einen Antrag zu stellen. Verzögerungen aufgrund von Unwissenheit über die Opferentschädigung oder das Antragserfordernis seien stets verschuldet, weil sie subjektiver Natur seien. Das Verschulden eines gesetzlichen oder bevollmächtigten Vertreters müsse sich der Betroffene zurechnen lassen; nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) anerkannte Ausnahmetatbestände seien nicht gegeben.
Am 15.07.2010 hat die Bf Klage beim Sozialgericht Würzburg erhoben mit dem Ziel, Beschädigtenversorgung bereits vor Oktober 1996 zuerkannt zu erhalten. Mit der Klageerhebung hat die Bf beantragt, ihr PKH zu bewilligen und ihre Prozessbevollmächtigte beizuordnen.
Das Sozialgericht hat den Antrag auf Bewilligung von PKH und Anwaltsbeiordnung mit Beschluss vom 08.10.2010 abgelehnt, weil eine hinreichende Erfolgsaussicht im Sinn des PKH-Rechts nicht bestehe. In Bezug auf die Regelung des § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG, so das Sozialgericht zur Begründung, fehle es an einem durchgehend unverschuldeten Verhindertsein an der Antragstellung. Das Sozialgericht hat insoweit die Argumentation des Bg weitgehend übernommen. Gleichwohl hat es seine Entscheidung nicht auf die Erwägungen zu § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG gestützt. Wesentlich sei vielmehr, so das Sozialgericht weiter, dass gemäß § 44 Abs. 4 Satz 3 des Sozialgesetzbuchs Zehntes Buch (SGB X) eine Rücknahme des bestandskräftigen Bescheids vom 21.01.2008 nur für einen Zeitraum ab 01.01.2004 in Betracht käme. Von daher würden Leistungen bereits vor Oktober 1996 ausscheiden. § 44 Abs. 4 SGB X werde - anders als § 48 Abs. 4 Satz 1 in Verbindung mit § 44 Abs. 4 SGB X durch § 60 Abs. 2 BVG - nicht durch § 60 Abs. 1 BVG verdrängt. Zudem habe das Sozialgericht mit Urteil vom 19.01.2007 rechtskräftig über das
Bestehen eines Anspruchs gerade ab Oktober 1996 entschieden. Eine Rechtskraftdurchbrechung komme hier nicht in Betracht.
Am 19.11.2010 hat die Bf Beschwerde eingelegt. Zur Begründung hat sie vorgetragen, eine hinreichende Erfolgsaussicht im Sinn des PKH-Rechts sei gegeben. In Bezug auf die Regelung des § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG habe das Sozialgericht verkannt, dass bei der Bf eine Amnesie vorgelegen habe, die gerade durch die schädigende Gewalttat hervorgerufen worden sei. Zudem sei nicht ausschließlich ein Antrag auf Zugunstenentscheidung nach § 44 SGB X, sondern auch auf eine Entscheidung nach § 48 SGB X beantragt worden.
II.
Die zulässige Beschwerde ist nicht begründet. Das Sozialgericht hat den Antrag auf Bewilligung von PKH und Anwaltsbeiordnung zurecht abgelehnt.
Nach § 73 a Abs. 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) in Verbindung mit § 114 Abs. 1 der Zivilprozessordnung (ZPO) erhält eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag PKH, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Das Klagebegehren der Bf besitzt keine hinreichende Erfolgsaussicht in diesem Sinn.
Das Tatbestandsmerkmal "hinreichende Erfolgsaussicht" ist unter Berücksichtigung seiner verfassungsrechtlichen Bezüge zu interpretieren. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes geboten. Das ergibt sich aus Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip, das in Art. 19 Abs. 4 GG seinen besonderen Ausdruck findet (vgl. BVerfGE 81, 347 ; stRspr). Verfassungsrechtlich ist zwar nicht zu beanstanden, wenn die Gewährung von PKH davon abhängig gemacht wird, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint. Die Prüfung der Erfolgsaussicht soll jedoch nicht dazu dienen, die Rechtsverfol-
gung oder Rechtsverteidigung selbst in das Nebenverfahren der PKH vorzuverlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen. Das bedeutet zugleich, dass PKH nur verweigert werden darf, wenn ein Erfolg in der Hauptsache zwar nicht schlechthin ausgeschlossen, die Erfolgschance aber nur eine entfernte ist (vgl. BVerfGE 81, 347 ; stRspr).
Bei der Beurteilung, ob die Erfolgschance in diesem Sinn nur eine entfernte ist, darf das Gericht indes nicht jeden Fall rechtlich "durchprüfen". Denn neben den oben genannten verfassungsrechtlichen Vorgaben existiert ein ebenfalls verfassungsrechtlich begründetes Verbot, das Hauptsachverfahren in das PKH-Verfahren zu verlagern. Insoweit muss berücksichtigt werden, dass die Klärung schwieriger Rechtsfragen im PKH-Verfahren keinen Platz hat (vgl. BVerfG NJW 2000, S. 1936; BVerfG NJW 2003, S. 1857). Die Folge dessen kann sein, dass mitunter auch dann, wenn das Gericht im Rahmen der lückenlosen Prüfung in der Sache zu einem letzten Endes eindeutigen und nahezu unangreifbaren Resultat zu Ungunsten des Antragstellers gelangt, PKH zu bewilligen ist. Dieser Fall tritt dann ein, wenn das Gericht auf dem Weg zu seinem Ergebnis schwierige rechtliche Probleme zu bewältigen hat. Deren Lösung muss dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. Somit kann es sein, dass das Ergebnis der juristisch anspruchsvollen Überlegungen unter Umständen nicht für die Bewertung der hinreichenden Erfolgsaussicht im Sinn des PKH-Rechts verwertet werden darf.
Unter Verweisung auf eine Kommentierung bei Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Sozialgerichtsgesetz, hat es das Sozialgericht hinsichtlich der Beurteilung der "hinreichenden Erfolgsaussicht" für maßgebend gehalten, dass das Obsiegen im Prozess nach den vorhandenen Gegebenheiten eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich hat. Dieser rechtliche Maßstab erscheint nicht nur zu unbestimmt, sondern bei unbefangener Auslegung des Attributs "gewisse" auch zu streng.
Gleichwohl wahrt die Entscheidung des Sozialgerichts den verfassungsrechtlich gesetzten Rahmen. Denn die Erfolgsaussicht der Bf ist nur eine entfernte. Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, bedarf es keiner rechtlich schwierigen Erwägungen, die das PKH-Verfahren "überstrapazieren" würden und deswegen dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben müssten.
Wie das Sozialgericht zutreffend entschieden hat, kommt es im vorliegenden Fall auf die Handhabung von § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG nicht an. Zwar hat es deutlich zu erkennen gegeben, dass es insoweit der Ansicht des Bg folgen würde. Für den Senat erübrigt es sich aber, dazu Stellung zu beziehen. Denn in der Tat fehlt es an einer hinreichenden Erfolgsaussicht schon deshalb, weil § 44 Abs. 4 SGB X mögliche Versorgungsansprüche materiell-rechtlich beseitigt.
Zunächst steht gänzlich außer Zweifel, dass der Bg mit dem Bescheid vom 21.01.2008 auch entschieden hat, dass vor Oktober 1996 gerade keine Versorgungsansprüche bestehen. Somit kann die Bf ihr Ziel nur über eine Abänderung dieses Bescheids erreichen, was § 44 SGB X als Rechtsgrundlage in den Fokus rückt.
Gemäß § 44 Abs. 4 SGB X werden Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile des SGB - dazu zählt auch das Bundesversorgungsgesetz, wenn es über § 1 Abs. 1 OEG in Bezug genommen wird (§ 68 Nr. 7 lit. f des Sozialgesetzbuchs Erstes Buch) - längstens bis zu einem Zeitraum von vier Jahren vor der Rücknahme erbracht. Dabei wird der Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird. Erfolgt allerdings wie hier die Rücknahme auf Antrag, tritt bei der Berechnung des Zeitraums, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, anstelle der Rücknahme der Antrag.
Bei Erlass eines Zugunstenbescheids wird § 44 Abs. 4 SGB X nicht durch § 60 Abs. 1 BVG verdrängt, sondern findet daneben voll Anwendung. Das Sozialgericht hat dies richtig gesehen und begründet. Eine schwierige Rechtsfrage, deren Lösung dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben müsste, liegt darin nicht. Denn das BSG hat im Urteil vom 02.10.2008 (B 9 VH 1/07 R) unzweifelhaft die Sperrwirkung des § 44 Abs. 4 SGB X auch im sozialen Entschädigungsrecht bejaht und diesbezüglich klar den Unterschied zum Rangverhältnis von § 60 Abs. 2 BVG zu § 48 Abs. 4 Satz 1 i.V.m. § 44 Abs. 4 SGB X dargelegt. Dass Nachforschungen in der höchstrichterlichen Rechtsprechung erforderlich sind, macht eine Rechtsfrage noch nicht zu einer schwierigen, sofern sie wie hier vom BSG eindeutig beantwortet wird.
§ 44 Abs. 4 SGB X bewirkt unbeschadet der versorgungsrechtlichen Anspruchsvoraussetzungen, dass die Bf keinen Versorgungsanspruch für die gewünschte Zeit vor Oktober 1996 hat. Die Vorschrift führt zu einer materiell-rechtlichen Anspruchsvernichtung (vgl. BSG, SGb 1994, S. 85) und berührt nicht nur die Durchsetzbarkeit eines Leistungsanspruchs. Dabei zählt als Sozialleistung im Sinn von Satz 1 schon die Versorgung nach dem OEG als Anspruch dem Grunde nach; solche "Sozialleistungen" sind nicht erst die in § 9 BVG genannten Einzelkomponenten der Beschädigtenversorgung. Deshalb darf im vorliegenden Verfahren der Bf nicht ein Versorgungsanspruch quasi in Form eines "Stammrechts", welches von § 44 Abs. 4 SGB X unberührt bliebe, zuerkannt und erst der von ihr letztlich erstrebte Rentenanspruch aufgrund dieser Ausschlussregelung abgelehnt werden. Liegt aber wie hier ein materiell-rechtlicher Wegfall des Versorgungsanspruchs in seiner Gesamtheit vor, besteht kein "berechtigtes Interesse" im Sinn von § 55 Abs. 1 SGG für die Bf, für die Zeit vor Oktober 1996 eine Schädigungsfolge und einen Grad der Schädigung feststellen zu lassen. Denn auch wenn das Bestehen einer Schädigungsfolge und eines relevanten Grads der Schädigung verfahrensrechtlich nicht bloße Begründungselemente in Bezug auf die Zuerkennung eines Versorgungsanspruchs sind, sondern eigenständige Regelungsgegenstände verkörpern, so haben entsprechende Feststellungen gleichwohl keinen Selbstzweck (anders § 69 Abs. 1 des Sozialgesetzbuchs Neuntes Buch). Auch dabei handelt es sich nicht um eine schwierige Rechtsfrage, sondern lediglich um ein gedankliches Anknüpfen an den grundlegenden Charakter versorgungsbehördlicher Entscheidungen.
Nicht vertretbar ist die Ansicht der Bf, bei ihr liege - ebenso wie in dem durch das BSG im Urteil vom 02.10.2008 (B 9 VH 1/07 R) entschiedenen Fall - auch ein Antrag auf Neufeststellung vor, für den wegen der Sonderregelung des § 60 Abs. 2 BVG § 44 Abs. 4 SGB X nicht gelte. Zwar ist die Anwendung von § 48 SGB X auch auf rechtswidrige Verwaltungsakte nicht von vornherein ausgeschlossen. Unabdingbare Voraussetzung dafür ist jedoch stets eine nachträgliche Änderung der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse; dabei meint "nachträglich" nach Erlass des Bescheids, dessen Korrektur in Frage steht. An dieser Grundvoraussetzung fehlt es hier offensichtlich.
Die in die Vergangenheit gerichtete Vier-Jahres-Frist des § 44 Abs. 4 SGB X endet bei dem gebotenen Anknüpfen an den Rücknahmeantrag (März 2008) bereits mit dem 01.01.2004, so dass die von der Bf begehrte Versorgung vollständig von der anspruchsvernichtenden Wirkung erfasst wird.
Eine Entscheidung zur Tragung der außergerichtlichen Kosten unterbleibt wegen § 73 a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 127 Abs. 4 ZPO.
Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.
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