L 1 SV 1905/11

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
1
1. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 1 SV 1905/11
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
§ 57a Abs. 3 SGG begründet nur dann die Zuständigkeit des Sozialgerichts am Sitz der Landesbehörde, wenn Streitgegenstand des Verfahrens eine Entscheidung oder ein Vertrag auf Landesebene ist.
Als zuständiges Gericht für das Klageverfahren S 9 KR 7732/10 wird das Sozialgericht Stuttgart bestimmt.

Gründe:

I.

Der Kläger begehrt von der Beklagten die Zahlung von 949,85 EUR.

Im O. Klinikum des Klägers wurde in der Zeit vom 24.05.2008 bis zum 09.06.2008 eine Versicherte behandelt. Für die Behandlung wurde von der Klägerin ein Betrag von 5.821,53 EUR geltend gemacht, der zunächst von der Beklagten beglichen wurde.

In der Folgezeit entstand Streit über die Hauptdiagnose und deren Verschlüsselung. Nach Auffassung der Beklagten durfte nicht der Harnwegsinfekt (N39.0), sondern lediglich der Fersenulcus (L89.47) und damit die Diagnosis Related Group – DRG – (Diagnosebezogene Fallgruppe) J03A und nicht die DRG L09C berechnet werden. Die Beklagte behielt daher im Wege der Aufrechnung 949,85 EUR ein.

Am 09.12.2010 hat die Klägerin wegen dieses Differenzbetrages von 949,85 EUR nebst Zinsen beim Sozialgericht Freiburg Klage erhoben.

Mit Beschluss vom 29.11.2010 hat sich das Sozialgericht Freiburg für örtlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit an das seiner Auffassung nach örtlich zuständige Sozialgericht Stuttgart verwiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass gem. § 57a Abs. 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in Angelegenheiten, die Verträge auf Landesebene betreffen – soweit das Landesrecht nichts Abweichendes bestimme – das Sozialgericht zuständig sei, in dessen Bezirk die Landesregierung ihren Sitz habe. Im vorliegenden Fall sei aufgrund dieser Vorschrift die Zuständigkeit des Sozialgerichts Stuttgart gegeben. Die Klage betreffe einen auf Landesebene geschlossenen Vertrag nach § 112 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V). § 57a Abs. 3 SGG sei weit auszulegen. Die Zuständigkeit des Sozialgerichts Stuttgart werde nicht nur dann begründet, wenn das Bestehen oder die Auslegung von Bestimmungen dieses Vertrages im Streit stehe, sondern in allen Angelegenheiten, die auf der Grundlage des Landesvertrages zu entscheiden seien. Die Entscheidung des Rechtsstreits beträfe hier nicht nur die DRG`s, sondern z. B. auch die Berechtigung der Beklagten mit unstreitigen Vergütungsansprüchen aufzurechnen oder den Zinsanspruch, der sich nach dem Landesvertrag richte. Deshalb sei der Rechtsstreit an das Sozialgericht Stuttgart zu verweisen.

Mit Beschluss vom 04.05.2011 hat sich das Sozialgericht Stuttgart ebenfalls für örtlich unzuständig erklärt und die Streitsache dem Landessozialgericht als nächsthöherem Gericht zur Bestimmung des zuständigen Gerichts vorgelegt. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass der nach § 112 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB V über die allgemeinen Bedingungen der Krankenhausbehandlung geschlossene Vertrag zwischen der Baden-Württembergischen Krankenhausgesellschaft und den Landesverbänden der Krankenkassen und Ersatzkassen nicht i. S. v. § 57a Abs. 3 SGB V betroffen sei. Dieser Vertrag bilde nicht die Anspruchsgrundlage der streitgegenständlichen Vergütungsforderung. Die Zahlungsverpflichtung der Krankenkasse entstehe unmittelbar mit der Inanspruchnahme der Leistung durch den Versicherten kraft Gesetzes. Der Behandlungspflicht der nach § 109 SGB V zugelassenen Krankenhäuser stehe ein gesetzlicher Vergütungsanspruch gegenüber. Der Sicherstellungsvertrag nach § 112 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB V regele lediglich die allgemeinen Bedingungen der Krankenhausbehandlung und sei nur ergänzend heranzuziehen. Dieser Landesvertrag sei für das Entstehen des Vergütungsanspruchs unerheblich. Selbst wenn dieser Vertrag bei der Prüfung des Vergütungsanspruches ergänzend heranzuziehen sei, sei die Zuständigkeit des Sozialgerichts Stuttgart nach § 57a Abs. 3 SGG nicht gegeben. Diese Vorschrift sei eine Ausnahmevorschrift zu § 57 SGG und deshalb eng auszulegen. Daher sehe sich das Gericht an den Verweisungsbeschluss des Sozialgerichts Freiburg nicht gebunden und rufe das Landessozialgericht zur Bestimmung des zuständigen Gerichts an.

II.

Die nach § 58 Abs. 2 SGG zulässige Vorlage des Sozialgerichts Stuttgart führt im vorliegenden Fall zur Bestimmung dieses Gerichts als zuständigem Gericht. Zwar dürfte das Sozialgericht Stuttgart örtlich unzuständig sein (1.), es ist jedoch an den Verweisungsbeschluss des Sozialgerichts Freiburg gebunden (2.).

1. Gem. § 57a Abs. 3 SGG ist für Angelegenheiten, die Entscheidungen oder Verträge auf Landesebene betreffen – soweit Landesrecht nichts Abweichendes bestimmt – das Sozialgericht zuständig, in dessen Bezirk die Landesregierung ihren Sitz hat. Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts Freiburg ist § 57a Abs. 3 SGG im vorliegenden Fall nicht anwendbar, sodass es bei der allgemeinen Regelung des § 57 SGG zu verbleiben hat. § 57a SGG unterscheidet vier spezielle örtliche Zuständigkeiten der Sozialgerichte in Fragen der gesetzlichen Krankenversicherung. Diese Vorschrift wurde mit Wirkung vom 01.04.2008 neu gefasst. Es war eine redaktionelle Überarbeitung notwendig geworden, weil in Rechtsprechung und Literatur Uneinigkeit über die Auslegung dieser Vorschrift in ihrer alten Fassung bestand. Das Bundessozialgericht legt § 57a SGG als "Sonderzuständigkeitsregel" zu § 51 Abs. 1 Nr. 2 SGG aus und nahm an, dass alle vier Alternativen ausschließlich Angelegenheiten des Vertragsarztrechts beträfen (vgl. BSG, Urt. vom 27.05.2004 – B 7 SF 6/04 S –). Diese Auslegung wurde in der Literatur kritisiert und auch von den Spitzenverbänden der gesetzlichen Krankenkassen nicht geteilt. Daher hat sich der Gesetzgeber aus Gründen der Verwaltungsökonomie und der Vereinheitlichung der Rechtsprechung für eine Neufassung entschieden. Er hat klargestellt, dass sowohl vertragsärztliche als auch nicht vertragsärztliche Fragen auf Landesebene von § 57a SGG betroffen sind (vgl. hierzu und zum Vorstehenden – BT-Drucks. 820/07 – S. 20 –). Bei der Auslegung des § 57a SGG ist deshalb zunächst zu berücksichtigen, dass es sich um eine spezielle Zuständigkeitsregelung handelt, die in Abweichung von der allgemeinen Zuständigkeit aus den soeben genannten Gründen erlassen wurde. Als Ausnahmevorschrift ist § 57a SGG einer weiten Auslegung nicht zugänglich, vielmehr verlangt sie nach einer restriktiven Handhabung. Es sollte mit dieser Vorschrift keine Generalzuständigkeit des jeweiligen Gerichts am Sitz der Landesregierung begründet werden, wenn der geltend gemachte Anspruch Entscheidungen oder Verträge auf Landesebene nur berührt. Vielmehr müssen die Entscheidungen oder Verträge auf Landesebene in qualifizierter Weise oder direkt betroffen sein (vgl. dazu auch LSG Chemnitz, Beschluss vom 13.10.2008 – L 1 B 614/08 KR-ER –). Das bedeutet nach Auffassung des Senats, dass nur die unmittelbare gerichtliche Überprüfung einer vertraglichen Vereinbarung oder Entscheidung auf Landesebene die Zuständigkeit nach § 57a Abs. 3 SGG begründet. Würde eine extensive Auslegung bevorzugt, würde das dazu führen, dass die allgemeine Zuständigkeitsregelung des § 57 Abs. 1 SGG im Wesentlichen im Krankenversicherungsrecht obsolet würde. Es kommt in diesem Rechtsgebiet häufig vor, dass die Auslegung einer Entscheidung oder eines Vertrages auf Landes- oder Bundesebene mitstreitig oder berührt ist. Dies hätte zur Folge, dass z. B. im Vertragsarztrecht nach § 57a Abs. 4 SGG fast jeder Rechtsstreit entweder von dem Sozialgericht Berlin als dem Sitz der Kassenärztlichen Bundesvereinigung oder dem Sozialgericht Köln als dem Sitz der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung entschieden werden müsste, da im Regelfall in diesen Rechtsstreitigkeiten Verträge auf Bundesebene betroffen sind. Es ist zudem eine häufig vorkommende Fallkonstellation des Krankenversicherungsrechts, dass in einem Rechtsstreit z. B. "bundesrechtliche" Regelungen inzident zu überprüfen bzw. heranzuziehen oder auszulegen sind, wie z. B. die Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses. Dieser Umstand ist jedoch für die örtliche Zuständigkeit ohne Relevanz, vielmehr befassen sich die Sozialgerichte eines jeden Bundeslandes mit diesen Entscheidungen. § 57 Abs. 1 SGG würde bei einer weiten Auslegung des § 57a Abs. 3 SGG im Krankenversicherungsrecht seine Bedeutung verlieren. Diese liegt aber gerade darin, dem Betroffenen durch die Nähe zum Wohnsitz sowie Aufenthalts- oder Beschäftigungsort die gerichtliche Durchsetzung der sozialrechtlichen Ansprüche zu erleichtern.

Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts Freiburg und des Sozialgerichts Ulm (vgl. dazu Beschluss vom 19.10.2009 – S 13 KR 529/09 –) legen weder die Systematik noch die Entstehungsgeschichte eine weite Auslegung von § 57a Abs. 3 SGG nahe. Die Systematik und die verwendeten Begriffe "Angelegenheiten" und "betreffen" lassen nach Auffassung des Senats keine Rückschlüsse auf eine weite Auslegung zu. Vielmehr folgt aus der bereits zitierten Entstehungsgeschichte, dass es sich lediglich um eine Reaktion auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (a. a. O.) gehandelt hat.

Auch der Sinn und Zweck der Vorschrift legen eine weite Auslegung nicht nahe. Die Vereinheitlichung der Rechtsprechung und die Verwaltungsökonomie sind nur dann von wesentlicher Bedeutung, wenn die Verträge oder die Entscheidungen auf Landesebene als solche Streitgegenstand sind. In solchen Fällen bedarf es der Einheitlichkeit der Rechtsprechung, damit in Bezug auf die jeweilige Entscheidung oder den jeweiligen Vertrag nicht divergierende Entscheidungen der einzelnen Sozialgerichte ergehen. In den übrigen Fällen, in denen es auf die Umstände des Einzelfalls ankommt, kann die vom Gesetzgeber intendierte Zielsetzung nicht erreicht werden. Insbesondere zeigt der vorliegende Fall, in dem um die Codierung im Einzelfall gestritten wird, dass eine Zuständigkeitskonzentration nicht geboten ist. Die Klärung des Vorliegens der Voraussetzungen der abgerechneten DRG Fallpauschale ist zum einen ein "länderübergreifendes" Problem, das in einer Vielzahl von Krankenhausvergütungsstreitigkeiten in jedem Bundesland auftreten kann. Zum anderen sind die jeweils im Einzelfall durchgeführte Krankenhausbehandlung und die zugrundeliegenden Diagnosen streitentscheidend. Bei dieser Fallkonstellation kann es – darauf sei nur noch ergänzend hingewiesen – zu divergierenden Entscheidungen in den einzelnen Bundesländern kommen, ohne dass das Ziel der Vereinheitlichung der Rechtsprechung erreicht werden könnte (vgl. dazu auch SG Berlin, Beschluss vom 31.01.2011 – S 36 KR 2345/10 –).

Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts Freiburg ist § 57a Abs. 3 SGG auch nicht deshalb anzuwenden, weil der Vertrag nach § 112 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB V zwischen der Baden-Württembergischen Krankenhausgesellschaft und den Verbänden der Krankenkassen für die Entscheidung des Rechtsstreits heranzuziehen ist. Über diesen Vertrag und die dort festgelegten Regelungen streiten die Beteiligten nicht. Diese Regelungen des Vertrages werden von den Beteiligten als gültig vorausgesetzt. Gestritten wird nur über den Zahlungsanspruch – über den Vergütungsanspruch des Krankenhauses –, der sich im Übrigen – wie das Sozialgericht Stuttgart zutreffend ausgeführt hat – unmittelbar aus § 109 Abs. 4 Satz 3 SGB V i. V. m. dem Krankenhausentgeltgesetz (KHEntgG) sowie dem Fallpauschalenkatalog (vgl. zum Abrechnungsmodus nach dem Fallpauschalenkatalog auch BSG, Urt. vom 25.11.2010 – B 3 KR 4/10 R –) ergibt. Insoweit wird ergänzend auf den Beschluss des Sozialgerichts Stuttgart vom 04.05.2011 verwiesen, dessen Gründen sich der Senat nach eigener Prüfung anschließt (§ 153 Abs. 2 SGG).

Landesrechtliche Regelungen, d. h. Entscheidungen oder Vereinbarungen auf Landesebene sind im vorliegenden Fall demgemäß nicht streitig. Die zur Anwendung des § 57a Abs. 3 SGG erforderliche unmittelbare Betroffenheit dieses Vertrages fehlt also, weil derartige Entscheidungen oder Verträge nicht Streitgegenstand des Verfahrens sind (vgl. dazu auch LSG Chemnitz, Beschluss vom 13.10.2008 – L 1 B 614/08 KR-ER - ; SG Dresden, Beschluss vom 05.06.2009 – S 18 KR 167/09 –; SG Berlin, Beschluss vom 20.05.2011 – S 182 KR 669/11 –; Schreiber, Die Zuständigkeit für Streitigkeiten zwischen Leistungserbringern und Krankenkassen (-verbänden), SGb 2009, S. 525 ff., a.A. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 06.01.2009 – L 1 B 53/08 KR –).

2. Obgleich der Senat der Auffassung ist, dass hier die örtliche Zuständigkeit des Sozialgerichts Freiburg nach § 57 Abs. 1 SGG, der allgemeinen Regelung, gegeben ist, zieht er doch die Bestimmung des Sozialgerichts Freiburg als zuständigem Gericht nicht in Betracht. Vielmehr greift die Bindungswirkung gem. § 98 Satz 1 SGG i. V. m. § 17a Abs. 2 GVG. Die Bindungswirkung gilt im Interesse des verfassungsrechtlich gewährleisteten effektiven Rechtsschutzes und soll zu einer möglichst zügigen sachlichen Entscheidung, grundsätzlich unabhängig von der Ver- letzung prozessualer oder materieller Vorschriften, führen (vgl. dazu BSG, Beschluss vom 03.12.2010 – B 12 SF 7/10 S –). Ausnahmsweise kommt einem Verweisungsbeschluss dann keine Bindungswirkung zu, wenn die Verweisung auf einer Missachtung elementarer Verfahrensgrundsätze oder einem willkürlichen Verhalten beruht (vgl. nochmals BSG, Beschluss vom 03.12.2010, a.a.O., m.w.N.). Unter Berücksichtigung dieser strengen Maßstäbe für die Bindungswirkung ist für die Bestimmung des Sozialgerichts Freiburg als zuständigem Gericht kein Raum. Das Sozialgericht Freiburg hat weder willkürlich noch unter Missachtung elementarer Verfahrensgrundsätze den Rechtsstreit verwiesen. Es hat lediglich im Anschluss an die Rechtsprechung des SG Ulm (vgl. dazu nochmals Beschluss vom 19.10.2009, a.a.O.; LSG Niedersachen-Bremen, Beschluss vom 05.01.2009, a.a.O.) eine von der Rechtsauffassung des beschließenden Senats abweichende Auffassung vertreten, was weder ein Verstoß gegen elementare Verfahrensgrundsätze noch willkürlich ist.

III.

Eine Kostenentscheidung ist nicht zu treffen, da es sich bei der Bestimmung des zuständigen Gerichts gem. § 58 SGG lediglich um einen sog. Zwischenstreit handelt.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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