L 25 AS 1035/09 B PKH

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
25
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 95 AS 8330/09
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 25 AS 1035/09 B PKH
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Kläger wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 26. Mai 2009 aufgehoben. Den Klägern wird für das Klageverfahren erster Instanz Prozesskostenhilfe ab dem 11. Mai 2009 ohne Festsetzung von Monatsraten und aus dem Vermögen zu zahlenden Beträgen unter Beiordnung von Rechtsanwalt H A, Estraße, B, bewilligt. Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

Gründe:

Die Beschwerde gegen die Ablehnung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Klageverfahren vor dem Sozialgericht Berlin, mit dem die Kläger sich im Zugunstenverfahren nach § 44 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) (Bescheid vom 25. Januar 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. März 2009) gegen einen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 19. Juni 2007 in der Fassung der Bescheide vom 14. März 2008 und vom 9. Mai 2008 wenden, ist zulässig und begründet.

Nach § 73a Abs. 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) i. V. m. § 114 Satz 1 der Zivilprozessordnung (ZPO) erhält ein Prozessbeteiligter auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn er nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann und die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg verspricht und nicht mutwillig erscheint. Bei der Abwägung, ob einer Klage hinreichende Aussicht auf Erfolg zukommt, gebietet Artikel 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) i. V. m. dem in Artikel 20 Abs. 3 GG allgemein niedergelegten Rechtsstaatsgrundsatz und der in Artikel 19 Abs. 4 GG verankerten Rechtsschutzgarantie gegen Akte der öffentlichen Gewalt eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes. In der Folge dürfen die Anforderungen an die Erfolgsaussicht nicht überzogen werden, weil das Prozesskostenhilfeverfahren den Rechtsschutz, den der Rechtsstaatsgrundsatz erfordert, nicht selbst bietet, sondern ihn erst zugänglich macht (ständige Rechtsprechung, vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 6. Mai 2009 – 1 BvR 439/08 – zitiert nach juris -; vom 14. März 2003 – 1 BvR 1998/02 – in NJW 2003, 2976; vom 7. April 2000 – 1 BvR 81/00 – in NJW 2000, 1936). Damit muss der Erfolg des Rechtsschutzbegehrens nicht gewiss sein; hinreichende Aussicht auf Erfolg ist nur dann zu verneinen, wenn diese nur entfernt oder schlechthin ausgeschlossen ist. Die hinreichende Erfolgsaussicht ist daher gegeben, wenn das Gericht den Rechtsstandpunkt des Klägers zumindest für vertretbar hält und in tatsächlicher Hinsicht von der Möglichkeit der Beweisführung überzeugt ist. Ist eine Rechtsfrage aufgeworfen, die in der Rechtsprechung noch nicht geklärt, aber klärungsbedürftig ist, muss ebenfalls Prozesskostenhilfe bewilligt werden (vgl. Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Auflage, 2008, § 73a, Rn. 7a, b, m. w. N.).

Die Voraussetzungen für die Gewährung von Prozesskostenhilfe liegen hier vor. Insbesondere bietet die Rechtsverfolgung hinreichende Erfolgsaussichten, wobei dahinstehen kann, auf welchen Zeitpunkt für die Beurteilung der Erfolgsaussichten abzustellen ist (vgl. zum Meinungsstand insoweit Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 6. Oktober 2010 - L 11 SB 55/10 B PKH - juris).

Vorab merkt der Senat dabei an, dass hier die Rechtmäßigkeit des (bestandskräftigen) Aufhebungs- und Erstattungsbescheides vom 19. Juni 2007 in der Fassung der Bescheide vom 14. März 2008 und vom 9. Mai 2008 im so genannten Zugunstenverfahren zu prüfen ist, wobei auch für die Überprüfung von Aufhebungs- und Erstattungsbescheiden § 40 Abs. 1 Satz 1 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch (SGB II) in Verbindung mit dem insoweit entsprechend anzuwendenden § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X einschlägig ist (vgl. hierzu Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 12. Dezember 1996 - 11 RAr 31/96 - juris). Soweit sich nach letztgenannter Vorschrift im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, ist der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen.

Dass hier der Bescheid vom 19. Juni 2007 in der Fassung der Bescheide vom 14. März 2008 und vom 9. Mai 2008 rechtswidrig ist, ist jedenfalls nicht ausgeschlossen. Aufgehoben hat der Beklagte mit ihm teilweise einen Bewilligungsbescheid vom 26. März 2007. Anhaltspunkte für dessen Rechtswidrigkeit von Anfang an bestehen nicht, so dass eine Aufhebung dieses Bescheides nach § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II in Verbindung mit § 45 SGB X nicht in Betracht kommt.

Stützen kann der Beklagte seine Aufhebungsentscheidung daher allenfalls auf § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II in Verbindung mit § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 und/oder 4 SGB X. Der Verwaltungsakt soll danach mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit 2. der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist, oder 4. der Betroffene wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist. Nach § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II in Verbindung mit § 330 Abs. 3 Satz 1 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch ist kein Ermessen auszuüben, wenn die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X vorliegen.

Hier bestehen hinreichende Erfolgsaussichten für die Klage, weil – unterstellt, die Bewilligung durch Bescheid vom 26. März 2007 ist durch die Inhaftierung des Klägers zu 2. am 23. Mai 2007 teilweise rechtswidrig geworden – jedenfalls die Möglichkeit besteht, dass den Klägern kein Vorsatz - ein solcher liegt auch angesichts des Schreibens der Klägerin zu 1. an den Beklagten vom 13. Juni 2007 fern - und keine grobe Fahrlässigkeit im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 und 4 SGB X angelastet werden kann.

Grob fahrlässig handelt nur, wer die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt (§ 45 Abs. 2 Nr. 3 SGB X). Der Betroffene muss daher schon einfachste, ganz nahe liegende Überlegungen nicht angestellt und deshalb nicht beachtet haben, was im gegebenen Falle jedem einleuchten muss (vgl. BSG, Urteil vom 19. Februar 1986 - 7 RAr 55/84 – juris). Hierbei ist auf die persönliche Urteils- und Kritikfähigkeit, das Einsichtsvermögen und Verhalten des Betroffenen sowie die besonderen Umstände des Falls abzustellen (vgl. BSG, Urteil vom 16. März 2005 - B 11a/11 AL 41/03 R – juris).

Feststellungen zur groben Fahrlässigkeit der Kläger fehlen hier. Besondere Umstände des Falls, die auf grobe Fahrlässigkeit schließen lassen (etwa Merkblätter oder Schreiben, in denen die Kläger vom Beklagten über die Rechtslage informiert worden sind), sind hier nicht erkennbar. Namentlich ist nicht ohne weiteres erkennbar, dass die Kläger um die leistungsrechtlichen Konsequenzen der Inhaftierung des Klägers zu 2. wissen mussten. Dies gilt hier umso mehr, als § 7 Abs. 4 SGB II vor seiner Änderung durch das Gesetz zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 20. Juli 2006 (BGBl. I S. 1706) zum 1. August 2006 ausweislich eines aktenkundigen Schreibens der Bundesagentur für Arbeit – Regionaldirektion Berlin-Brandenburg – vom 10. März 2006 durchaus so ausgelegt wurde, dass bei einer Inhaftierung, die weniger als sechs Monate dauert (hier war der Kläger zu 2. wohl bis zum 25. Juli 2007 in der Jugendstrafanstalt in Untersuchungshaft, dann bis zum 31. Oktober 2007 in einer Jugendhilfeeinrichtung in F und damit insgesamt geringfügig länger als sechs Monate untergebracht; ob diese Haftdauer auch prognostisch zu erwarten war (vgl. zur Prognoseentscheidung Spellbrink in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Auflage 2008, § 7, Rn. 61; zur bis zum 31. Juli 2006 geltenden Fassung des § 7 Abs. 4 SGB II auch schon in der 1. Auflage 2005, § 7, Rn. 35), ist den Akten nicht zu entnehmen), jedenfalls ein Anspruch auf Übernahme der Unterkunftskosten, die in Bezug auf die Aufhebungs- und Erstattungsentscheidung gegenüber dem Kläger zu 2. fast die Hälfte ausmachen, besteht (vgl. zur Anwendung des § 7 Abs. 4 SGB II in seiner bis zum 31. Juli 2006 geltenden Fassung auf den Fall einer Inhaftierung auch BSG, Urteil vom 6. September 2007 - B 14/7b AS 60/06 R – juris). Ausweislich eines internen Stattgabevermerks vom 31. Oktober 2008 wurde im Übrigen auch von jedenfalls einem Mitarbeiter des Beklagten vertreten, dass hier wegen § 7 Abs. 4 Satz 3 Nr. 1 SBG II in seiner zum 1. August 2006 in Kraft getretenen Fassung ein Leistungsanspruch des Klägers zu 2. weiter bestehe. Die genannten rechtlichen Wertungen erhellen, dass sich die Annahme, die Kläger hätten einfachste, ganz nahe liegende Überlegungen nicht angestellt, nicht ohne weiteres aufdrängt. Für die Klägerin zu 1. wird dabei auch zu klären sein, ob sie hätte erkennen müssen, dass sich der ihr zuerkannte Mehrbedarf für Alleinerziehende mit der Inhaftierung des Klägers zu 2. reduziert hat. Denn alleinerziehend war sie auch nach dem 23. Mai 2007, da sie mit dem 1992 geborenen Sohn C weiter in einem Haushalt lebte. Hier wird zu prüfen sein, ob sie die Vorschrift des § 21 Abs. 3 Nr. 2 SGB II in seiner damals einschlägigen Fassung - jedenfalls seinem Inhalt nach - gekannt hat oder hätte kennen müssen. In dem Bewilligungsbescheid vom 26. März 2007 wird die Rechtslage hinsichtlich des Mehrbedarfs für Alleinerziehende jedenfalls wenig verständlich (wohl auch fehlerhaft) dargelegt. In dem insoweit einschlägigen Abschnitt des Berechnungsbogens heißt es:

"Mehrbedarfe zum Lebensunterhalt für allein Erziehende mit 1 Kind unter 7 Jahren bzw. 2 oder 3 Kinder unter 16 Jahren (36,00 % der maßgebenden Regelleistung oder pro minderjährigem Kind – 36,00 %; höchstens 12,00 % der maßgebenden Regelleistung)".

Die Annahme, die Klägerin zu 1. hätte bei dieser Darstellung der Rechtslage schon bei Anstellung einfachster und ganz nahe liegender Überlegungen erkennen müssen, dass und in welchem Umfang sich der ihr zuerkannte Mehrbedarf durch die Inhaftierung des Klägers zu 2. reduzieren würde, liegt jedenfalls nicht auf der Hand.

Soweit es um den Kläger zu 2. geht, ist schließlich auch zu berücksichtigen, dass er zum Zeitpunkt seiner Inhaftierung 16 Jahre alt war (und während der Haft das 17. Lebensjahr vollendete). Ob ihm grobe Fahrlässigkeit angelastet werden kann, ist mindestens zweifelhaft. Die Rechtsfrage, ob einem Minderjährigen eine etwaige grobe Fahrlässigkeit des nach § 38 SGB II handelnden Elternteils zuzurechnen ist, ist bei dem BSG unter dem Aktenzeichen B 14 AS 144/10 R anhängig.

Tatsachen, die auf die persönliche Urteils- und Kritikfähigkeit sowie das Einsichtsvermögen der Kläger schließen lassen, sind bislang nicht ermittelt worden, werden aber zu ermitteln sein, sollte das Sozialgericht zu dem Schluss gelangen, dass der Bewilligungsbescheid vom 26. März 2007 infolge der Inhaftierung des Klägers zu 2. am 23. Mai 2007 teilweise rechtswidrig geworden ist. Dabei wird sich das Sozialgericht aller Voraussicht nach einen persönlichen Eindruck mindestens von der Klägerin zu 1. (wenn deren etwaiges Verschulden dem Kläger zu 2. zuzurechnen sein sollte) zu verschaffen haben.

Für die Prüfung, ob die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X hier vorliegen, wird das Sozialgericht gegebenenfalls auch zu erörtern haben, ob der Kläger zu 2. seiner etwa vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse nicht eventuell bereits dadurch nachgekommen ist, dass er am 24. Mai 2007 – einen Tag nach seiner Inhaftierung - eine Veränderungsanzeige bei der Jugendstrafanstalt B - Untersuchungshaftbereich K - erstattet hat. Dass diese den Beklagten infolge der Postlaufzeit erst am 31. Mai 2007 erreicht hat, könnte dem Kläger zu 2. eventuell nicht anzulasten sein.

Die weiteren Voraussetzungen für die Gewährung von Prozesskostenhilfe sind erfüllt. Insbesondere sind die Kläger nicht in der Lage, sich auch nur teilweise an den Kosten der Prozessführung zu beteiligen. Die Beiordnung des von ihnen benannten Rechtsanwaltes ist nach § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 121 Abs. 2 Satz 1 ZPO erforderlich.

Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten (§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 127 Abs. 4 ZPO).

Der Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
Saved