Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 29 P 204/07
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 2 P 26/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung einer Anfechtungsklage gegen einen das Pflegegeld entziehenden Bescheid ist die Sach- und Rechtslage bei Erlass des Verwaltungsaktes bzw. des Widerspruchsbescheides. Eine spätere Änderung der Sach- und Rechtslage ist in der Regel unbeachtlich.
2. Zur Maßgeblichkeit der Schätzung an Zeitbedarfs für eine Leistungsüberprüfung.
2. Zur Maßgeblichkeit der Schätzung an Zeitbedarfs für eine Leistungsüberprüfung.
I. Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 10.03.2010 sowie der Bescheid der Beklagten vom 16.02.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.09.2007 aufgehoben.
II. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Der Kläger wendet sich gegen die Entziehung von Pflegegeld.
Der Kläger leidet an Mukoviszidose. Mit Bescheid vom 12.05.1995 bewilligte die Beklagte dem Kläger Leistungen nach Pflegestufe I ab 01.04.1995. Diese Einstufung wurde aufgrund einer Stellungnahme des MDK vom 07.11.1994 vorgenommen. Die Pflegestufe wurde vom MDK im Gutachten vom 24.01.2005 bestätigt
Am 07.02.2006 erstellte Frau W. im Auftrag der Beklagten erneut ein Gutachten zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit. Sie kam darin zum Ergebnis, dass der Zeitbedarf im Bereich der Grundpflege nur noch 7 Minuten betrage. Der Kläger leide an Mukoviszidose. Er benötige deshalb weiter Hilfe bei den Maßnahmen zur Sekretelimination. Diese erfolge durch Vibrationsmassagen, welche von der Mutter durchgeführt werden. Daraufhin erging am 16.02.2006 Bescheid der Beklagten, mit dem die Pflegegeldzahlung zum 28.02.2006 eingestellt wurde. Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 05.09.2007 zurück.
Hiergegen legte der Kläger am 14.09.2007 Klage beim Sozialgericht München ein. Die Voraussetzungen des § 48 Sozialgesetzbuch (SGB) X seien nicht erfüllt. Die Beklagte habe nicht nachgewiesen, dass eine Änderung zum Bescheid vom 12.05.1995 eingetreten sei. Es sei offen, ob seinerzeit überhaupt ein Gutachten zum Pflegebedarf erstellt worden sei.
Aber auch in materiell-rechtlicher Hinsicht bestehe keine wesentliche Änderung. Entgegen den Ausführungen des MDK und der Beklagten seien auch die Maßnahmen zur "Keimprophylaxe" zur Verrichtung "Waschen" zu zählen. Hieraus entstehe ein weiterer Hilfebedarf von 3 Minuten. Ein Hilfebedarf von 4 Minuten resultiere aus der Hilfe beim täglichen Eincremen. Hierbei handele es sich nicht um eine Maßnahme, die Bestandteil der Verrichtung Waschen sei. Dieses Eincremen sei krankheitsbedingt erforderlich. Für die Reinigung des WC-Umfeldes, Rückführung des Darmprolaps sowie Kontrolle der Stuhlbeschaffenheit seien 6 Minuten insgesamt anerkannt. Auch dies entspreche nicht den Tatsachen. Bei der Nahrungsaufnahme sei ein weiterer Hilfebedarf von zusätzlich 10 Minuten anzuerkennen. Die dauernde Anwesenheit der Mutter bei der Nahrungsaufnahme sei erforderlich. Die Fahrten zur Krankengymnastik könne der Kläger nicht selbstständig mit öffentlichen Verkehrsmitteln bewältigen. Die Anwesenheit der Mutter bei der Physiotherapie sei erforderlich.
Mit Beweisanordnung vom 27.01.2009 ernannte das Sozialgericht Dr.E. Sch. zur gerichtlichen Sachverständigen. In ihrem Gutachten vom 24.11.2009 gelangte sie zum Ergebnis, dass die Voraussetzungen für eine Pflegebedürftigkeit des Klägers nicht vorlägen. Der Zeitaufwand für die erforderlichen Verrichtungen betrage für die Körperpflege 12 Minuten, für die Ernährung 10 Minuten und für die Mobilität 11 Minuten. Das Aufsuchen der Atemtherapie erfolge regelmäßig einmal wöchentlich. Die Fahrt mit dem Auto betrage insgesamt ca. 60 Minuten für die Hin- und Rückfahrt, die Therapiezeit betrage 60 Minuten. Auf Wunsch der Therapeutin sei die Mutter bei den Maßnahmen zeitweise mit anwesend, wozu pro Therapie ein Zeitbedarf von ca. 20 Minuten zu veranschlagen sei, was einen Hilfebedarf im Tagesdurchschnitt von ca. 11 Minuten ergäbe.
Die Pflegemaßnahmen zur Schleim-Elimination hätten sich nicht verändert, seien aber nicht anrechenbar.
Nach Anhörung erließ das Sozialgericht Gerichtsbescheid vom 10.03.2010, mit dem es die Klage abwies. Zur Begründung stützte es sich auf die Ausführungen der Sachverständigen Dr.Sch.
Hiergegen hat der Kläger am 16.04.2010 Berufung eingelegt. Das Gericht habe keine Ausführungen zu einer Änderung der Verhältnisse gemacht.
Der Kläger beantragt, den Bescheid der Beklagten vom 16.02.2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.09.2007 sowie den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 10.03.2010 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie die Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung des Klägers ist zulässig (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG) und begründet.
Der Bescheid vom 16.02.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.09.2007, der wegen wesentlicher Änderung der tatsächlichen Verhältnisse Pflegegeld mit Ablauf des 28.02.2006 versagte, erweist sich als rechtswidrig. Die Voraussetzungen für eine Neufeststellung gemäß § 48 SGB X waren zu diesem Zeitpunkt nicht erfüllt.
Das Klagebegehren stellt sich als Anfechtungsklage gemäß § 54 Abs. 1 SGG dar. Sie ist darauf gerichtet, den Pflegegeld entziehenden Bescheid vom 16.02.2006 zu beseitigen, mit der Folge, dass bei erfolgreicher Anfechtung dann der Leistungsbescheid wieder fortgelten würde. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung einer solchen Anfechtungsklage ist die Sach- und Rechtslage bei Erlass des Verwaltungsaktes bzw. des Widerspruchsbescheides. Eine spätere Änderung der Sach- und Rechtslage ist in der Regel unbeachtlich (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, Kommentar, 9. Aufl., § 54 Rn. 33).
Nach § 48 Abs. 1 SGB X ist, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Dies ist hier zu verneinen. Die Voraussetzungen für eine Neufeststellung gemäß § 48 SGB X waren zu diesem Zeitpunkt (28.02.2006) nicht erfüllt. Um eine wesentliche Änderung der tatsächlichen Pflegeverhältnisse feststellen zu können, muss ein Vergleich angestellt werden zwischen den Befunden, die der Bewilligung von Pflegegeld zugrunde gelegen haben, mit den Verhältnissen, die zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses, also im Februar 2006, vorgelegen haben.
Zur Überzeugung des Senats ist nicht bewiesen, dass sich im Februar 2006 die gesundheitlichen Verhältnisse des Klägers soweit stabilisiert hatten, dass ein Pflegeaufwand bei den Grundverrichtungen nicht mehr im Unfang von mehr als 45 Minuten pro Tag im Wochendurchschnitt gegeben war. Dies entnimmt der Senat dem Gutachten der Frau Dr. Sch. vom 24.11.2009 nach einem Hausbesuch am 03.09.2009 und dem Gutachten des MDK vom 07.02.2006, das der Senat im Wege des Urkundenbeweises verwerten kann. Im Verhältnis zum Vorgutachten vom 24.01.2005 war im Februar 2006 eine wesentliche Besserung des für die Beurteilung von Pflegebedürftigkeit maßgebenden Gesundheitszustandes nicht eingetreten.
Pflegebedürftige können nach § 37 Abs. 1 Satz 1 bis 3 des Elften Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB XI) Pflegegeld erhalten, wenn sie die erforderliche Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung durch eine Pflegeperson in geeigneter Weise sowie dem Umfang des Pflegegeldes entsprechend selbst sicherstellen und mindestens die Pflegestufe I vorliegt.
Nach § 15 Abs. 3 Nr. 1 SGB XI muss der Zeitaufwand für die erforderlichen Hilfeleistungen der Grundpflege täglich mehr als 45 Minuten (Grundpflegebedarf), für solche der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung zusammen mindestens 90 Minuten (Gesamtpflegebedarf) betragen. Unter Grundpflege ist die Hilfe bei gewöhnlichen und wiederkehrenden Verrichtungen im Bereich der Körperpflege, der Ernährung und der Mobilität (§ 14 Abs. 4 Nrn. 1 bis 3 SGB XI), unter hauswirtschaftlicher Versorgung die Hilfe bei der Nahrungsbesorgung und -zubereitung, der Kleiderpflege sowie der Wohnungsreinigung sowie Beheizung (§ 14 Abs. 4 Nr. 4 SGB XI) zu verstehen.
Die zeitlichen Voraussetzungen für Pflegestufe I waren jedenfalls im Februar 2006 gegeben. Insoweit stützt sich der Senat auf das Gutachten der Frau Dr. Sch. vom 24.11.2009. Darin stellte die Sachverständige fest, dass die Angaben des Klägers zu berücksichtigen sind, dass in den letzten Jahren das Atmen kontinuierlich schlechter, der Hustenreiz und die Hustenanfälle häufiger und das Abhusten des Schleims schwerer geworden sind. Demzufolge sind auch die Angaben der Mutter folgerichtig, dass Art und Umfang der häuslichen Hilfeleistungen bei den krankheitsspezifischen Pflegemaßnahmen zugenommen haben.
Eine Besserung der Verhältnisse lässt sich insbesondere auch nicht aus dem Gutachten des MDK vom 07.02.2006 entnehmen. Dieser führt selbst aus, dass eine Verbesserung des Gesundheitszustandes bei der Erkrankung nicht in Betracht gezogen werden kann. Die Änderung besteht nach Ansicht des MDK darin, dass das Überwachen der Inhalation sowie die Maßnahmen der Sekretelimination keiner Grundpflegeverrichtung mehr zuzuordnen sind. Eine Änderung im Sinne des § 48 Abs. 1 SGB X vermag der Senat jedoch nicht zu erkennen.
Hierzu führt die Sachverständige Dr. Sch. in ihrem Gutachten aus, dass die Pflegemaßnahmen morgens vor dem Aufstehen nur mit Unterstützung der Mutter durchgeführt werden können. Hierfür berechnet sie einen Zeitbedarf von etwa 15 bis 20 Minuten.
Hinsichtlich der Berücksichtigung von Maßnahmen zur Reinigung und Freihaltung der Atemwege hat das BSG in seinem Urteil vom 29.04.1999 (Az.: B 3 P 13/98 R) ausgeführt, dass hinsichtlich der Frage, welche krankheitsspezifischen Hilfeleistungen einer Verrichtung der Grundpflege zugeordnet werden können, auch und vor allem auf das Alter des Patienten abzustellen ist. Nach der Rechtsprechung des BSG bestünde der erforderliche Zusammenhang mit der Verrichtung "Aufstehen" nur bei solchen Maßnahmen der Behandlungspflege, die zwischen dem Aufwachen und dem Verlassen des Bettes, spätestens aber unmittelbar nach dem Verlassen des Bettes und vor jeder anderweitigen Tätigkeit durchgeführt werden müssen und nicht insbesondere aus medizinischen Gründen auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden können.
Der MDK hatte in dem Gutachten vom 24.01.2005 festgestellt, dass unter "Aufstehen/Zubettgehen" die manuelle Schleimlösung und Inhalation durch die Mutter mit zu berücksichtigen ist. Er hat einen Zeitbedarf von 12 Minuten angesetzt. Ob diese Einschätzung zutreffend war, ist im Rahmen des § 48 SGB X nicht zu prüfen. Entscheidend im Rahmen der Prüfung des § 48 SGB X ist, ob sich der Pflegebedarf wesentlich geändert hat. Auf kleinere Unterschiede in der Bewertung des Pflegebedarfs kommt es in diesem Zusammenhang nicht an (vgl. Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 14.11.2008; Az.: L 10 P 3/07).
Die Mutter des Klägers hat in der mündlichen Verhandlung vom 01.06.2011 den morgendlichen Ablauf zur Schleimlösung geschildert. Dieser Vorgang hat sich in den letzten 10 Jahren nicht geändert, so dass zusätzlich zu dem von Dr. Sch. festgestellten Zeitbedarf noch der für die manuelle Schleimlösung und Inhalation im Rahmen der Grundpflege zu werten ist. Der Kläger befindet sich damit an der zeitlichen Schnittstelle zum Vorliegen der Pflegestufe I nach § 15 Abs. 3 SGB X. Eine Minderung des Pflegebedarfs im Rahmen einer Leistungsüberprüfung, die ein eventuelles Unterschreiten des erforderlichen Pflegebedarfs (hier "mehr als 45 Minuten") um nur wenige Minuten ergeben hat, stellt für die Pflegekasse in der Regel keinen hinreichenden Grund dar, die Leistung einzustellen (BSGE 95, 57 ff).
Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 10.03.2010 sowie der Bescheid der Beklagten vom 16.02.2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.09.2007 war deshalb aufzuheben, weil eine wesentliche Änderung des Pflegebedarfs nach Ansicht des Senats nicht nachgewiesen ist. Hierfür ist jedoch die Beklagte beweispflichtig.
Die Kostenfolge ergibt sich aus § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG liegen nicht vor.
II. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Der Kläger wendet sich gegen die Entziehung von Pflegegeld.
Der Kläger leidet an Mukoviszidose. Mit Bescheid vom 12.05.1995 bewilligte die Beklagte dem Kläger Leistungen nach Pflegestufe I ab 01.04.1995. Diese Einstufung wurde aufgrund einer Stellungnahme des MDK vom 07.11.1994 vorgenommen. Die Pflegestufe wurde vom MDK im Gutachten vom 24.01.2005 bestätigt
Am 07.02.2006 erstellte Frau W. im Auftrag der Beklagten erneut ein Gutachten zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit. Sie kam darin zum Ergebnis, dass der Zeitbedarf im Bereich der Grundpflege nur noch 7 Minuten betrage. Der Kläger leide an Mukoviszidose. Er benötige deshalb weiter Hilfe bei den Maßnahmen zur Sekretelimination. Diese erfolge durch Vibrationsmassagen, welche von der Mutter durchgeführt werden. Daraufhin erging am 16.02.2006 Bescheid der Beklagten, mit dem die Pflegegeldzahlung zum 28.02.2006 eingestellt wurde. Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 05.09.2007 zurück.
Hiergegen legte der Kläger am 14.09.2007 Klage beim Sozialgericht München ein. Die Voraussetzungen des § 48 Sozialgesetzbuch (SGB) X seien nicht erfüllt. Die Beklagte habe nicht nachgewiesen, dass eine Änderung zum Bescheid vom 12.05.1995 eingetreten sei. Es sei offen, ob seinerzeit überhaupt ein Gutachten zum Pflegebedarf erstellt worden sei.
Aber auch in materiell-rechtlicher Hinsicht bestehe keine wesentliche Änderung. Entgegen den Ausführungen des MDK und der Beklagten seien auch die Maßnahmen zur "Keimprophylaxe" zur Verrichtung "Waschen" zu zählen. Hieraus entstehe ein weiterer Hilfebedarf von 3 Minuten. Ein Hilfebedarf von 4 Minuten resultiere aus der Hilfe beim täglichen Eincremen. Hierbei handele es sich nicht um eine Maßnahme, die Bestandteil der Verrichtung Waschen sei. Dieses Eincremen sei krankheitsbedingt erforderlich. Für die Reinigung des WC-Umfeldes, Rückführung des Darmprolaps sowie Kontrolle der Stuhlbeschaffenheit seien 6 Minuten insgesamt anerkannt. Auch dies entspreche nicht den Tatsachen. Bei der Nahrungsaufnahme sei ein weiterer Hilfebedarf von zusätzlich 10 Minuten anzuerkennen. Die dauernde Anwesenheit der Mutter bei der Nahrungsaufnahme sei erforderlich. Die Fahrten zur Krankengymnastik könne der Kläger nicht selbstständig mit öffentlichen Verkehrsmitteln bewältigen. Die Anwesenheit der Mutter bei der Physiotherapie sei erforderlich.
Mit Beweisanordnung vom 27.01.2009 ernannte das Sozialgericht Dr.E. Sch. zur gerichtlichen Sachverständigen. In ihrem Gutachten vom 24.11.2009 gelangte sie zum Ergebnis, dass die Voraussetzungen für eine Pflegebedürftigkeit des Klägers nicht vorlägen. Der Zeitaufwand für die erforderlichen Verrichtungen betrage für die Körperpflege 12 Minuten, für die Ernährung 10 Minuten und für die Mobilität 11 Minuten. Das Aufsuchen der Atemtherapie erfolge regelmäßig einmal wöchentlich. Die Fahrt mit dem Auto betrage insgesamt ca. 60 Minuten für die Hin- und Rückfahrt, die Therapiezeit betrage 60 Minuten. Auf Wunsch der Therapeutin sei die Mutter bei den Maßnahmen zeitweise mit anwesend, wozu pro Therapie ein Zeitbedarf von ca. 20 Minuten zu veranschlagen sei, was einen Hilfebedarf im Tagesdurchschnitt von ca. 11 Minuten ergäbe.
Die Pflegemaßnahmen zur Schleim-Elimination hätten sich nicht verändert, seien aber nicht anrechenbar.
Nach Anhörung erließ das Sozialgericht Gerichtsbescheid vom 10.03.2010, mit dem es die Klage abwies. Zur Begründung stützte es sich auf die Ausführungen der Sachverständigen Dr.Sch.
Hiergegen hat der Kläger am 16.04.2010 Berufung eingelegt. Das Gericht habe keine Ausführungen zu einer Änderung der Verhältnisse gemacht.
Der Kläger beantragt, den Bescheid der Beklagten vom 16.02.2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.09.2007 sowie den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 10.03.2010 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie die Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung des Klägers ist zulässig (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG) und begründet.
Der Bescheid vom 16.02.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.09.2007, der wegen wesentlicher Änderung der tatsächlichen Verhältnisse Pflegegeld mit Ablauf des 28.02.2006 versagte, erweist sich als rechtswidrig. Die Voraussetzungen für eine Neufeststellung gemäß § 48 SGB X waren zu diesem Zeitpunkt nicht erfüllt.
Das Klagebegehren stellt sich als Anfechtungsklage gemäß § 54 Abs. 1 SGG dar. Sie ist darauf gerichtet, den Pflegegeld entziehenden Bescheid vom 16.02.2006 zu beseitigen, mit der Folge, dass bei erfolgreicher Anfechtung dann der Leistungsbescheid wieder fortgelten würde. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung einer solchen Anfechtungsklage ist die Sach- und Rechtslage bei Erlass des Verwaltungsaktes bzw. des Widerspruchsbescheides. Eine spätere Änderung der Sach- und Rechtslage ist in der Regel unbeachtlich (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, Kommentar, 9. Aufl., § 54 Rn. 33).
Nach § 48 Abs. 1 SGB X ist, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Dies ist hier zu verneinen. Die Voraussetzungen für eine Neufeststellung gemäß § 48 SGB X waren zu diesem Zeitpunkt (28.02.2006) nicht erfüllt. Um eine wesentliche Änderung der tatsächlichen Pflegeverhältnisse feststellen zu können, muss ein Vergleich angestellt werden zwischen den Befunden, die der Bewilligung von Pflegegeld zugrunde gelegen haben, mit den Verhältnissen, die zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses, also im Februar 2006, vorgelegen haben.
Zur Überzeugung des Senats ist nicht bewiesen, dass sich im Februar 2006 die gesundheitlichen Verhältnisse des Klägers soweit stabilisiert hatten, dass ein Pflegeaufwand bei den Grundverrichtungen nicht mehr im Unfang von mehr als 45 Minuten pro Tag im Wochendurchschnitt gegeben war. Dies entnimmt der Senat dem Gutachten der Frau Dr. Sch. vom 24.11.2009 nach einem Hausbesuch am 03.09.2009 und dem Gutachten des MDK vom 07.02.2006, das der Senat im Wege des Urkundenbeweises verwerten kann. Im Verhältnis zum Vorgutachten vom 24.01.2005 war im Februar 2006 eine wesentliche Besserung des für die Beurteilung von Pflegebedürftigkeit maßgebenden Gesundheitszustandes nicht eingetreten.
Pflegebedürftige können nach § 37 Abs. 1 Satz 1 bis 3 des Elften Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB XI) Pflegegeld erhalten, wenn sie die erforderliche Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung durch eine Pflegeperson in geeigneter Weise sowie dem Umfang des Pflegegeldes entsprechend selbst sicherstellen und mindestens die Pflegestufe I vorliegt.
Nach § 15 Abs. 3 Nr. 1 SGB XI muss der Zeitaufwand für die erforderlichen Hilfeleistungen der Grundpflege täglich mehr als 45 Minuten (Grundpflegebedarf), für solche der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung zusammen mindestens 90 Minuten (Gesamtpflegebedarf) betragen. Unter Grundpflege ist die Hilfe bei gewöhnlichen und wiederkehrenden Verrichtungen im Bereich der Körperpflege, der Ernährung und der Mobilität (§ 14 Abs. 4 Nrn. 1 bis 3 SGB XI), unter hauswirtschaftlicher Versorgung die Hilfe bei der Nahrungsbesorgung und -zubereitung, der Kleiderpflege sowie der Wohnungsreinigung sowie Beheizung (§ 14 Abs. 4 Nr. 4 SGB XI) zu verstehen.
Die zeitlichen Voraussetzungen für Pflegestufe I waren jedenfalls im Februar 2006 gegeben. Insoweit stützt sich der Senat auf das Gutachten der Frau Dr. Sch. vom 24.11.2009. Darin stellte die Sachverständige fest, dass die Angaben des Klägers zu berücksichtigen sind, dass in den letzten Jahren das Atmen kontinuierlich schlechter, der Hustenreiz und die Hustenanfälle häufiger und das Abhusten des Schleims schwerer geworden sind. Demzufolge sind auch die Angaben der Mutter folgerichtig, dass Art und Umfang der häuslichen Hilfeleistungen bei den krankheitsspezifischen Pflegemaßnahmen zugenommen haben.
Eine Besserung der Verhältnisse lässt sich insbesondere auch nicht aus dem Gutachten des MDK vom 07.02.2006 entnehmen. Dieser führt selbst aus, dass eine Verbesserung des Gesundheitszustandes bei der Erkrankung nicht in Betracht gezogen werden kann. Die Änderung besteht nach Ansicht des MDK darin, dass das Überwachen der Inhalation sowie die Maßnahmen der Sekretelimination keiner Grundpflegeverrichtung mehr zuzuordnen sind. Eine Änderung im Sinne des § 48 Abs. 1 SGB X vermag der Senat jedoch nicht zu erkennen.
Hierzu führt die Sachverständige Dr. Sch. in ihrem Gutachten aus, dass die Pflegemaßnahmen morgens vor dem Aufstehen nur mit Unterstützung der Mutter durchgeführt werden können. Hierfür berechnet sie einen Zeitbedarf von etwa 15 bis 20 Minuten.
Hinsichtlich der Berücksichtigung von Maßnahmen zur Reinigung und Freihaltung der Atemwege hat das BSG in seinem Urteil vom 29.04.1999 (Az.: B 3 P 13/98 R) ausgeführt, dass hinsichtlich der Frage, welche krankheitsspezifischen Hilfeleistungen einer Verrichtung der Grundpflege zugeordnet werden können, auch und vor allem auf das Alter des Patienten abzustellen ist. Nach der Rechtsprechung des BSG bestünde der erforderliche Zusammenhang mit der Verrichtung "Aufstehen" nur bei solchen Maßnahmen der Behandlungspflege, die zwischen dem Aufwachen und dem Verlassen des Bettes, spätestens aber unmittelbar nach dem Verlassen des Bettes und vor jeder anderweitigen Tätigkeit durchgeführt werden müssen und nicht insbesondere aus medizinischen Gründen auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden können.
Der MDK hatte in dem Gutachten vom 24.01.2005 festgestellt, dass unter "Aufstehen/Zubettgehen" die manuelle Schleimlösung und Inhalation durch die Mutter mit zu berücksichtigen ist. Er hat einen Zeitbedarf von 12 Minuten angesetzt. Ob diese Einschätzung zutreffend war, ist im Rahmen des § 48 SGB X nicht zu prüfen. Entscheidend im Rahmen der Prüfung des § 48 SGB X ist, ob sich der Pflegebedarf wesentlich geändert hat. Auf kleinere Unterschiede in der Bewertung des Pflegebedarfs kommt es in diesem Zusammenhang nicht an (vgl. Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 14.11.2008; Az.: L 10 P 3/07).
Die Mutter des Klägers hat in der mündlichen Verhandlung vom 01.06.2011 den morgendlichen Ablauf zur Schleimlösung geschildert. Dieser Vorgang hat sich in den letzten 10 Jahren nicht geändert, so dass zusätzlich zu dem von Dr. Sch. festgestellten Zeitbedarf noch der für die manuelle Schleimlösung und Inhalation im Rahmen der Grundpflege zu werten ist. Der Kläger befindet sich damit an der zeitlichen Schnittstelle zum Vorliegen der Pflegestufe I nach § 15 Abs. 3 SGB X. Eine Minderung des Pflegebedarfs im Rahmen einer Leistungsüberprüfung, die ein eventuelles Unterschreiten des erforderlichen Pflegebedarfs (hier "mehr als 45 Minuten") um nur wenige Minuten ergeben hat, stellt für die Pflegekasse in der Regel keinen hinreichenden Grund dar, die Leistung einzustellen (BSGE 95, 57 ff).
Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 10.03.2010 sowie der Bescheid der Beklagten vom 16.02.2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.09.2007 war deshalb aufzuheben, weil eine wesentliche Änderung des Pflegebedarfs nach Ansicht des Senats nicht nachgewiesen ist. Hierfür ist jedoch die Beklagte beweispflichtig.
Die Kostenfolge ergibt sich aus § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG liegen nicht vor.
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