S 14 KR 786/09

Land
Schleswig-Holstein
Sozialgericht
SG Lübeck (SHS)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
14
1. Instanz
SG Lübeck (SHS)
Aktenzeichen
S 14 KR 786/09
Datum
2. Instanz
Schleswig-Holsteinisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Krankenkassen sind verpflichtet, Versicherte, die um eine Beratung bitten und für die grundsätzlich sowohl
eine Familienversicherung als auch eine freiwillige Mitgliedschaft in Betracht kommt, über die Grenzwerte für
die Familienversicherung nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 SGB V zutreffend zu beraten. Dabei bestand auch
schon im April 1998 die Verpflichtung, bei Rentenbezieherinnen auf die anstehende Rechtsänderung
hinsichtlich der Nichtberücksichtigung von KindererziehungsSzeuictehnw
goermteä:ß Art. 5 Nr. 1 des Rentenreformgesetzes 1999 vom 16.12.1997 hinzuweisen.
Die Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 7. Mai 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. August 2009 verurteilt, der Klägerin die von ihr gezahlten freiwilligen Beiträge zur Krankenversicherung für die Zeit vom 1. Juli bis 14. Oktober 1998, vom 1. Januar bis 2. März 1999 und vom 9. April 1999 bis 12. August 2008 abzüglich des von der DRV Bund gezahlten Beitragszuschusses zu erstatten. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Erstattung der von ihr gezahlten freiwilligen Beiträge zur Krankenversicherung für die Zeit vom 1. Juli bis 14. Oktober 1998, vom 1. Januar bis 2. März 1999 und vom 9. April 1999 bis 12. August 2008 abzüglich des Beitragszuschusses, den sie von der DRV Bund erhielt.

Die geborene Klägerin und ihr Ehemann waren bei der Rechtsvorgängerin der Beklagten, der AOK Hamburg, krankenversichert. Ab 1. September 1997 bezog die Klägerin von der Rechtsvorgängerin, der DRV Bund, eine Altersrente in Höhe von damals DM 647. Mit Beginn der Altersrente bis zum 27. Oktober 1997 war sie zunächst über ihren Ehemann bei der AOK Hamburg familienversichert. Vom 28. Oktober 1997 bis 9. Januar 1998 war sie als Aushilfe beschäftigt und bei der AOK Hamburg pflichtversichert. Mitte Januar 1998 besuchte sie zusammen mit ihrem Ehemann die Geschäftsstelle der Beklagten in und wurde dort hinsichtlich ihrer weiteren Krankenversicherung beraten. Vom 9. März bis 30. April 1998 war sie erneut als Aushilfe tätig und pflichtversichert.

Mitte April 1998 wurde die Klägerin in Begleitung ihres Ehemannes erneut in der Geschäftsstelle der Beklagten in über ihre weitere Krankenversicherung beraten. Daraufhin stellte sie ab 1. Mai 1998 einen Antrag auf freiwillige Versicherung und zahlte in der Folgezeit unterbrochen durch versicherungspflichtige Aushilfsbeschäftigungen vom 15. Oktober bis 31. Dezember 1998 und vom 3. März bis 8. April 1999 freiwillige Beiträge an die Beklagte, bzw. deren Rechtsvorgängerin. Der Ehemann der Klägerin wechselte ab 1. Januar 2001 sein Krankenversicherungsverhältnis zur Knappschaft /Seekrankenkasse.

Am 31. März 2009 teilte die Klägerin der Beklagten mit, dass für sie ab 1. Januar 2008 bei der Knappschaft eine Familienversicherung bestehe. Gleichzeitig bat sie um rückwirkende Beendigung ihrer freiwilligen Kranken- und Pflegeversicherung. Bei ihrer Vorsprache in der Regionaldirektion der Beklagten in Hamburg wurde ihr nach Vorlage ihres Rentenbescheides mit ausgewiesenen Kindererziehungszeiten von einer Mitarbeiterin zunächst gesagt, dass für sie eine Familienversicherung nicht in Betracht käme. Erst nach längerer Diskussion und Nachfrage bei einem anderen Mitarbeiter wurde eingeräumt, dass die Möglichkeit zur Familienversicherung bestünde.

Mit Bescheid vom 7. Mai 2009 beendete die Beklagte die freiwillige Versicherung der Klägerin rückwirkend ab 13. August 2008. Dabei legte sie als Zeitpunkt den Eingang der Einkommensnachweise 2008 zugrunde, aus denen sich ergab, dass der Klägerin wegen Unterschreitens der Einkommensgrenzen die Möglichkeit der Familienversicherung offen stand. Die Beklagte erstattete der Klägerin die zuviel geleisteten Beiträge in Höhe von insgesamt EUR 1.057,70.

Gegen diese Entscheidung erhob die Klägerin am 15. Mai 2009 Widerspruch. Sie sei im Jahre 1998 von der Beklagten falsch beraten worden. Deshalb habe die Beklagte ihr auch die von ihr gezahlten Beiträge für die Zeit von 1998 bis August 2008 zu erstatten. Einkommensnachweise habe sie ordnungsgemäß jedes Jahr an die Beklagte übersandt. Diese habe daher schon 1998 erkennen können, dass die Klägerin die Einkommensgrenze für die Familienversicherung unterschritt.

Mit Widerspruchsbescheid vom 31. August 2009 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin als unbegründet zurück. Zum Zeitpunkt der ersten Antragstellung auf freiwillige Versicherung sei die durchgeführte Beratung nicht fehlerhaft gewesen. Damals habe der Monatsbetrag ihrer Rente mit DM 647 den Freibetrag für die Familienversicherung überschritten. Im Übrigen könne die Klägerin zu den Beratungen keine näheren Angaben machen. Es sei daher auch möglich, dass sie den Antrag ohne jede Beratung abgegeben habe. Nach einem Urteil des BSG vom 22. Februar 1972 (3 RK 56/70) bestehe in Fällen wie dem der Klägerin kein Anspruch auf eine Rückzahlung der Beiträge.

Dagegen hat die Klägerin am 30. September 2009 beim Sozialgericht Lübeck Klage erhoben. Zur Begründung wiederholt und vertieft sie ihr bisheriges Vorbringen. Bei der Beratung in der Geschäftsstelle sei sie in Gegenwart ihres Ehemannes eindringlich darauf aufmerksam gemacht worden, dass für sie ausschließlich eine freiwillige Krankenversicherung in Betracht komme. Eine Einkommensgrenze hinsichtlich der Familienversicherung sei ihr nicht genannt worden. Auch der Krankenkassenwechsel ihres Ehemannes im Januar 2001 hätte für die Beklagte Anlass zu einer Beratung sein müssen.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 7. Mai 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. August 2009 zu verurteilen, der Klägerin die von ihr gezahlten freiwilligen Beiträge zur Krankenversicherung für die Zeit vom 1. Juli bis 14. Oktober 1998, vom 1. Januar bis 2. März 1999 und vom 9. April 1999 bis 12. August 2008 abzüglich des von der DRV Bund gezahlten Beitragszuschusses zu erstatten.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die von der Klägerin jährlich überreichten Einkommensnachweise seien kein Anlass für ein Beratungsgespräch gewesen. Es stehe der Beklagten nicht zu, die familiären Verhältnisse der Klägerin auszuforschen. Eine Beratungspflicht zum Zeitpunkt des Krankenkassenwechsels des Ehemannes der Klägerin habe allenfalls der neuen Krankenkasse oblegen.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch uneidliche Vernehmung des Zeugen. Hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Sitzungsprotokoll vom 31. März 2011 Bezug genommen. Das Gericht hat die Verwaltungsakte der Beklagten beigezogen und zusammen mit der Prozessakte zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig und begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 7. Mai 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. August 2009 ist rechtswidrig soweit er von der Klägerin angefochten wurde und verletzt die Klägerin daher insoweit in ihren Rechten. Die Beklagte hat der Klägerin die von ihr gezahlten freiwilligen Beiträge zur Krankenversicherung auch für die Zeit vom 1. Juli bis 14. Oktober 1998, vom 1. Januar bis 2. März 1999 und vom 9. April 1999 bis 12. August 2008 abzüglich des von der DRV Bund gezahlten Beitragszuschusses zu erstatten. Denn sie ist im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruches verpflichtet, die Klägerin so zu behandeln, als sei sie auch in den streitigen Zeiträumen familienversichert und nicht freiwilliges Mitglied gewesen.

Ein solcher Herstellungsanspruch setzt nach den allgemeinen richterrechtlichen Grundsätzen voraus, dass dem Versicherten durch eine dem zuständigen Sozialleistungsträger zuzurechnende Pflichtverletzung ein sozialrechtlicher Nachteil oder Schaden entstanden ist, und dass dieser Nachteil durch rechtmäßiges Verwaltungshandeln wieder beseitigt werden kann (vgl. BSG 6. Nov. 2008 – B 1 KR 8/08 R, USK 2008-128; BSG 28. Sep. 2010 – B 1 KR 31/09 R, USK 2010-59). Diese Voraussetzungen liegen vor.

Die Rechtsvorgängerin der Beklagten beging eine der Beklagten zurechenbare Pflichtverletzung, indem sie die Klägerin bei ihrem Besuch in der Geschäftsstelle der in Mitte April 1998 nicht bzw. nicht ausreichend über die Möglichkeiten der Familienversicherung beriet. Gemäß § 14 Satz 1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) hat jeder Anspruch auf Beratung über seine Rechte und Pflichten nach dem SGB. Der Leistungsträger muss über tatsächliche Umstände genauso wie über die Rechtslage informieren (vgl. Seewald in Kasseler Kommentar, Sozialversicherungsrecht, 1 § 14 SGB I, Rn. 22). Er muss auch über ausdrücklich gestellte Fragen hinaus über Möglichkeiten informieren, wenn sie sich offensichtlich als zweckmäßig aufdrängen und von jedem verständigen Versicherten hätten genutzt werden können (vgl. Seewald, a. a. O., Rn. 26).

Vorliegend war die Beklagte bei den Beratungsgesprächen Mitte Januar und Mitte April 1998 dazu verpflichtet, die Klägerin über die Möglichkeiten der freiwilligen und die Voraussetzungen für eine Familienversicherung umfassend zu beraten. Dazu war auch erforderlich, die Klägerin über den Einkommensgrenzwert für eine Familienversicherung in Höhe von damals DM 620 zu informieren. Ob dies geschehen ist, ist zwischen den Beteiligten streitig und konnte in der Beweisaufnahme nicht endgültig zur Überzeugung der Kammer aufgeklärt werden. Letztlich kommt es darauf aber nicht an. Denn zu Beginn des Jahres 1998 erfüllte die Klägerin mit einer Rentenhöhe von DM 649 diesen Grenzwert nicht und hatte daher nach der damaligen Rechtslage keine Möglichkeit der Aufnahme in die Familienversicherung. Ein Schaden wäre ihr daher durch diese mögliche Falschberatung nicht entstanden.

Allerdings war die Beklagte auch verpflichtet, die Klägerin bereits Mitte April 1998 über die zum 1. Juli 1998 anstehende Rechtsänderung hinsichtlich des Grenzwertes für die Familienversicherung zu beraten. Denn bereits durch Art. 5 Nr. 1 des Rentenreformgesetzes 1999 vom 16. Dezember 1997 erfolgte zum 1. Juli 1998 eine Änderung des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 SGB V, wonach bei den Renten nur der Zahlbetrag ohne den auf die Entgeltpunkte für Kindererziehungszeiten entfallenden Teil berücksichtigt wird. Aus diesem Grund weisen die Rentenversicherungsträger seit dieser Zeit den auf Entgeltpunkten für Kindererziehungszeiten entfallenden Teil des Zahlbetrages der Rente gesondert aus. Die Klägerin hätte also bei entsprechender Beratung durch die Beklagte im April 1998 bei Erhalt ihres Rentenbescheides für die Zeit ab 1. Juli 1998 ohne Schwierigkeiten erkennen können, dass sie nunmehr die Voraussetzungen für eine Familienversicherung erfüllte.

Zwar ist die Beratungspflicht grundsätzlich gegenwartsbezogen, d. h. ihr ist die Rechts- und Sachlage im Zeitpunkt der Beratung zugrunde zu legen (vgl. Baier in Krauskopf, Soz. Krankenversicherung Pflegeversicherung, 1 SGB I § 14 Rn. 4). Jedoch ist auf bekannte und erkennbare Entwicklungen hinzuweisen, damit der Beratene seine Rechte sachgerecht gestalten kann (Baier, a. a. O.). Damit unterfiel die unmittelbar bevorstehende und schon seit mehreren Monaten bekannte Rechtsänderung betreffend der Grenzwerte für die Familienversicherung der Beratungspflicht in dem zwischen der Klägerin und Mitarbeitern der Mitte April 1998 geführten Gespräch. Denn bei einer weiblichen Versicherten im Alter der Klägerin lag es nahe, dass ihre Rente auch Entgeltpunkte für Kindererziehungszeiten enthielt. Und angesichts der Tatsache, dass die Rente der Klägerin inklusive eines Zahlbetrages für Kindererziehungszeiten den Grenzbetrag für die Familienversicherung lediglich um DM 29 überschritt, war es auch naheliegend, die Klägerin darüber aufzuklären, dass zumindest ab 1. Juli 1998 eine erneute Überprüfung der Möglichkeit zur Familienversicherung vorgenommen werden sollte. Bei richtiger Beratung hätte die Klägerin sich auch schon im April 1998 bei ihren Rentenversicherungsträger nach dem auf die Kindererziehungszeiten entfallenden Zahlbetrag ihrer Rente erkundigen und dann die freiwillige Versicherung zum 30. Juni 1998 beenden können.

Nach alledem ist von einem Beratungsfehler durch die Beklagte auszugehen, da kein Gesichtspunkt erkennbar ist, nach dem es für die Klägerin in irgendeiner Weise sinnvoll gewesen wäre, nach dem 1. Juli 1998 noch die freiwillige Versicherung mit der Verpflichtung zur Zahlung von Beiträgen statt der beitragsfreien Familienversicherung zu wählen. Die Tatsache, dass die Klägerin erst im Jahre 2009 und nicht bereits zum 1. Juli 1998 ihre freiwillige Versicherung bei der Beklagten beendete und in die Familienversicherung überwechselte, lässt sich nur damit erklären, dass sie von der im April 1998 unzulänglich beraten wurde. Die Beweisaufnahme hat insoweit zur Überzeugung der Kammer ergeben, dass der Klägerin und ihrem Ehemann, dem Zeugen , bei dem Beratungsgespräch in der Geschäftsstelle keine Auskunft darüber gegeben wurde, dass sich die Berechnung des Grenzwertes für die Familienversicherung zum 1. Juli 1998 ändern wird und dann für die Klägerin die Aufnahme in die Familienversicherung möglich war. Dies wird von Seiten der Beklagten auch nicht ernstlich bestritten. Denn noch bei der Vorsprache der Klägerin im Jahre 2009 konnte von der zuständigen Mitarbeiterin der Beklagten adhoc eine entsprechende Beratung nicht geleistet werden. Vielmehr wurde der Klägerin noch mehr als zehn Jahre nach der Rechtsänderung erklärt, ihre Rente liege über dem Grenzwert für die Familienversicherung und Kindererziehungszeiten seien dabei schon berücksichtigt.

Die Pflichtverletzung der Beklagten war auch die alleinige Ursache für die ausgleichsbedürftige Situation, den sozialrechtlichen Schaden (vgl. Seewald, a. a. O., Rn. 38, m. w. N. ). Sowohl die Klägerin als auch der Zeuge haben übereinstimmend ausgesagt, dass die Klägerin bei richtiger Beratung eine erneute Überprüfung und einen Wechsel in die Familienversicherung zum 1. Juli 1998 vorgenommen hätte. Da sie dann in Kenntnis über das Vorliegen der Voraussetzungen der Familienversicherung gewesen wäre, ist sicher davon auszugehen, dass sie sich auch nach kurzzeitigen Aushilfstätigkeiten am 1. Januar und am 9. April 1999 wieder familienversichert hätte. Denn wie bereits dargestellt wäre eine freiwillige Versicherung aufgrund der erforderlichen Beitragszahlungen für sie gegenüber einer Familienversicherung immer nachteilig gewesen.

Damit hat die Beklagte der Klägerin die Rechtsposition einzuräumen, die sie gehabt hätte, wenn von Anfang an ordnungsgemäß verfahren worden wäre. Da die Beklagte somit die Klägerin so zu stellen hat, als ob eine freiwillige Versicherung nicht bestanden hätte, ist sie auch verpflichtet nach § 26 Abs. 2 SGB IV die zu Unrecht entrichteten Beiträge zu erstatten. Dem steht nicht entgegen, dass die Beklagte für den der Erstattung zugrunde liegenden Zeitraum bereits Leistungen erbracht hat. Denn es handelt sich dabei um Beiträge, die unter Berücksichtigung des Herstellungsanspruches aufgrund einer Fehlversicherung erhoben wurden (LSG Berlin-Brandenburg 24. Februar 2006 – L 1 KR 20/04). Abzuziehen ist allerdings der Betrag der von der DRV Bund geleisteten Beitragszuschüsse, denn insoweit ist der Klägerin kein Schaden entstanden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz.

Richterin am Sozialgericht
Rechtskraft
Aus
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