S 6 AY 70/09

Land
Hamburg
Sozialgericht
SG Hamburg (HAM)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
6
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 6 AY 70/09
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 23.07.2009 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 10.11.2009 zu verurteilen, die den Zeitraum seit dem 01.01.2005 betreffenden Leistungsbewilligungen dahingehend abzuändern, dass den Klägern Leistungen in Anwendung des Zwölftes Buches Sozialgesetzbuch nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften und unter Anrechnung bereits erbrachter Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz gezahlt werden. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Kläger zu erstatten.

Tatbestand:

Die Kläger begehren im Überprüfungsverfahren Analogleistungen für die Zeit ab dem 01.01.2005.

Die am XXXXX 1961 geborene Klägerin zu 1 ist montenegrinische Staatsangehörige. Sie reiste im Jahr 1992 mit dem Kläger zu 2 und der Klägerin zu 3 – ihren Kindern – in das Bundesgebiet ein. Die Klägerin zu 4 und der Kläger zu 5 – weitere Kinder der Klägerin zu 1 – kamen in Deutschland zur Welt. Ein weiteres Kind der Klägerin zu 1 (geb. 13.05.2004), für das ein deutscher Staatsangehöriger die Vaterschaft anerkannt hat, ist am vorliegenden Verfahren nicht beteiligt.

Ein Asylantrag der Klägerin zu 1 wurde mit Bescheid vom 22.10.1992 abgelehnt, die Entscheidung war seit dem 28.10.1993 bestandskräftig und seit dem 28.11.1993 vollziehbar. Am 18.01.1994 wurde eine Duldung erteilt. Eine für den 13.08.2003 geplante Abschiebung wurde nicht durchgeführt, nachdem die Klägerin zu 1 am selben Tag einen sog. Asylfolgeantrag gestellt hatte. Dieser Antrag wurde mit Bescheid vom 04.03.2004 abgelehnt, eine spätere Klage vor dem Verwaltungsgericht zurückgenommen. Am 20.07.2004 wurde erneut eine Duldung erteilt. Einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis lehnte die zuständige Behörde mit Bescheid vom 06.10.2008 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 16.03.2009 ab.

Den am 22.07.2009 gestellten Antrag auf rückwirkende Analogleistungen lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 23.07.2009 mit der Begründung ab, ausweislich einer Mitteilung der Ausländerbehörde aus September 2007 sei eine freiwillige Ausreise jederzeit möglich. Dass die Kläger jedoch trotzdem nicht freiwillig ausreisten, werde als rechtsmissbräuchliche Herbeiführung der Aufenthaltsdauer gewertet.

Ihren am 03.08.2009 erhobenen Widerspruch begründeten die Kläger damit, sie seien seit langem in Deutschland integriert und eine Ausreise käme einer Auswanderung gleich. Angesichts dessen hätten sie bereits seit dem 01.01.2005 Anspruch auf Analogleistungen.

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Bescheid vom 10.11.2009 zurück und führte aus, die Kläger hätten die Abschiebung im Jahr 2003 durch Stellung eines Asylfolgeantrags durchkreuzt. Dieses Verhalten gehe erheblich über die Ausschöpfung etwaiger Rechtsbehelfe gegen die Abschiebung hinaus, zumal der Asylfolgeantrag offensichtlich ohne Erfolgsaussichten gewesen sei. Auch der Gesetzgeber spreche über solche Fallkonstellationen "ein gewisses Unwerturteil" aus, indem er den Antrag einem unbeachtlichen oder offensichtlich unbegründeten Asylantrag gleichstelle.

Hiergegen richtet sich die am 14.12.2009 erhobene Klage.

Die Kläger führen ergänzend aus, neben dem Asylfolgeantrag der Klägerin zu 1 hätten im August 2003 auch die übrigen Kläger erstmalige Asylanträge gestellt. Im Übrigen habe es seither auch keinerlei Bemühungen der Ausländerbehörde um eine Beendigung des Aufenthalts gegeben.

Die Kläger beantragen,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 23.07.2009 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 10.11.2009 zu verurteilen, die den Zeitraum seit dem 01.01.2005 betreffenden Leistungsbewilligungen dahingehend abzuändern, dass ihnen Leistungen in Anwendung des Zwölftes Buches Sozialgesetzbuch nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften und unter Anrechnung bereits erbrachter Grundleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz gezahlt werden.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie bleibt bei ihrer Auffassung.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze und die übrige Verwaltungsakte sowie die beigezogene Verwaltungsakte verwiesen, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig und begründet.

Die Klage ist zulässig und insbesondere fristgerecht erhoben. Auch wenn der Widerspruchsbescheid dem Prozessbevollmächtigten der Kläger bereits am 12.12.2009 zugegangen ist, galt er nach § 37 Abs. 2 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) als am 13.11.2009 zugegangen, wie sich aus Satz 2 der Vorschrift ergibt. Die Klagefrist endete erst mit Ablauf des 14.12.2009, da der 13.12.2009 auf einen Sonntag fiel, §§ 87 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2, 64 Abs. 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Die Klage ist auch begründet. Die angegriffenen Entscheidungen sind rechtswidrig i.S.d. § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG. Die Kläger haben Anspruch auf Überprüfung der (offenbar konkludenten) Entscheidungen bezüglich des Zeitraums seit dem 01.01.2005 und Nachzahlung von Analogleistungen unter Anrechnung der bereits erbrachten Leistungen.

Nach § 44 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass des Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt worden ist und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind.

Die Voraussetzungen der Vorschrift sind erfüllt.

Zunächst steht es einer Überprüfung nach § 44 Abs. 1 SGB X nicht entgegen, dass die Beklagte die Leistungen offenbar weitgehend nicht auf der Grundlage schriftlicher Bescheide gewährt hat. Es kann dahinstehen, ob im Handeln der Beklagten insoweit eine konkludente Bescheidung zu sehen ist. Jedenfalls kann es dem Leistungsberechtigten bei der Prüfung von § 44 SGB X nicht zum Nachteil gereichen, wenn der Leistungsträger seine Anträge nicht schriftlich beschieden hat. Ebenso wenig steht es einer Überprüfung entgegen, dass sich ein im Jahr 2007 gestellter Antrag auf Analogleistungen für die Zukunft offenbar noch im Stadium des Widerspruchsverfahrens befindet. § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X spricht ausdrücklich davon, dass ein Verwaltungsakt "auch nachdem er unanfechtbar geworden ist" zurückzunehmen ist. Eine Beschränkung auf die Überprüfung bereits bestandskräftiger Bescheide lässt sich hieraus nicht entnehmen.

Die Beklagte hat durch die Beschränkung des Leistungsumfangs auf sog. Grundleistungen nach § 3 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) ab dem 01.01.2005 das Recht unrichtig angewandt. Eine unrichtige Rechtsanwendung i.S.d. § 44 Abs. 1 Satz 1 1. Alt SGB X liegt vor, wenn der fraglichen Bescheid an einem Fehler rechtlicher Art leidet, d.h. wenn der unzutreffende Tenor des Bescheides (und somit das Ergebnis der behördlichen Prüfung) seine Ursache in demjenigen Teil der Subsumtion hat, in dem die rechtlichen Vorgaben der Entscheidung ausfindig gemacht werden, also bei der Definition, Begriffsbestimmung oder Auslegung eines gesetzlichen Merkmals (SG Aachen, Urteil vom 16.12.2009, S 8 U 69/09, juris).

Im vorliegenden Fall hat die Beklagte – unter Zugrundelegung einer inzwischen gefestigten höchstrichterlichen Rechtsprechung – das (negative) Tatbestandsmerkmal der rechtsmissbräuchlichen Beeinflussung der Aufenthaltsdauer i.S.d. § 2 Abs. 1 AsylbLG unrichtig ausgelegt und deswegen keine sog. Analogleistungen erbracht.

Nach § 2 Abs. 1 AsylbLG ist das Zwölfte Buch Sozialgesetzbuch – Sozialhilfe – (SGB XII) abweichend von den §§ 3 bis 7 AsylbLG auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die über eine Dauer von insgesamt 48 Monaten Leistungen nach § 3 AsylbLG erhalten haben und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben. Minderjährige Kinder, die mit ihren Eltern oder einem Elternteil in einer Haushaltsgemeinschaft leben, erhalten Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG nur, wenn mindestens ein Elternteil in der Haushaltsgemeinschaft Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG erhält, § 2 Abs. 3 AsylbLG.

Dass die Kläger am 01.01.2005 seit mehr als 48 Monaten im Bezug von Leistungen nach § 3 AsylbLG gestanden haben, ist zwischen den Beteiligten nicht streitig. Es lag weiterhin auch keine rechtsmissbräuchlichen Beeinflussung der Aufenthaltsdauer i.S.d. § 2 Abs. 1 AsylbLG vor.

Ein rechtsmissbräuchliches Verhalten liegt nach der neueren Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (ausführlich BSG, Urteil vom 17.06.2008, B 8/9b AY 1/07 R, SozR 4-3520 § 2 Nr. 2) nicht schon darin, dass ein Leistungsempfänger trotz des auf Grund der Duldung bestehenden Abschiebeverbots nicht freiwillig ausreist und hierfür kein anerkennenswerter Grund vorliegt. Ein bloßes Verbleiben und auch die Stellung eines Asyl- bzw. Asylfolgeantrags rechtfertigen den Vorwurf des Rechtsmissbrauchs nicht (BSG, Urteil vom 02.02.2010, B 8 AY 1/08 R, Rn. 12).

Vor diesem Hintergrund erscheinen die am Tag der beabsichtigten Abschiebung gestellten Asylanträge der Kläger zu 2 bis 5 und der Asylfolgeantrag der Klägerin zu 1 weder generell noch unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalles als rechtsmissbräuchlich. Soweit die Beklagte aus dem (auf das Vorliegen von Gründen für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens i.S.d. § 51 Abs. 1 bis 3 des Verwaltungsverfahrensgesetzes, VwVfG) beschränkten Prüfungsrahmen bei Asylfolgeanträgen (§ 71 Abs. 1 Asylverfahrensgesetz, AsylVfG) und insbesondere aus der Verweisung auf die Modalitäten der Aufenthaltsbeendigung in den Fällen unbeachtlicher oder offensichtlich unbegründeter Asylanträge (§ 71 Abs. 4 AsylVfG i.V.m. § 36 AsylVfG) auf ein "besonderes Unwerturteil" seitens des Gesetzgebers schließt, das zugleich auch die Rechtsmissbräuchlichkeit i.S.d. § 2 Abs. 1 AsylbLG begründen soll, folgt die Kammer dem nicht. Einem Gebrauchmachen vom gesetzlich eröffneten Rechtsschutz durch Stellung eines Asylfolgeantrags ist ebenso wenig ein – wie auch immer gearteter – Unwert inhärent wie jedem anderen Verfahren, in dem die Abänderung einer bereits getroffenen und insbesondere bestandskräftigen Entscheidung begehrt wird (Wiederaufnahmeverfahren, Antrag nach § 44 SGB X, Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand etc). Die alleinige Tatsache, dass der Gesetzgeber besonders hohe Anforderungen an eine bestimmte Rechtsschutzmöglichkeit stellt, hat mit einem eventuellen Rechtsmissbrauch durch Gebrauchmachen hiervon nichts zu tun. Dies gilt – gerade angesichts der subjektiven Komponente, die dem Tatbestandsmerkmal der Rechtsmissbräuchlichkeit innewohnt – umso mehr, als dem Rechtssuchenden derartige Unterschiede zwischen gewöhnlichen und außergewöhnlichen Möglichkeiten des Rechtsschutzes regelmäßig nicht bewusst sind – auch nicht im Rahmen der sog. Parallelwertung in der Laiensphäre.

Auch in der Tatsache, dass infolge der Stellung des Asylfolgeantrags das zuvor von der Ausländerbehörde beschaffte Passersatzpapier nicht mehr für eine spätere Abschiebung genutzt werden konnte, liegt kein rechtsmissbräuchliches Verhalten der Kläger. Hierbei handelt es sich um eine Nebenfolge des Asylfolgeantrags, die insbesondere einer Weigerung der Kläger, bei der Beschaffung eines Passes mitzuwirken, nicht gleichgesetzt werden kann. Weitere Anhaltspunkte für ein rechtsmissbräuchliches Verhalten sind weder dargetan noch ersichtlich.

Einer Überprüfung der Leistungsbewilligungen steht auch nicht entgegen, dass sie seinerzeit (d.h. insbesondere vor dem Urteil des BSG vom 17.06.2008, B 8/9b AY 1/07 R) der "geltenden" höchstrichterlichen Rechtsprechung entsprochen haben. Grundsätzlich gilt, dass ein Verwaltungsakt auch dann der Rücknahme nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X unterliegt, wenn er zum Zeitpunkt seines Erlasses in Einklang mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung steht, sich diese Rechtsprechung jedoch später ändert (vgl. nur BSG, Urteil vom 25.10.1984, 11 RAz 3/83, SozR 1300 § 44 Nr. 13). Insbesondere führt die Tatsache, dass ein Anspruch auf Analogleistungen "erst" unter Zugrundelegung dieser geänderten höchstrichterlichen Rechtsprechung bestanden hat, nicht etwa dazu, dass der Anspruch auch erst ab dieser Änderung der Rechtsprechung (d.h. frühestens ab Verkündung des die Rechtsprechung ändernden Urteils) bestünde. Nach gefestigter Rechtsprechung des BSG wirkt eine Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung dann in die Vergangenheit zurück, wenn sie nicht "lediglich" auf einer geänderten rechtlichen Grundlage oder auf veränderten sozialen, soziologischen oder wirtschaftlichen Gegebenheiten und Anschauungen beruht, sondern wenn sie bei gleichbleibender Rechtslage und gleichbleibenden tatsächlichen Gegebenheiten der Erkenntnis Rechnung trägt, dass die bisherige Auslegung der Vorschrift im wertungsfrei technischen Sinne "unrichtig" gewesen ist (ausführlich BSG, Urteil vom 30.10.1985, 1 RJ 2/84, SozR 1300 § 44 Nr. 16; weiter BSG, Urteil vom 28.04.1999, B 9 V 16/98 R; Merten, in: Hauck/Noftz, SGB, § 48 SGB X, Rn. 90). Die Aufgabe der bisherigen Auslegung des negativen Tatbestandsmerkmals der Rechtsmissbräuchlichkeit durch die Urteile des 8. BSG-Senats vom 17.06.2008 gehört zu letzterer Fallgruppe, denn das BSG hat in seiner Entscheidung im Verfahren B 8/9b AY 1/07 R die bisher praktizierte Auslegung dieses Begriffs auf nicht weniger als acht Randnummern (Rn. 31 bis 38) unter systematischen, historischen und teleologischen Gesichtspunkten verworfen.

Weiterhin ist eine Überprüfung auch nicht etwa deswegen ausgeschlossen, weil alle sozialhilferechtlich relevanten Bedarfe der Kläger bereits entweder durch die Grundleistungen nach § 3 ff. AsylbLG abgegolten oder aus anderen tatsächlichen Gründen entfallen wären. Anhaltspunkte hierfür sind weder dargetan noch ersichtlich.

Der von der Abänderung im Überprüfungswege erfasste Zeitraum ergibt sich aus § 44 Abs. 4 Satz und 1 und 2 i.V.m. Satz 3 SGB X. Da der Überprüfungsantrag im Jahr 2009 gestellt wurde, beginnt der Zeitraum am 01.01.2005.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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