S 6 AY 67/09

Land
Hamburg
Sozialgericht
SG Hamburg (HAM)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
6
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 6 AY 67/09
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 29.07.2009 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 22.10.2009 verurteilt, den Antrag des Klägers unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden. Die Rechtsauffassung des Gerichts lautet: Der Kläger hat dem Grunde nach Anspruch auf Übernahme unabwendbarer Kosten, die bei der Klärung seiner Staatsangehörigkeit und bei der Beschaffung eines Ausweispapiers seines Heimatsstaates entstehen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt zuletzt noch die Kosten für die Beschaffung eines rumänischen Ausweispapiers.

Der am XXXXX1996 geborene Kläger ist ungeklärter Staatsangehörigkeit. Seine Mutter ist rumänische Staatsangehörige, sein Vater türkischer Staatsangehöriger.

Am 15.07.2009 beantragte der Kläger, der Grundleistungen nach § 3 des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) bezieht, die Übernahme der Kosten für die Beschaffung eines rumänischen Ausweispapiers i.H.v. 169,50 Euro (100.- Euro Gebühren für die Ausstellung einer rumänischen Geburtsurkunde, Apostille 9,50 Euro, Gebühren für die Ausstellung eines Reisepasses 60.- Euro). Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 29.07.2009 mit der Begründung ab, eine Übernahme der Kosten aufgrund des AsylbLG komme nur in Betracht, wenn der Kläger beabsichtige, die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen. Seinen am 10.08.2009 erhobenen Widerspruch begründete der Kläger – unter Erweiterung des Antrags auch auf Reisekosten – damit, er sei trotz Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis auf ein Ausweispapier angewiesen, um seinen Aufenthalt fortlaufend sicherstellen zu können. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Bescheid vom 22.10.2009 zurück. Sie führte aus, der Ausweispflicht sei mit der inzwischen ausgestellten Aufenthaltserlaubnis Genüge getan. Auch wenn dies nur eine "Notlösung" darstelle, bestehe dennoch kein akuter Bedarf. Im Übrigen sei am 05.05.2009 rückwirkend Kindergeld i.H.v. 3.890.- Euro (für den Zeitraum April 2007 bis April 2009) an die Pflegemutter des Klägers gezahlt worden. Aus dieser Nachzahlung, die "zielgerichtet" zur Deckung des Hilfebedarfs des Klägers habe verwendet werden müssen, seien auch die Kosten der Beschaffung eines Ausweispapies zu decken gewesen.

Hiergegen richtet sich die am 27.11.2009 erhobene Klage.

Der Kläger führt aus, bei Übernahme der Pflegschaft (durch seinen jetzigen Prozessbevollmächtigten) im November 2008 habe er noch nicht über ein gültiges Ausweispapier verfügt. Eine bereits im Juni 2008 erfolgte Nachfrage bei der rumänischen Botschaft habe im April 2009 das Ergebnis erbracht, dass ein rumänischer Reisepass nach Vorlage einer (rumänischen) Geburtsurkunde ausgestellt werden könne. Zwischenzeitlich sei eine Fiktionsbescheinigung beantragt worden. Seit dem 30.07.2009 verfüge der Kläger über eine Aufenthaltserlaubnis. Das Kindergeld werde lediglich auf den pauschalierten Lebensunterhalt des Klägers angerechnet und enthalte nicht auch die Kosten für die Beschaffung eines Reisepasses.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 29.07.2009 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 22.10.2009 zu verurteilen, die Kosten für die Erlangung eines rumänischen Ausweispapiers zu übernehmen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie führt aus, das AsylbLG gewähre keine Beihilfen zur Erfüllung von Mitwirkungspflichten, die ihren Grund in anderen Gesetzen hätten. Zudem sei der Aufenthalt des Klägers hinreichend gesichert: Er sei Inhaber einer nach Maßgabe von § 25 Abs. 5 des Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz, AufenthG) erteilten Aufenthaltserlaubnis in Gestalt der sog. Kinderbleiberechtsregelung, die eine weitere Verlängerung des Aufenthaltstitels vorsehe und ggf. in die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 AufenthG münden könne. Mit der Aufenthaltserlaubnis könne der Kläger auch seine pass- und ausweisrechtlichen Pflichten erfüllen, wie sich aus den §§ 3, 48 Abs. 2 AufenthG ergebe. Weiterhin sei nicht geklärt, ob der Kläger überhaupt rumänischer Staatsangehöriger sei und sich sein Wunsch nach einem rumänischen Ausweispapier somit überhaupt realisieren lasse.

Der Kläger repliziert hierauf, ein rumänisches Ausweispapier würde dergestalt zu einer erheblichen Verbesserung der Leistungssituation führen, dass es ihm einen Anspruch auf Sozialhilfeleistungen anstelle der Leistungen nach dem AsylbLG eröffne. Eine Klärung der Staatsangehörigkeit lasse sich durch gemeinsames Vorsprechen mit seiner (derzeit in Deutschland lebenden) Mutter bei der rumänischen Botschaft in Berlin erreichen.

Zu den weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze und die übrige Prozessakte sowie die beigezogene Verwaltungsakte verwiesen, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht konnte trotz Ausbleibens des Klägers im Termin zur mündlichen Verhandlung entscheiden, da die Beklagte auf die Folgen ihres Ausbleibens hingewiesen worden ist, § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Die zulässige Klage ist im Sinne einer Verurteilung der Beklagten zur erneuten Entscheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts begründet. Im Übrigen ist sie unbegründet. Die angefochtenen Entscheidungen sind rechtswidrig i.S.d. § 54 Abs. 2 Satz 1 und 2 SGG. Der Kläger hat dem Grunde nach Anspruch auf Übernahme unabwendbarer Kosten, die bei der Klärung seiner Staatsangehörigkeit und bei der Beschaffung eines Ausweispapiers seines Heimatsstaates entstehen (dazu I). Hinsichtlich Art und Höhe der Leistung hat die Beklagte ihr Ermessen auszuüben (dazu II).

I.) Der Kläger hat dem Grunde nach gem. § 6 Abs. 1 AsylbLG Anspruch auf Übernahme unabwendbarer Kosten, die bei der Klärung seiner Staatsangehörigkeit und bei der Beschaffung eines Ausweispapiers seines Heimatsstaates entstehen (dazu unter 1); das insoweit bestehende Entschließungsermessen der Beklagten ist reduziert (dazu unter 2).

1.) a) Nach § 6 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG können sonstige Leistungen insbesondere gewährt werden, wenn sie im Einzelfall zur Sicherung des Lebensunterhalts oder der Gesundheit unerlässlich, zur Deckung besonderer Bedürfnisse von Kindern geboten oder zur Erfüllung einer verwaltungsrechtlichen Mitwirkungspflicht erforderlich sind. Die Aufzählung ist – wie sich bereits aus dem Wortlaut der Vorschrift ergibt ("insbesondere") – nicht abschließend (vgl. auch Wahrendorf, in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, 3. Aufl., 2010, § 6 AsylbLG, Rn. 16). Die Leistungen sind grundsätzlich als Sachleistungen, bei Vorliegen besonderer Umstände auch als Geldleistung zu gewähren, § 6 Abs. 1 Satz 2 AsylbLG.

b) Kosten bei der Klärung der Frage, welches die Staatsangehörigkeit des Klägers ist, sind dem Grunde nach gem. § 6 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG zu übernehmen. Unabhängig von Reichweite des Tatbestandsmerkmals der Erfüllung einer verwaltungsrechtlichen Mitwirkungspflicht (das allerdings erheblich weiter auszulegen ist als Beklagte annimmt, vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 10.03.2008, L 20 AY 16/07, InfAuslR 2008, 320 ff) und unabhängig von einer möglichen Verbesserung der Leistungssituation des Betroffenen (die u.U. auch im Wege des § 2 Abs. 1 AsylbLG erreicht werden könnte) hat jeder Mensch ein elementares und schutzwürdiges Interesse daran, dass seine Staatsangehörigkeit geklärt wird. Diese Frage geht weit über den aufenthaltsrechtlichen Status eines Menschen (einschließlich seiner sozialrechtlichen Konsequenzen) hinaus und betrifft jeden Menschen gleichsam in seiner rechtlichen Identität. Von ihr sind elementare Lebensfragen wie Ausbildung und Berufsübung, Ehe und Familie und politische Partizipation abhängig. Ein staatenloser Mensch (oder auch ein Mensch ungeklärter Staatsangehörigkeit) befindet sich auch dann in einer Art rechtlichem Limbus, wenn er über eine Niederlassungserlaubnis verfügt und sein Lebensunterhalt gesichert ist. Er ist somit zumindest genauso stark von seinem unklaren Status betroffen wie ein Leistungsberechtigter mit geklärter Nationalität, der "nur" ein gültiges Ausweispapier benötigt.

c) Die Beklagte kann sich auch nicht darauf berufen, der nach § 6 Abs. 1 AsylbLG anerkennenswerte Bedarf sei aus der Nachzahlung von Kindergeld zu decken gewesen.

aa) Kindergeldberechtigt sind nicht die Kinder, "für" die das Kindergeld gezahlt wird (vgl. § 1 Abs. 1 Bundeskindergeldgesetz, BKGG, bzw § 62 des Einkommensteuergesetzes, EStG), sondern – abgesehen von den Fallkonstellationen des § 1 Abs. 2 BKGG, von denen im vorliegenden Fall keine verwirklicht scheint – die Eltern. Im Recht der steuerfinanzierten bedürftigkeitsabhängigen Sozialleistungen ist das Kindergeld grundsätzlich als Einnahme desjenigen anzusehen, an den es als Leistungsberechtigten ausgezahlt wird (BSG, Urteil vom 16.01.2007, B 8/9b SO 8/06 R, SozR 4-1300 § 44 Nr. 11). Zwar sehen das Sozialhilferecht (§ 82 Abs. 1 Satz 3 Sozialgesetzbuch – Zwölftes Buch – Sozialhilfe, SGB XII) und das Recht der Grundsicherung für Arbeitsuchende (§ 11 Abs. 1 Satz 3 Sozialgesetzbuch – Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende, SGB II) unter bestimmten Voraussetzungen entgegen der gesetzgeberischen Zweckbestimmung im Kindergeldrecht auch die Anrechnung des Kindergelds bei einem Dritten (nämlich dem Kind) vor, jedoch fehlt es an einer solchen Vorschrift im AsylbLG. Eine analoge Anwendung auch auf die Empfänger von Grundleistungen nach § 3 AsylbLG ist angesichts der Verschiedenheit der Leistungssysteme gerade nicht möglich.

bb) Auch eine Anrechnung i.w.S. im Wege der Obliegenheit, das Einkommens von Familienangehörigen aufzubrauchen (§ 7 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG) scheidet aus, denn die Pflegemutter des Klägers ist weder in dieser Eigenschaft noch in ihrer Eigenschaft als dessen leibliche Tante Familienangehörige des Klägers im Sinne der Vorschrift. Das Tatbestandsmerkmal der Familienangehörigkeit i.S.d. § 7 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG setzt entweder eine Ehe (oder eine eheähnliche Lebenspartnerschaft), eine Verwandtschaft in gerade Linie (§ 1589 Satz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches, BGB) bzw. eine entsprechende Schwägerschaft (§ 1590 BGB) oder aber ein entsprechendes tatsächliches Verhältnis (sog. Stiefelternfälle) voraus (ausführlich SG Aachen, Urteil vom 13.01.2010, S 19 AY 11/09, SAR 2010, 21 ff., m.w.N., dem sich die Kammer nach eigener Prüfung anschließt). Diese Voraussetzung erfüllen weder das Verwandtschaftsverhältnis zwischen Tante und Neffe (ausführlich zu dieser Konstellation SG Aachen, a.a.O.) noch das Pflegekindschaftsverhältnis (das i.Ü. auch unter Geltung des SGB II kein Kindschaftsverhältnis im Rechtssinne ist, vgl. nur LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 19.03.2009, L 25 AS 1446/07).

2.) Das der Beklagten nach dem Wortlaut von § 6 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG zustehende Entschließungsermessen ist "auf Null" (genauer gesagt: "auf Eins") reduziert. "Bereits" in den Fällen der "regulären" Passbeschaffung (d.h. bereits ohne die zusätzliche Komplexität einer Klärung der Staatsangehörigkeit) wird überwiegend von einer solchen Ermessensreduzierung ausgegangen (LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 10.03.2008, L 20 AY 16/07, InfAuslR 2008, 320 ff; Wahrendorf, a.a.O., Rn. 15). Im vorliegenden Fall muss dies erst recht gelten.

II.) Nicht entsprechend reduziert ist jedoch das nach Maßgabe von § 6 Abs. 1 Satz 2 AsylbLG auszuübende Auswahlermessen der Behörde. Da sich die genauen Kosten der vordringlichen Klärung der Staatsanhörigkeitsfrage derzeit schon wegen der erforderlichen Mitwirkung der leiblichen Mutter des Klägers nicht beziffern lassen und die Beklagte daher bislang auch keine Möglichkeit hatte, den Kläger auf kostengünstigere Alternativen zu verweisen, ist hierzu eine erneute Ermessensentscheidung erforderlich.

III.) Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie berücksichtigt neben dem Obsiegen des Klägers in einem weiteren und zuletzt nicht mehr streitigen Gegenstand insbesondere, dass die Beklagte Veranlassung zur Klageerhebung geboten hat.

IV.) Über eine Zulassung der Berufung war nicht zu entscheiden, denn der Kläger hat seinen – im Verwaltungsverfahren zunächst auf 169,50 Euro bezifferten Antrag um andere (insbes. Reise-) Kosten erweitert. Es kann derzeit nicht sicher ausgeschlossen werden, dass diese Kosten die Wertgrenze aus § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG übersteigen. &8195;
Rechtskraft
Aus
Saved