Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 2 U 3788/07
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 1 U 1667/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 11. Dezember 2009 aufgehoben. Der Bescheid vom 20. April 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. Oktober 2007 sowie der Bescheid vom 16. Oktober 2007 werden abgeändert. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger ab 1. Juli 2010 Verletztenrente nach einer MdE um 40 v.H. zu gewähren. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu 2/3.
Tatbestand:
Im Streit steht ein Anspruch auf höhere Verletztenrente ab 6. Februar 2006.
Der 1968 geborene Kläger, der als Lagerarbeiter tätig war, erlitt am 15. Oktober 2004 einen Verkehrsunfall, als er in seinem Wagen von einem Lkw erfasst wurde, der von der linken auf die rechte Spur wechselte, auf der der Kläger fuhr. Das Fahrzeug des Klägers geriet ins Schleudern und dadurch auf die Gegenfahrbahn, wo es mit einem weiteren Fahrzeug kollidierte. Der Kläger befand sich nach einem betrieblichen Botengang auf der Rückfahrt zu seiner Firma (Unfallanzeige des Arbeitgebers vom 24. November 2004). Der Kläger wurde infolge des Unfalls bewusstlos und erlitt eine Commotio cerebri, ein stumpfes Thoraxtrauma mit Fraktur der Rippen 4, 9, 11 links, eine Clavikulafraktur links, eine Lungenkontusion mit basalen Dystelektasen beidseits, eine Beckenringfraktur, eine Fraktur des Os sacrum rechts transforaminal mit Sprengung des Iliosacralgelenks rechts, Fissuren in beide Acetabulumpfeiler einstrahlend, eine Sitzbeinfraktur links sowie eine Weichteilverletzung an der linken Hand (vorläufiger Arztbrief des Klinikums Mannheim vom 28. Oktober 2004 nach stationärem Aufenthalt vom 16. bis 28. Oktober 2004 sowie Durchgangarztbericht Prof. Dr. O. vom 8. Dezember 2004).
Die Beklagte nahm Ermittlungen auf und ließ sich u.a. durch den behandelnden Facharzt für Chirurgie Dr. v. L. über den Behandlungs- und Heilungsverlauf informieren. Dieser teilte unter dem 9. März 2005 mit, der Kläger habe sich am 22. Februar 2005 letztmals bei ihm vorgestellt und weiterhin über Schmerzen im Bereich der Hüften geklagt. Die Beweglichkeit sei objektiv endgradig schmerzhaft eingeschränkt gewesen, ansonsten jedoch frei durchführbar. Beckenkompressionsschmerz habe er nicht festgestellt. Er habe den Kläger auch darüber informiert, dass Arbeitsunfähigkeit über Mitte März hinaus nicht mehr möglich sei. Falls weiterhin Schmerzen geklagt würden, werde er eine Vorstellung in der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik L. veranlassen. Die Beklagte zog weiter die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft Mannheim gegen den Unfallverursacher bei (Az.: 506 Js 38512/04).
Eine am 15. März 2005 durchgeführte neurologische Untersuchung wegen geklagter Probleme mit Schwindel, Vergesslichkeit, unwillkürlichem Schließen der Augen blieb ohne Befund (Ausschluss von Krampfpotentialen nach Synkope bei Verdacht auf traumatische Hirnkontusion nach Autounfall mit anschließender Bewusstlosigkeit).
Nach der am 5. April 2005 erfolgten Vorstellung des Klägers in der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik L. teilten Prof. Dr. W./Dr. B. als Diagnosen anhaltende Kopfschmerzen und Gedächtnisstörungen nach Commotio cerebri, ein Bewegungs- und Belastungsdefizit der Schulter nach Clavikulafraktur, ein Belastungsdefizit nach Beckenringfraktur mit transforaminaler Os-sacrum-Fraktur rechts, IS-Fugensprengung rechts, Sitzbeinfraktur links und Fissuren im Bereich beider Acetabulapfeiler mit. Wegen der vielschichtigen Beschwerdesymptomatik werde eine stationäre Reha-Behandlung empfohlen.
Vom 14. bis 27. April 2005 befand sich der Kläger zur interdisziplinären Schmerzdiagnostik in der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik L. , daran schloss sich ab 23. Mai 2005 eine vierwöchige Behandlung in der teilstationären Schmerztagesklinik an.
Die am 21. Juni 2005 begonnene Belastungserprobung von 4 Stunden täglich musste am 6. Juli 2005 infolge medizinisch nachvollziehbarer Schmerzen abgebrochen werden. Vom 20. Juli bis 5. August 2005 schloss sich eine erneute stationäre Rehabilitationsbehandlung an. Im Abschlussbericht wurde mitgeteilt, dass sich die vom Kläger subjektiv empfundenen Beschwerden während des Aufenthalts nicht wesentlich therapeutisch beeinflussen ließen. Die Beschwerden seien aber in ihrer Intensität und auch medizinisch nicht mehr nachvollziehbar.
Am 23. August 2005 nahm der Kläger eine Arbeits- und Belastungserprobung auf, klagte aber über Schmerzen insbesondere beim Gabelstaplerfahren durch die damit verbundenen Erschütterungen. Unter dem 27. September 2005 berichtete Dr. Pioch, Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik L. , dass sich der Kläger mit unveränderten Beschwerden im Bereich beider Hüftgelenke, des unteren Rückens sowie der linken Schulter vorgestellt habe. Von medizinischer Seite sei ein vorläufiger Endzustand eingetreten; das Heilverfahren werde ohne Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit abgeschlossen.
Im Rahmen einer dreitägigen Evaluation für die Frage der weiteren Behandlung/beruflichen Wiedereingliederung ab 3. Januar 2006 in der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik L. wurde eine deutliche Verschlechterung zum Vorbefund vom Mai 2005 festgestellt. Der Kläger klage überwiegend über Beschwerden in der Lendenwirbelsäule mit Ausstrahlung in das Becken und den Oberschenkel. Man empfehle zum Ausschluss unfallbedingter Veränderungen im Bereich der Clavikula die Durchführung einer MRT-Untersuchung. Im Bereich der unteren LWS bestünden ausgeprägte degenerative Veränderungen mit Bandscheibenprotrusion und Einengung der Neuroforamina mit Kompression der Nervenwurzel L 5. Die aktuell geklagten Beschwerden im Bereich des Beckens und der proximalen Oberschenkel bestünden aufgrund dieser Veränderungen. Unfallbedingte Veränderungen konnten insoweit nicht mehr nachgewiesen werden. Es sollten therapeutische Schritte zu Lasten der Krankenversicherung eingeleitet werden. Der Kläger habe sich wohl auch bereits über operative Behandlungsmaßnahmen hinsichtlich des seit Jahren bekannten Bandscheibenleidens informiert. Wegen der Unfallfolgen bestehe keine Arbeitsunfähigkeit mehr.
Mit Schreiben vom 26. Januar 2006 teilte die Beklagte der Krankenkasse mit, dass die Zahlung von Verletztengeld sofort einzustellen sei und informierte den Kläger hierüber. Dagegen erhob der Kläger durch seinen Bevollmächtigten Widerspruch, der mit Widerspruchsbescheid vom 27. April 2006 zurückgewiesen wurde. Grundlage der Entscheidung bildeten die ausführlichen Berichte des Kompetenz-Zentrums Reha-Abklärung der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik L ... Dagegen hat der Kläger am 22. Mai 2006 Klage zum Sozialgericht Mannheim (SG) erhoben (Az.: S 1 U 1630/06). Das Verfahren ist mit Beschluss vom 7. Juli 2006 zum Ruhen gebracht worden.
Mit Bescheid vom 20. April 2006 erkannte die Beklagte den Unfall vom 15. Oktober 2004 als Arbeitsunfall an und lehnte die Gewährung einer Rente ab. Als Folgen des Arbeitsunfalls bestünden noch eine verheilte Gehirnerschütterung, knöchern fest verheilte Brüche des linken Schlüsselbeins sowie der 4., 9. und 11. Rippe links, des Beckenrings mit Beteiligung des rechtsseitigen Kreuzbeins, des linksseitigen Sitzbeins und der Kreuz-Darmbein-Fuge, Weichteilverletzung der linken Hand, Kopfschmerz und Belastungsdefizit in den ehemaligen Verletzungsbereichen.
Dagegen erhob der Kläger durch seinen Bevollmächtigten Widerspruch und brachte vor, die bestehende Arbeitsunfähigkeit ebenso wie die neu bekannt gewordene, aber seit dem Unfall bestehende erektile Dysfunktion seien auf die Unfallfolgen zurückzuführen.
Der um beratungsärztliche Stellungnahme gebetene Dr. L.-E. führte unter dem 22. September 2006 aus, dass nach Beckenverletzungen wie der vorliegenden die Wahrscheinlichkeit einer Sexualfunktionsstörung durchaus gegeben und damit als unfallabhängig einzustufen sei. Dass zwischen dem Unfall und dem erstmaligen Äußern gegenüber dem Urologen eine zeitliche Latenz liege, sei nachvollziehbar, da für den Kläger andere Beschwerden im Vordergrund gestanden hätten. Auch die mehrfach beschriebene depressive Verstimmung spiele eine Rolle bei der Sexualfunktionsstörung. Daher schließe man sich der Auffassung des behandelnden Urologen an, wonach die Störung unfallabhängig sei.
Im Auftrag der Beklagten erstellte unter dem 26. April 2007 Dr. H., Facharzt für Urologie, ein Gutachten. Danach bestehe seit dem Unfall eine erektile Dysfunktion, die als organische Veränderung keiner Besserung zugänglich sei. Ein direkter Einfluss auf die Erwerbsfähigkeit ergebe sich dadurch nicht, wobei jedoch die Veränderung eine erhebliche Belastung für den Kläger darstelle, nicht zuletzt vor dem Hintergrund des noch jungen Alters. Diese Beeinträchtigung würde er mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 40 v.H. bewerten.
Der um beratungsärztliche Stellungnahme gebetene Prof. Dr. S. führte in seinem Schreiben vom 4. September 2007 aus, er stimme in der Beurteilung mit Dr. H. vollständig überein. Zur vollständigen Beurteilung der MdE auf urologischem Fachgebiet sei jedoch auch eine ausführliche gutachterliche Beurteilung der Blasen- und Mastdarmfunktion erforderlich. Sollte es sich jedoch wie anamnestisch erhoben "nur" um eine isolierte erektile Dysfunktion handeln, halte er eine MdE um 40 v.H. für zu hoch. Nach einschlägiger wissenschaftlicher Literatur werde die MdE bei Erektionsstörungen mit komplettem Erektionsverlust und außergewöhnlicher psychischer Beeinträchtigung mit max. 30 v.H. eingeschätzt, bei durchschnittlicher psychischer Beeinträchtigung sowie nur partiellem Erektionsverlust mit einer MdE um 0-20 v.H.
Mit Widerspruchsbescheid vom 16. Oktober 2007 wurde dem Widerspruch unter teilweiser Abänderung des Bescheids vom 20. April 2006 stattgegeben, als "nachstehender Bescheid über Rente" erteilt wurde, der Widerspruch im Übrigen zurückgewiesen. Nach dem im Widerspruchsverfahren eingeholten Gutachten des Dr. H. sei die erektile Dysfunktion als Unfallfolge zu bewerten. Die weiter festgestellten Unfallfolgen seien folgenlos ausgeheilt. Nachweislich des Vorerkrankungsverzeichnisses hätten schon vor dem Unfall Wirbelsäulenbeschwerden bestanden, seit 2000 seien Bandscheibenschäden bekannt.
Als "Anlage zum Widerspruchsbescheid" war beigefügt der weitere Bescheid vom 16. Oktober 2007, mit dem dem Kläger Rente auf unbestimmte Zeit nach einer MdE um 30 v.H. ab 6. Februar 2006 bewilligt worden ist. Bei der Bewertung seien als Unfallfolge berücksichtigt worden: erektile Dysfunktion, Kopfschmerz und Belastungsdefizit in den ehemaligen Verletzungsbereichen.
Gegen beide Bescheide hat der Kläger durch seinen Bevollmächtigten am 12. November 2007 ebenfalls Klage zum SG erhoben (Az.: S 2 U 3788/07). Die Beklagte hat am 13. Dezember 2007 das ruhende Verfahrens 1 U 1630/06 wieder angerufen (neues Az.: S 1 U 4288/07). Mit Beschluss vom 5. März 2008 hat das SG beide Verfahren unter dem Az.: S 2 U 3788/07 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden. Das SG hat den behandelnden Facharzt für Chirurgie v. L. schriftlich als sachverständigen Zeugen befragt, der unter dem 23. Februar 2008 degenerative Beschwerden im Bereich der LWS beschrieb, unfallbedingte Leiden jedoch verneinte. Allerdings sei es infolge der vorgeschädigten Wirbelsäule zu einer stark verzögerten Ausheilung mit intermittierender Verschlimmerung der Fehl- und Schonhaltung gekommen.
Im Auftrag des SG hat Dr. D. unter dem 16. Juni 2008 ein unfallchirurgisches Gutachten erstellt. Darin führt er aus, dass als Unfallfolgen noch vom Kläger demonstrierte Bewegungseinschränkungen des Brustwirbelsäulen-/Lendenwirbelsäulen-Übergangs und der Lendenwirbelsäule ohne erkennbare objektivierbare Ursache, eine Schmerzangabe in beiden Sitzbeinen bei in achsengerechter Stellung knöchern fest konsolidiertem ehemaligen Sitzbeinbruch links, in achsengerechter Stellung knöchern fest konsolidierter ehemaliger Schlüsselbeinbruch links am Übergang vom mittleren zum körperfernen Drittel und reizlos abgeklungene ehemalige primär chirurgisch versorgte Schnittwunden über dem streckseitigen Grundgelenk des linken Zeige- und Mittelfingers vorliegen würden. Objektivierbare knöcherne Wirbelsäulenveränderungen, die auf das Unfallgeschehen zurückzuführen seien, seien nicht festzustellen. Auch seien die im Kernspintomogramm der Wirbelsäule erhobenen Befunde allesamt unfallunabhängig, so dass sie auch nicht als mittelbare Unfallfolgen bezeichnet werden könnten. Daher habe auf seinem Fachgebiet über den 5. Februar 2006 hinaus keine unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit mehr vorgelegen. Die MdE belaufe sich ab 6. Februar 2006 auf weniger als 10 v.H.
Im Auftrag des SG hat daraufhin der Arzt für Neurologie, Psychiatrie und Rehabilitationswesen Dr. H. das neurologisch-psychiatrische Gutachten vom 7. Oktober 2008 erstattet. Dieser hat ausgeführt, der Kläger leide auf neurologischem Fachgebiet unter Kopfschmerzen, die einer Migräne entsprächen, diese sei jedoch unfallunabhängig. Arbeitsunfähigkeit habe auf seinem Fachgebiet über den 5. Februar 2006 hinaus nicht vorgelegen, auch sei keine MdE festzustellen. Die vom Kläger geschilderten Schmerzen seien typisch für das "Syndrom des engen Spinalkanals", wobei ein Unfallzusammenhang nicht vorliege. Psychisch habe sich der Kläger sehr auffällig verhalten und ein demonstratives Verhalten an den Tag gelegt.
In dem auf Antrag nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eingeholten Gutachten vom 5. Oktober 2009 des Dr. S. hat dieser zusammenfassend mitgeteilt, dass er den Feststellungen und Schlussfolgerungen des Dr. D. ohne Einschränkung zustimme, ebenso der Beurteilung durch Dr. H ...
Mit Urteil vom 11. Dezember 2009 hat das SG die Klagen abgewiesen. Die beim Unfall erlittenen schweren Verletzungen seien weitgehend ausgeheilt, insbesondere die vielfältigen Knochenbrüche. Die vom Kläger noch geklagten Beschwerden seien auf degenerative Vorschäden der Lendenwirbelsäule zurückzuführen, so dass lediglich die erektile Dysfunktion verbleibe, die die Beklagte als Unfallfolge anerkannt habe. Deshalb stehe ihm ab dem 6. Februar 2006 weder Verletztengeld noch eine höhere Verletztenrente als eine solche nach einer MdE um 30 v.H. zu.
Gegen das seinem Bevollmächtigten am 5. März 2010 zugestellte Urteil hat dieser für den Kläger am 1. April 2010 Berufung eingelegt und zur Begründung im Wesentlichen das im Widerspruchsverfahren Ausgeführte wiederholt. Ergänzend hat er ausgeführt, er verfolge das Begehren auf Fortzahlung des Verletztengelds über den 6. Februar 2006 hinaus (Bescheid vom 26. Januar 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27. April 2006) nicht mehr weiter.
Dem Berufungsschreiben beigefügt war das Gutachten der Dres. E./S., Gutachtenambulanz der Orthopädischen Universitätsklinik H., vom 2. März 2009, erstellt im Verfahren vor dem SG zur Feststellung des Grades der Behinderung (Az.: S 10 SB 753/08). Danach liegen auf orthopädisch-unfallchirurgischem Fachgebiet ein vollständig konsolidierter Schlüsselbeinbruch links mit endgradiger Bewegungseinschränkung der Schulter links ohne relevante Funktionsbeeinträchtigung, ein Zustand nach Rippenbruch links, in Fehlstellung vollständig konsolidiert ohne relevante Funktionsbeeinträchtigung, ein rechts hinkendes Gangbild ohne körperliche Erklärbarkeit sowie eine leichte Bewegungseinschränkung der Wirbelsäule ohne relevante Funktionsbeeinträchtigung vor (Teil-GdB insoweit 10 v.H.). Auf psychosomatischem Fachgebiet liege eine mittelschwere posttraumatische Belastungsstörung (Teil-GdB 30), eine mittelschwere depressive Episode (Teil-GdB 20) sowie ein Schmerzstörung in Verbindung mit psychischen Faktoren (Teil-GdB 20) vor. Der Kläger leide unter erheblichen Einschränkungen der Teilhabe am Leben, fahre nicht mehr selbst Auto, bekomme als Beifahrer häufig Beklemmungsgefühle und Schweißausbrüche, soziale Beziehungen seien auffällig gemindert, Arbeitsfähigkeit bestehe nicht mehr und Familienprobleme liegen vor. Es liege ein hochgradige psychische Gesundheitsstörung vor. An der Diagnosevalidität sei nicht zu zweifeln. Es werde dringend eine Psychotherapie angeraten. Den Gesamt-GdB schlage er mit 40 v.H. vor.
Der Kläger beantragt, teilweise sinngemäß gefasst,
das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 11. Dezember 2009 aufzuheben sowie den Bescheid vom 20. April 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. Oktober 2007 sowie den Bescheid vom 16.Oktober 2007 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ihm Verletztenrente nach einer MdE um mehr als 30% v.H. zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hat ausgeführt, dass das zur Rentennachprüfung in Auftrag gegebene Gutachten des Dr. H. vom 7. Juli 2010 ergeben habe, dass keine wesentliche Änderung eingetreten sei. Auch das Gutachten von Prof. Dr. Sch. rechtfertige keine abweichende Beurteilung, da der GdB die Auswirkungen einer Behinderung auf alle Lebensbereiche bewerte, hingegen die MdE nur die Auswirkungen funktioneller Einschränkungen auf das Erwerbsleben. Im Gutachten des Dr. H. ist ausgeführt, dass nunmehr eine komplette erektile Dysfunktion vorliege (MdE 40 v.H.) und neu hinzugekommen auch eine Blasenentleerungsstörung (MdE 10 v.H.) sei.
Das Gericht hat Prof. Dr. Sch. ergänzend zu seinem im Verfahren S 10 SB 753/08 erstellten Gutachten befragt. Auf seine Stellungnahme vom 30. April 2011 wird inhaltlich Bezug genommen.
Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Verwaltungsakten sowie der Gerichtsakten beider Instanzen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die gemäß §§ 143, 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und nach § 151 SGG auch im Übrigen zulässige Berufung des Klägers, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entschieden hat (§ 124 Abs. 2 SGG), ist teilweise begründet. Dem Kläger steht Verletztenrente nach einer MdE um 40 v.H. ab Juli 2010 zu.
Gemäß § 56 Abs. 1 Satz 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) haben Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche hinaus um wenigstens 20 v.H. gemindert ist, Anspruch auf eine Rente. Versicherungsfälle der gesetzlichen Unfallversicherung sind Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten (§ 7 Abs. 1 SGB VII). Arbeitsunfälle sind Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeiten (versicherte Tätigkeiten). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen (§ 8 Abs. 1 SGB VII).
Die Minderung der Erwerbsfähigkeit richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen oder geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (§ 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII), d.h. auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt (BSGE 1, 174, 178; BSG SozR 2200 § 581 Nr. 22). Als Folge eines Unfalls sind Gesundheitsstörungen nur zu berücksichtigen, wenn das Unfallereignis wie auch das Vorliegen der konkreten Beeinträchtigung bzw. Gesundheitsstörung jeweils bewiesen und die Beeinträchtigung mit Wahrscheinlichkeit auf das Unfallereignis zurückzuführen ist. Für die Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung ist ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfall einerseits (haftungsbegründende Kausalität) und zwischen der hierbei eingetretenen Schädigung und der Gesundheitsstörung andererseits (haftungsausfüllende Kausalität) erforderlich. Dabei müssen die versicherte Tätigkeit, die Schädigung und die eingetretene Gesundheitsstörung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen werden, während für den ursächlichen Zusammenhang als Voraussetzung der Entschädigungspflicht, welcher nach der auch sonst im Sozialrecht geltenden Lehre von der wesentlichen Bedingung zu bestimmen ist, grundsätzlich die hinreichende Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings die bloße Möglichkeit ausreicht (BSGE 58, 80, 82; 61, 127, 129; BSG, Urt. v. 27. Juni 2000 - B 2 U 29/99 R - m.w.N.). Hinreichende Wahrscheinlichkeit bedeutet, dass bei vernünftiger Abwägung aller Umstände den für den Zusammenhang sprechenden Umständen ein deutliches Übergewicht zukommt, so dass darauf die richterliche Überzeugung gegründet werden kann (BSGE 45, 285, 286). Kommen mehrere Ursachen in Betracht, so sind nur solche Ursachen als rechtserheblich anzusehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich beigetragen haben (vgl. BSGE 63, 277, 278). Daran fehlt es, wenn die Krankheitsanlage so leicht ansprechbar gewesen ist, dass die Auslösung akuter Erscheinungen aus ihr nicht besonderer, in ihrer Art unersetzlicher äußerer Einwirkungen bedurfte (vgl. BSGE 62, 220, 222; BSG, Urt. v. 2. Mai 2001 - B 2 U 18/00 R -, in: HVBG-Info 2001, 1713). Lässt sich ein Zusammenhang nicht wahrscheinlich machen, so geht dies nach dem im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Grundsatz der materiellen Beweislast zu Lasten des Versicherten (vgl. BSGE 6, 70, 72; BSG SozR 3-2200 § 548 Nr. 11 S. 33).
Als Folgen des am 15. Oktober 2004 erlittenen Unfalls bestehen beim Kläger auf urologischem Fachgebiet eine erektile Dysfunktion (zwischenzeitlich vollständig aufgehobene Möglichkeit des Vollzugs des Geschlechtsverkehrs), verbunden mit erheblichen psychogenen Belastungen, sowie eine Blasenentleerungsstörung im Sinne einer Detrusor-Blasenhals-Dyssynergie (vgl. urologisches Gutachten Dr. H. vom 7. Juli 2010 im Auftrag der Beklagten, bestätigt durch beratungsärztliche Stellungnahme Prof. Dr. S. vom 15. Dezember 2010). Daneben hat die Beklagte im Rentenbescheid vom 16. Juli 2007 als weitere Unfallfolgen Kopfschmerz und Belastungsdefizit in den ehemaligen Verletzungsbereichen aufgeführt. Darüber hinaus besteht nach Auffassung des Senats auch eine erhebliche psychische Erkrankung des Klägers (mittelschwere posttraumatische Belastungsstörung, depressive Episode mittelschwer), die als - jedenfalls mittelbare - Unfallfolge anzusehen ist, teilweise bedingt durch die vollständig aufgehobene Sexualfunktion und damit einhergehender Beeinträchtigung des Selbstwertgefühl, Partnerschaftsproblemen etc. Offen bleiben kann, ob die von Prof. Dr. Sch. weiter beschriebene Schmerzstörung ursächlich wesentlich auf das Unfallgeschehen oder die unfallunabhängig bestehenden Veränderungen im Bereich der Wirbelsäule zurückgeführt werden kann, denn - selbst ihre Unfallursächlichkeit unterstellt - führt sie nicht zu einer Erhöhung der MdE, da sie in der Gesamt-MdE für die psychischen Unfallfolgen aufgehen würde. Nicht als Unfallfolge anzuerkennen sind mögliche Veränderungen im Bereich der Wirbelsäule.
Dies steht zur Überzeugung des Senats fest nicht nur durch die Ausführungen von Prof. Dr. Sch. in seinem Gutachten vom 2. März 2009 sowie der ergänzenden gutachterlichen Stellungnahme, sondern auch aufgrund der gutachterlichen Äußerung des Dr. H. sowie der beratungsärztlichen Stellungnahme des Prof. Dr. S ... Wie Prof. Dr. Sch. in seiner ergänzenden gutachterlichen Stellungnahme überzeugend ausgeführt hat, sind die von ihm angewandten psychologischen Untersuchungsmethoden nicht nur weitgehend störungsunanfällig, d.h. durch den Probanden willentlich kaum zu beeinflussen, sondern wissenschaftlich auf hohem Niveau angesiedelt. Die von ihm mitgeteilten Gesundheitsstörungen, nämlich eine posttraumatische Belastungsstörung (mittelschwer, ICD 10 F 43.1), eine major-depressive Episode, mittelschwer, beginnend im Jahr 2004 (F 32.1) sowie eine Schmerzstörung in Verbindung mit psychischen Faktoren (F 45.5) sind daher mit dem Höchstmaß diagnostischer Sicherheit erstellt worden. Der Senat hat auch bei kritischer Würdigung des im Verfahren um die Anerkennung einer Schwerbehinderteneigenschaft erstellten Gutachtens keinen Anlass, an diesen Diagnosen zu zweifeln.
Das Gutachten von Dr. H. gibt keinen Anlass hierzu. Wie Prof. Dr. Sch. zutreffend ausführt, lag der Schwerpunkt der Begutachtung von Dr. H. nicht auf der Erhebung des psychischen, sondern des neurologischen Befundes. Dessen Schlussfolgerung, das Verhalten des Klägers sei als Aggravation, wenn nicht gar als Simulation zu interpretieren (eine Schlussfolgerung im Übrigen, die noch keiner mit dem Gesundheitszustand des Klägers befassten Ärzte vor ihm gezogen hatte), überzeugt deshalb vor dem Hintergrund des nur spärlich erhobenen psychischen Befundes nicht. Soweit die Beklagte im Berufungsverfahren vorbringt, für die Annahme einer posttraumatischen Belastungsstörung fehle es an Anknüpfungspunkten im primären Heilverfahren ist ihr zwar recht zu geben, dass diese Diagnose nicht gestellt worden ist. Allerdings war bereits zeitnah zum Unfall mit Abklingen der schweren körperlichen Verletzungen erkennbar, dass beim Kläger eine erhebliche psychische Problematik besteht (z.B. Schmerzschilderungen ohne objektivierbaren Befund bzw. möglichen Ursachen in der Wirbelsäule; Minderwertigkeitsgefühlen wegen der Sexualfunktionsstörung, depressive Verstimmung), die jedoch keiner näheren Diagnostik zugeführt worden ist. Vielmehr sind die Schmerzen der Wirbelsäulenproblematik zugeordnet und als nicht unfallabhängig bewertet worden. Nach Bekanntwerden der erektilen Dysfunktion lag der Schwerpunkt der weiteren Ermittlungen auf urologischem Fachgebiet; der mit dieser Funktionsstörung einhergehenden psychischen Problematik war keine Beachtung geschenkt worden. Deshalb überzeugt es nicht, wenn allein aufgrund unfallnah unterbliebener Diagnostik eine zu einem späteren Zeitpunkt festgestellte Störung negiert wird.
Deshalb sind für die Beurteilung der MdE des Klägers sowohl Unfallfolgen auf urologischem, unfallchirurgischem als auch psychiatrischem Fachgebiet einzubeziehen. Für die Bewertung einer unfallbedingten MdE kommt es auf die gesamten Umstände des Einzelfalles an. Die Beurteilung, in welchem Umfang die körperlichen oder geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch die Unfallfolgen beeinträchtigt sind, liegt in erster Linie auf ärztlich-wissenschaftlichem Gebiet (BSG, Urt. vom 26. Juni 1985 - 2 RU 60/84 -, in: SozR 2200 § 581 RVO Nr. 23 m.w.N.; BSG, Urt. vom 19. Dezember 2000 - B 2 U 49/99 R -, in: HVBG-Info 2001, 499). Die Sachkunde des ärztlichen Sachverständigen bezieht sich in erster Linie darauf, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch die Unfallfolgen beeinträchtigt sind. Schlüssige ärztliche Meinungsäußerungen darüber, inwieweit derartige Beeinträchtigungen sich auf die Erwerbsfähigkeit auswirken, sind zwar bedeutsame Anhaltspunkte, besitzen aber keine bindende Wirkung, auch wenn sie eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richterliche Schätzung der MdE darstellen (BSG, Beschluss vom 22. August 1989, - 2 BU 101/89 -, in: HVBG-Info 1989 S. 2268). Bei der Bewertung der MdE sind schließlich auch die in jahrzehntelanger Entwicklung von der Rechtsprechung und dem versicherungsrechtlichen oder versicherungsmedizinischen Schrifttum ausgearbeiteten Erfahrungssätze zu beachten, um eine gerechte und gleiche Bewertung der zahlreichen Parallelfälle der täglichen Praxis zu gewährleisten.
Soweit die Unfallfolgen auf urologischem Fachgebiet zur Beurteilung stehen, haben sowohl Dr. H. als auch Prof. Dr. S. im Rahmen der Nachuntersuchung des Klägers vorgeschlagen, aufgrund der mittlerweile völlig aufgehobenen Sexualfunktion (komplette erektile Dysfunktion) sowie der Blasenentleerungsstörung, eine MdE um 40 v.H. festzustellen. Dem schließt sich der Senat unter Berücksichtigung der aktuellen unfallmedizinischen Literatur und Wissenschaft, die der Senat zur Gleichbehandlung aller Versicherten bei der Bemessung der MdE verwendet, an, so dass jedenfalls ab der Feststellung durch die Ärzte im Juli 2010 von einer höheren MdE um 40 v.H. auszugehen ist.
Nach Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Auflage 2010 S. 268, die eine umfassende Auswertung der in der Literatur vorgeschlagenen MdE-Werte bei Sexualfunktionsstörungen dargestellt haben, wird die Beischlafunfähigkeit - abhängig vom Alter - mit einer MdE überwiegend zwischen 20 und 40 bemessen, die reine Schwäche der Gliedsteife mit einer MdE um 10 bis 20, während der Ausfall der Gliedsteife ebenfalls überwiegend mit einer MdE zwischen 30 und 40 bewertet wird. Die insoweit weite Bandbreite der vorgeschlagenen MdE-Werte ist durch die mit diesen Beeinträchtigungen einhergehenden unterschiedlich starken psychischen Belastungen zu erklären, die daher nicht unabhängig von den urologischen Unfallfolgen beurteilt werden können. Bei der Bewertung der erektilen Dysfunktion ist nämlich zu berücksichtigen, dass sie per se nicht die Leistungsfähigkeit im allgemeinen Erwerbsleben beeinträchtigt, was jedoch die für die Bemessung der MdE wesentliche Kategorie darstellt. Jedoch kann sie - ebenso wie z.B. eine Zeugungsunfähigkeit - die Persönlichkeit im Kern beeinträchtigen und zu seelischen Störungen führen, die sich auf die allgemeine Lebensführung aber auch die Leistungsfähigkeit im Berufsleben auswirken können (ausführlich dazu Schönberger/Mehrtens/Valentin aaO S. 265 ff, insbes. 266). Dies überzeugt insbesondere dann, wenn wie hier die Ursache der Dysfunktion in einem Arbeitsunfall liegt und für den Betroffenen ein emotional direkter Bezug zwischen seelischem Leiden und beruflicher Tätigkeit besteht. Deshalb ist bei der Feststellung der MdE hier zu berücksichtigen, dass sich die beim Kläger beschriebenen seelischen Störungen insoweit mit den durch die urologischen Unfallfolgen ausgelösten seelischen Störungen decken.
Soweit die Beklagte vorbringt, Dr. H. und Prof. Dr. S. hätten "keine Veränderungen" auf urologischem Fachgebiet mitgeteilt, so dass es bei der MdE um 30 v.H. bleibe, verkennt sie, dass Dr. H. schon in seinem Gutachten vom 26. April 2007 eine MdE um 40 v.H. vorgeschlagen hatte, die Beklagte dem aber unter Berufung auf Prof. Dr. S. in seiner beratungsärztlichen Stellungnahme vom 4. September 2007 nicht gefolgt war. Dieser hatte allerdings seine Beurteilung unter verschiedene Vorbehalte gestellt (zur Beurteilung der MdE sei zwingend auch die Blasen- und Mastdarmfunktion zu erheben; die MdE allein auf urologischem Fachgebiet bei "bloßer" isolierter erektiler Dysfunktion sei mit 40 v.H. zu hoch). Jetzt bejaht allerdings auch Prof. Dr. S. unter Berücksichtigung der nunmehr kompletten erektilen Dysfunktion und ihren psychischen Folgen und unter Berücksichtigung der bislang nicht in die MdE -Bewertung eingeflossenen neurogenen Harnblasenentleerungsstörung eine wesentliche Veränderung der Unfallfolgen und folgt deshalb auch in der MdE-Bewertung dem Vorschlag von Dr. H ... Soweit Prof. Dr. S. eine MdE um 30 v.H. isoliert für die urologischen Störungen annimmt, ist er jedenfalls in seiner Beurteilung vom 15. Dezember 2010 unter der Voraussetzung abgewichen, dass eine außergewöhnliche psychische Belastung beim Kläger festgestellt werden könne, was zur Überzeugung des Gerichts durch das Gutachten des Prof. Dr. Sch. nachgewiesen ist.
Für die Zeit vor Juli 2010 folgt der Senat der Bewertung durch Prof. Dr. S. im September 2007 und erachtet eine MdE um 30 v.H. unter Berücksichtigung der oben aufgeführten Kriterien für angemessen. Die Beischlaffähigkeit des Klägers war ab Februar 2006 noch nicht völlig aufgehoben, urologische Funktionsstörungen im Übrigen nicht vorliegend. Auch fehlen Anhaltspunkte für eine bereits ab dem Jahr 2006 bestehende erhebliche psychische Erkrankung, die ohne weitere urologische Unfallfolgen zu einer abweichenden MdE-Bewertung hätte führen können.
Was die bestehenden seelischen Störungen anbelangt, ist der Senat der Überzeugung, dass der von Prof. Dr. Sch. für das Recht der Schwerbehinderten vorgeschlagene GdB von 40 nicht ohne Einschränkungen auf das Recht der Unfallversicherung übertragen werden kann, auch wenn die von Prof. Dr. Sch. vorgeschlagenen Einzel-GdB Werte ihre Entsprechung in der für das Unfallversicherungsrecht maßgeblichen Literatur finden (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin aaO S. 156 f). Daher kommt auch nicht bereits mit dem Gutachten von Prof. Dr. Sch. einer höhere MdE-Bewertung in Betracht.
So wird für eine mittelschwere posttraumatische Belastungsstörung ein GdB von 30 vorgeschlagen (üblicherweise zu beobachtendes Störungsbild, geprägt durch starke emotional und durch Ängste bestimmte Verhaltensweisen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit und gleichzeitig größere sozial-kommunikative Beeinträchtigungen), eine major-depressive Episode, mittelschwer, mit einer MdE bis 40 v.H. sowie eine Schmerzstörung in Verbindung mit psychischen Faktoren mit einer MdE von bis zu 20 v.H. (Schönberger u.a. S. 222).
Die Bildung einer Gesamt-MdE dann, wenn der Versicherungsfall Gesundheitsstörungen an mehreren Körperteilen verursacht hat oder mehrere funktionelle Einschränkungen ein Zielorgan betreffen, erfolgt nicht durch eine mathematische Addition der Einzel-MdE-Werte (umfassend zur vergleichbaren Gesamt-MdE-Bildung im sozialen Entschädigungsrecht BSGE 48, 82 ff), sondern ist durch eine Gesamtwürdigung der Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit unter Berücksichtigung des Zusammenwirkens der verschiedenen Funktionsstörungen zu ermitteln (Burchardt in Becker u.a., Handbuch des Unfallversicherungsrechts, § 56 Rn. 91 mit weiteren Nachweisen). Überschneiden sich die Funktionseinbußen in ihren Auswirkungen, wird die Gesamt-MdE niedriger sein als die Summe der einzelnen MdE-Grade. Überschneiden sie sich nicht oder stehen die einzelnen Gesundheitsschäden in einer Wechselwirkung, die zu einer Verstärkung der Funktionseinbußen führt, kann die Gesamt-MdE der Summe der einzelnen MdE-Grade entsprechen oder auch höher sein.
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist die MdE auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet jedenfalls ab 6. Februar 2006 bis einschließlich Juni 2010 mit 30 v.H. angemessen auch ausreichend bewertet. Sie erfasst die funktionellen Einschränkungen durch die posttraumatische Belastungsstörung sowie die mittelschwere depressive Episode, die sich überlappen. Soweit auch eine Schmerzstörung beim Kläger besteht kann für die MdE-Bewertung offen bleiben, ob diese unfallursächlich ist oder nicht. Denn eine Bewertung mit mehr als einer Teil-MdE um 20 v.H. käme nach den oben dargestellten Grundsätzen (Schönberger/Mehrtens/Valentin aaO S. 222) nicht in Betracht und würde bei der Bildung der Gesamt-MdE nicht zu einer Erhöhung führen. In dieser Gesamt-MdE um 30 v.H. geht auch die durch die erektile Dysfunktion einhergehende psychische Beeinträchtigung auf.
Für die Zeit ab Juli 2010 ist die Gesamt-MdE auf 40 v.H. festzusetzen. Die erektile Dysfunktion als unmittelbare Unfallfolge beeinträchtigt die Partizipation am Erwerbsleben nicht, wohl aber die dadurch und durch das Unfallereignis per se bedingten psychischen Beeinträchtigungen. In einer Gesamtschau der für die einzelnen Funktionsstörungen vorgeschlagenen MdE-Werte ist daher der ab diesem Zeitpunkt erstmals festgestellte komplette Ausfall der Beischlaffähigkeit mit den damit verbundenen erheblichen psychischen Problemen sowie die zusätzlich bestehende unfallbedingte mittelschwere posttraumatische Belastungsstörung unter Berücksichtigung der auf urologischem Fachgebiet bestehenden Blasenentleerungsstörung mit einer Gesamt-MdE um 40 zu bewerten. Darin fließen auch die von der Beklagten als Unfallfolgen festgestellten Kopfschmerzen mit ein. Dem entsprechen auch die Vorschläge der Dres. Hinz und Stenzl, die die Beklagte selbst zur Rentennachprüfung beauftragt hatte und deren Beurteilung sich der Senat insoweit ebenfalls anschließt.
Da die Unfallfolgen auf chirurgischem Fachgebiet weitgehend folgenlos ausgeheilt sind, können sie eine höhere MdE nicht rechtfertigen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt die begehrte Verletztenrente von bis zu 100 v.H bereits ab 6. Februar 2006.
Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht erfüllt sind.
Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu 2/3.
Tatbestand:
Im Streit steht ein Anspruch auf höhere Verletztenrente ab 6. Februar 2006.
Der 1968 geborene Kläger, der als Lagerarbeiter tätig war, erlitt am 15. Oktober 2004 einen Verkehrsunfall, als er in seinem Wagen von einem Lkw erfasst wurde, der von der linken auf die rechte Spur wechselte, auf der der Kläger fuhr. Das Fahrzeug des Klägers geriet ins Schleudern und dadurch auf die Gegenfahrbahn, wo es mit einem weiteren Fahrzeug kollidierte. Der Kläger befand sich nach einem betrieblichen Botengang auf der Rückfahrt zu seiner Firma (Unfallanzeige des Arbeitgebers vom 24. November 2004). Der Kläger wurde infolge des Unfalls bewusstlos und erlitt eine Commotio cerebri, ein stumpfes Thoraxtrauma mit Fraktur der Rippen 4, 9, 11 links, eine Clavikulafraktur links, eine Lungenkontusion mit basalen Dystelektasen beidseits, eine Beckenringfraktur, eine Fraktur des Os sacrum rechts transforaminal mit Sprengung des Iliosacralgelenks rechts, Fissuren in beide Acetabulumpfeiler einstrahlend, eine Sitzbeinfraktur links sowie eine Weichteilverletzung an der linken Hand (vorläufiger Arztbrief des Klinikums Mannheim vom 28. Oktober 2004 nach stationärem Aufenthalt vom 16. bis 28. Oktober 2004 sowie Durchgangarztbericht Prof. Dr. O. vom 8. Dezember 2004).
Die Beklagte nahm Ermittlungen auf und ließ sich u.a. durch den behandelnden Facharzt für Chirurgie Dr. v. L. über den Behandlungs- und Heilungsverlauf informieren. Dieser teilte unter dem 9. März 2005 mit, der Kläger habe sich am 22. Februar 2005 letztmals bei ihm vorgestellt und weiterhin über Schmerzen im Bereich der Hüften geklagt. Die Beweglichkeit sei objektiv endgradig schmerzhaft eingeschränkt gewesen, ansonsten jedoch frei durchführbar. Beckenkompressionsschmerz habe er nicht festgestellt. Er habe den Kläger auch darüber informiert, dass Arbeitsunfähigkeit über Mitte März hinaus nicht mehr möglich sei. Falls weiterhin Schmerzen geklagt würden, werde er eine Vorstellung in der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik L. veranlassen. Die Beklagte zog weiter die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft Mannheim gegen den Unfallverursacher bei (Az.: 506 Js 38512/04).
Eine am 15. März 2005 durchgeführte neurologische Untersuchung wegen geklagter Probleme mit Schwindel, Vergesslichkeit, unwillkürlichem Schließen der Augen blieb ohne Befund (Ausschluss von Krampfpotentialen nach Synkope bei Verdacht auf traumatische Hirnkontusion nach Autounfall mit anschließender Bewusstlosigkeit).
Nach der am 5. April 2005 erfolgten Vorstellung des Klägers in der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik L. teilten Prof. Dr. W./Dr. B. als Diagnosen anhaltende Kopfschmerzen und Gedächtnisstörungen nach Commotio cerebri, ein Bewegungs- und Belastungsdefizit der Schulter nach Clavikulafraktur, ein Belastungsdefizit nach Beckenringfraktur mit transforaminaler Os-sacrum-Fraktur rechts, IS-Fugensprengung rechts, Sitzbeinfraktur links und Fissuren im Bereich beider Acetabulapfeiler mit. Wegen der vielschichtigen Beschwerdesymptomatik werde eine stationäre Reha-Behandlung empfohlen.
Vom 14. bis 27. April 2005 befand sich der Kläger zur interdisziplinären Schmerzdiagnostik in der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik L. , daran schloss sich ab 23. Mai 2005 eine vierwöchige Behandlung in der teilstationären Schmerztagesklinik an.
Die am 21. Juni 2005 begonnene Belastungserprobung von 4 Stunden täglich musste am 6. Juli 2005 infolge medizinisch nachvollziehbarer Schmerzen abgebrochen werden. Vom 20. Juli bis 5. August 2005 schloss sich eine erneute stationäre Rehabilitationsbehandlung an. Im Abschlussbericht wurde mitgeteilt, dass sich die vom Kläger subjektiv empfundenen Beschwerden während des Aufenthalts nicht wesentlich therapeutisch beeinflussen ließen. Die Beschwerden seien aber in ihrer Intensität und auch medizinisch nicht mehr nachvollziehbar.
Am 23. August 2005 nahm der Kläger eine Arbeits- und Belastungserprobung auf, klagte aber über Schmerzen insbesondere beim Gabelstaplerfahren durch die damit verbundenen Erschütterungen. Unter dem 27. September 2005 berichtete Dr. Pioch, Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik L. , dass sich der Kläger mit unveränderten Beschwerden im Bereich beider Hüftgelenke, des unteren Rückens sowie der linken Schulter vorgestellt habe. Von medizinischer Seite sei ein vorläufiger Endzustand eingetreten; das Heilverfahren werde ohne Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit abgeschlossen.
Im Rahmen einer dreitägigen Evaluation für die Frage der weiteren Behandlung/beruflichen Wiedereingliederung ab 3. Januar 2006 in der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik L. wurde eine deutliche Verschlechterung zum Vorbefund vom Mai 2005 festgestellt. Der Kläger klage überwiegend über Beschwerden in der Lendenwirbelsäule mit Ausstrahlung in das Becken und den Oberschenkel. Man empfehle zum Ausschluss unfallbedingter Veränderungen im Bereich der Clavikula die Durchführung einer MRT-Untersuchung. Im Bereich der unteren LWS bestünden ausgeprägte degenerative Veränderungen mit Bandscheibenprotrusion und Einengung der Neuroforamina mit Kompression der Nervenwurzel L 5. Die aktuell geklagten Beschwerden im Bereich des Beckens und der proximalen Oberschenkel bestünden aufgrund dieser Veränderungen. Unfallbedingte Veränderungen konnten insoweit nicht mehr nachgewiesen werden. Es sollten therapeutische Schritte zu Lasten der Krankenversicherung eingeleitet werden. Der Kläger habe sich wohl auch bereits über operative Behandlungsmaßnahmen hinsichtlich des seit Jahren bekannten Bandscheibenleidens informiert. Wegen der Unfallfolgen bestehe keine Arbeitsunfähigkeit mehr.
Mit Schreiben vom 26. Januar 2006 teilte die Beklagte der Krankenkasse mit, dass die Zahlung von Verletztengeld sofort einzustellen sei und informierte den Kläger hierüber. Dagegen erhob der Kläger durch seinen Bevollmächtigten Widerspruch, der mit Widerspruchsbescheid vom 27. April 2006 zurückgewiesen wurde. Grundlage der Entscheidung bildeten die ausführlichen Berichte des Kompetenz-Zentrums Reha-Abklärung der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik L ... Dagegen hat der Kläger am 22. Mai 2006 Klage zum Sozialgericht Mannheim (SG) erhoben (Az.: S 1 U 1630/06). Das Verfahren ist mit Beschluss vom 7. Juli 2006 zum Ruhen gebracht worden.
Mit Bescheid vom 20. April 2006 erkannte die Beklagte den Unfall vom 15. Oktober 2004 als Arbeitsunfall an und lehnte die Gewährung einer Rente ab. Als Folgen des Arbeitsunfalls bestünden noch eine verheilte Gehirnerschütterung, knöchern fest verheilte Brüche des linken Schlüsselbeins sowie der 4., 9. und 11. Rippe links, des Beckenrings mit Beteiligung des rechtsseitigen Kreuzbeins, des linksseitigen Sitzbeins und der Kreuz-Darmbein-Fuge, Weichteilverletzung der linken Hand, Kopfschmerz und Belastungsdefizit in den ehemaligen Verletzungsbereichen.
Dagegen erhob der Kläger durch seinen Bevollmächtigten Widerspruch und brachte vor, die bestehende Arbeitsunfähigkeit ebenso wie die neu bekannt gewordene, aber seit dem Unfall bestehende erektile Dysfunktion seien auf die Unfallfolgen zurückzuführen.
Der um beratungsärztliche Stellungnahme gebetene Dr. L.-E. führte unter dem 22. September 2006 aus, dass nach Beckenverletzungen wie der vorliegenden die Wahrscheinlichkeit einer Sexualfunktionsstörung durchaus gegeben und damit als unfallabhängig einzustufen sei. Dass zwischen dem Unfall und dem erstmaligen Äußern gegenüber dem Urologen eine zeitliche Latenz liege, sei nachvollziehbar, da für den Kläger andere Beschwerden im Vordergrund gestanden hätten. Auch die mehrfach beschriebene depressive Verstimmung spiele eine Rolle bei der Sexualfunktionsstörung. Daher schließe man sich der Auffassung des behandelnden Urologen an, wonach die Störung unfallabhängig sei.
Im Auftrag der Beklagten erstellte unter dem 26. April 2007 Dr. H., Facharzt für Urologie, ein Gutachten. Danach bestehe seit dem Unfall eine erektile Dysfunktion, die als organische Veränderung keiner Besserung zugänglich sei. Ein direkter Einfluss auf die Erwerbsfähigkeit ergebe sich dadurch nicht, wobei jedoch die Veränderung eine erhebliche Belastung für den Kläger darstelle, nicht zuletzt vor dem Hintergrund des noch jungen Alters. Diese Beeinträchtigung würde er mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 40 v.H. bewerten.
Der um beratungsärztliche Stellungnahme gebetene Prof. Dr. S. führte in seinem Schreiben vom 4. September 2007 aus, er stimme in der Beurteilung mit Dr. H. vollständig überein. Zur vollständigen Beurteilung der MdE auf urologischem Fachgebiet sei jedoch auch eine ausführliche gutachterliche Beurteilung der Blasen- und Mastdarmfunktion erforderlich. Sollte es sich jedoch wie anamnestisch erhoben "nur" um eine isolierte erektile Dysfunktion handeln, halte er eine MdE um 40 v.H. für zu hoch. Nach einschlägiger wissenschaftlicher Literatur werde die MdE bei Erektionsstörungen mit komplettem Erektionsverlust und außergewöhnlicher psychischer Beeinträchtigung mit max. 30 v.H. eingeschätzt, bei durchschnittlicher psychischer Beeinträchtigung sowie nur partiellem Erektionsverlust mit einer MdE um 0-20 v.H.
Mit Widerspruchsbescheid vom 16. Oktober 2007 wurde dem Widerspruch unter teilweiser Abänderung des Bescheids vom 20. April 2006 stattgegeben, als "nachstehender Bescheid über Rente" erteilt wurde, der Widerspruch im Übrigen zurückgewiesen. Nach dem im Widerspruchsverfahren eingeholten Gutachten des Dr. H. sei die erektile Dysfunktion als Unfallfolge zu bewerten. Die weiter festgestellten Unfallfolgen seien folgenlos ausgeheilt. Nachweislich des Vorerkrankungsverzeichnisses hätten schon vor dem Unfall Wirbelsäulenbeschwerden bestanden, seit 2000 seien Bandscheibenschäden bekannt.
Als "Anlage zum Widerspruchsbescheid" war beigefügt der weitere Bescheid vom 16. Oktober 2007, mit dem dem Kläger Rente auf unbestimmte Zeit nach einer MdE um 30 v.H. ab 6. Februar 2006 bewilligt worden ist. Bei der Bewertung seien als Unfallfolge berücksichtigt worden: erektile Dysfunktion, Kopfschmerz und Belastungsdefizit in den ehemaligen Verletzungsbereichen.
Gegen beide Bescheide hat der Kläger durch seinen Bevollmächtigten am 12. November 2007 ebenfalls Klage zum SG erhoben (Az.: S 2 U 3788/07). Die Beklagte hat am 13. Dezember 2007 das ruhende Verfahrens 1 U 1630/06 wieder angerufen (neues Az.: S 1 U 4288/07). Mit Beschluss vom 5. März 2008 hat das SG beide Verfahren unter dem Az.: S 2 U 3788/07 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden. Das SG hat den behandelnden Facharzt für Chirurgie v. L. schriftlich als sachverständigen Zeugen befragt, der unter dem 23. Februar 2008 degenerative Beschwerden im Bereich der LWS beschrieb, unfallbedingte Leiden jedoch verneinte. Allerdings sei es infolge der vorgeschädigten Wirbelsäule zu einer stark verzögerten Ausheilung mit intermittierender Verschlimmerung der Fehl- und Schonhaltung gekommen.
Im Auftrag des SG hat Dr. D. unter dem 16. Juni 2008 ein unfallchirurgisches Gutachten erstellt. Darin führt er aus, dass als Unfallfolgen noch vom Kläger demonstrierte Bewegungseinschränkungen des Brustwirbelsäulen-/Lendenwirbelsäulen-Übergangs und der Lendenwirbelsäule ohne erkennbare objektivierbare Ursache, eine Schmerzangabe in beiden Sitzbeinen bei in achsengerechter Stellung knöchern fest konsolidiertem ehemaligen Sitzbeinbruch links, in achsengerechter Stellung knöchern fest konsolidierter ehemaliger Schlüsselbeinbruch links am Übergang vom mittleren zum körperfernen Drittel und reizlos abgeklungene ehemalige primär chirurgisch versorgte Schnittwunden über dem streckseitigen Grundgelenk des linken Zeige- und Mittelfingers vorliegen würden. Objektivierbare knöcherne Wirbelsäulenveränderungen, die auf das Unfallgeschehen zurückzuführen seien, seien nicht festzustellen. Auch seien die im Kernspintomogramm der Wirbelsäule erhobenen Befunde allesamt unfallunabhängig, so dass sie auch nicht als mittelbare Unfallfolgen bezeichnet werden könnten. Daher habe auf seinem Fachgebiet über den 5. Februar 2006 hinaus keine unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit mehr vorgelegen. Die MdE belaufe sich ab 6. Februar 2006 auf weniger als 10 v.H.
Im Auftrag des SG hat daraufhin der Arzt für Neurologie, Psychiatrie und Rehabilitationswesen Dr. H. das neurologisch-psychiatrische Gutachten vom 7. Oktober 2008 erstattet. Dieser hat ausgeführt, der Kläger leide auf neurologischem Fachgebiet unter Kopfschmerzen, die einer Migräne entsprächen, diese sei jedoch unfallunabhängig. Arbeitsunfähigkeit habe auf seinem Fachgebiet über den 5. Februar 2006 hinaus nicht vorgelegen, auch sei keine MdE festzustellen. Die vom Kläger geschilderten Schmerzen seien typisch für das "Syndrom des engen Spinalkanals", wobei ein Unfallzusammenhang nicht vorliege. Psychisch habe sich der Kläger sehr auffällig verhalten und ein demonstratives Verhalten an den Tag gelegt.
In dem auf Antrag nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eingeholten Gutachten vom 5. Oktober 2009 des Dr. S. hat dieser zusammenfassend mitgeteilt, dass er den Feststellungen und Schlussfolgerungen des Dr. D. ohne Einschränkung zustimme, ebenso der Beurteilung durch Dr. H ...
Mit Urteil vom 11. Dezember 2009 hat das SG die Klagen abgewiesen. Die beim Unfall erlittenen schweren Verletzungen seien weitgehend ausgeheilt, insbesondere die vielfältigen Knochenbrüche. Die vom Kläger noch geklagten Beschwerden seien auf degenerative Vorschäden der Lendenwirbelsäule zurückzuführen, so dass lediglich die erektile Dysfunktion verbleibe, die die Beklagte als Unfallfolge anerkannt habe. Deshalb stehe ihm ab dem 6. Februar 2006 weder Verletztengeld noch eine höhere Verletztenrente als eine solche nach einer MdE um 30 v.H. zu.
Gegen das seinem Bevollmächtigten am 5. März 2010 zugestellte Urteil hat dieser für den Kläger am 1. April 2010 Berufung eingelegt und zur Begründung im Wesentlichen das im Widerspruchsverfahren Ausgeführte wiederholt. Ergänzend hat er ausgeführt, er verfolge das Begehren auf Fortzahlung des Verletztengelds über den 6. Februar 2006 hinaus (Bescheid vom 26. Januar 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27. April 2006) nicht mehr weiter.
Dem Berufungsschreiben beigefügt war das Gutachten der Dres. E./S., Gutachtenambulanz der Orthopädischen Universitätsklinik H., vom 2. März 2009, erstellt im Verfahren vor dem SG zur Feststellung des Grades der Behinderung (Az.: S 10 SB 753/08). Danach liegen auf orthopädisch-unfallchirurgischem Fachgebiet ein vollständig konsolidierter Schlüsselbeinbruch links mit endgradiger Bewegungseinschränkung der Schulter links ohne relevante Funktionsbeeinträchtigung, ein Zustand nach Rippenbruch links, in Fehlstellung vollständig konsolidiert ohne relevante Funktionsbeeinträchtigung, ein rechts hinkendes Gangbild ohne körperliche Erklärbarkeit sowie eine leichte Bewegungseinschränkung der Wirbelsäule ohne relevante Funktionsbeeinträchtigung vor (Teil-GdB insoweit 10 v.H.). Auf psychosomatischem Fachgebiet liege eine mittelschwere posttraumatische Belastungsstörung (Teil-GdB 30), eine mittelschwere depressive Episode (Teil-GdB 20) sowie ein Schmerzstörung in Verbindung mit psychischen Faktoren (Teil-GdB 20) vor. Der Kläger leide unter erheblichen Einschränkungen der Teilhabe am Leben, fahre nicht mehr selbst Auto, bekomme als Beifahrer häufig Beklemmungsgefühle und Schweißausbrüche, soziale Beziehungen seien auffällig gemindert, Arbeitsfähigkeit bestehe nicht mehr und Familienprobleme liegen vor. Es liege ein hochgradige psychische Gesundheitsstörung vor. An der Diagnosevalidität sei nicht zu zweifeln. Es werde dringend eine Psychotherapie angeraten. Den Gesamt-GdB schlage er mit 40 v.H. vor.
Der Kläger beantragt, teilweise sinngemäß gefasst,
das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 11. Dezember 2009 aufzuheben sowie den Bescheid vom 20. April 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. Oktober 2007 sowie den Bescheid vom 16.Oktober 2007 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ihm Verletztenrente nach einer MdE um mehr als 30% v.H. zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hat ausgeführt, dass das zur Rentennachprüfung in Auftrag gegebene Gutachten des Dr. H. vom 7. Juli 2010 ergeben habe, dass keine wesentliche Änderung eingetreten sei. Auch das Gutachten von Prof. Dr. Sch. rechtfertige keine abweichende Beurteilung, da der GdB die Auswirkungen einer Behinderung auf alle Lebensbereiche bewerte, hingegen die MdE nur die Auswirkungen funktioneller Einschränkungen auf das Erwerbsleben. Im Gutachten des Dr. H. ist ausgeführt, dass nunmehr eine komplette erektile Dysfunktion vorliege (MdE 40 v.H.) und neu hinzugekommen auch eine Blasenentleerungsstörung (MdE 10 v.H.) sei.
Das Gericht hat Prof. Dr. Sch. ergänzend zu seinem im Verfahren S 10 SB 753/08 erstellten Gutachten befragt. Auf seine Stellungnahme vom 30. April 2011 wird inhaltlich Bezug genommen.
Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Verwaltungsakten sowie der Gerichtsakten beider Instanzen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die gemäß §§ 143, 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und nach § 151 SGG auch im Übrigen zulässige Berufung des Klägers, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entschieden hat (§ 124 Abs. 2 SGG), ist teilweise begründet. Dem Kläger steht Verletztenrente nach einer MdE um 40 v.H. ab Juli 2010 zu.
Gemäß § 56 Abs. 1 Satz 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) haben Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche hinaus um wenigstens 20 v.H. gemindert ist, Anspruch auf eine Rente. Versicherungsfälle der gesetzlichen Unfallversicherung sind Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten (§ 7 Abs. 1 SGB VII). Arbeitsunfälle sind Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeiten (versicherte Tätigkeiten). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen (§ 8 Abs. 1 SGB VII).
Die Minderung der Erwerbsfähigkeit richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen oder geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (§ 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII), d.h. auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt (BSGE 1, 174, 178; BSG SozR 2200 § 581 Nr. 22). Als Folge eines Unfalls sind Gesundheitsstörungen nur zu berücksichtigen, wenn das Unfallereignis wie auch das Vorliegen der konkreten Beeinträchtigung bzw. Gesundheitsstörung jeweils bewiesen und die Beeinträchtigung mit Wahrscheinlichkeit auf das Unfallereignis zurückzuführen ist. Für die Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung ist ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfall einerseits (haftungsbegründende Kausalität) und zwischen der hierbei eingetretenen Schädigung und der Gesundheitsstörung andererseits (haftungsausfüllende Kausalität) erforderlich. Dabei müssen die versicherte Tätigkeit, die Schädigung und die eingetretene Gesundheitsstörung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen werden, während für den ursächlichen Zusammenhang als Voraussetzung der Entschädigungspflicht, welcher nach der auch sonst im Sozialrecht geltenden Lehre von der wesentlichen Bedingung zu bestimmen ist, grundsätzlich die hinreichende Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings die bloße Möglichkeit ausreicht (BSGE 58, 80, 82; 61, 127, 129; BSG, Urt. v. 27. Juni 2000 - B 2 U 29/99 R - m.w.N.). Hinreichende Wahrscheinlichkeit bedeutet, dass bei vernünftiger Abwägung aller Umstände den für den Zusammenhang sprechenden Umständen ein deutliches Übergewicht zukommt, so dass darauf die richterliche Überzeugung gegründet werden kann (BSGE 45, 285, 286). Kommen mehrere Ursachen in Betracht, so sind nur solche Ursachen als rechtserheblich anzusehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich beigetragen haben (vgl. BSGE 63, 277, 278). Daran fehlt es, wenn die Krankheitsanlage so leicht ansprechbar gewesen ist, dass die Auslösung akuter Erscheinungen aus ihr nicht besonderer, in ihrer Art unersetzlicher äußerer Einwirkungen bedurfte (vgl. BSGE 62, 220, 222; BSG, Urt. v. 2. Mai 2001 - B 2 U 18/00 R -, in: HVBG-Info 2001, 1713). Lässt sich ein Zusammenhang nicht wahrscheinlich machen, so geht dies nach dem im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Grundsatz der materiellen Beweislast zu Lasten des Versicherten (vgl. BSGE 6, 70, 72; BSG SozR 3-2200 § 548 Nr. 11 S. 33).
Als Folgen des am 15. Oktober 2004 erlittenen Unfalls bestehen beim Kläger auf urologischem Fachgebiet eine erektile Dysfunktion (zwischenzeitlich vollständig aufgehobene Möglichkeit des Vollzugs des Geschlechtsverkehrs), verbunden mit erheblichen psychogenen Belastungen, sowie eine Blasenentleerungsstörung im Sinne einer Detrusor-Blasenhals-Dyssynergie (vgl. urologisches Gutachten Dr. H. vom 7. Juli 2010 im Auftrag der Beklagten, bestätigt durch beratungsärztliche Stellungnahme Prof. Dr. S. vom 15. Dezember 2010). Daneben hat die Beklagte im Rentenbescheid vom 16. Juli 2007 als weitere Unfallfolgen Kopfschmerz und Belastungsdefizit in den ehemaligen Verletzungsbereichen aufgeführt. Darüber hinaus besteht nach Auffassung des Senats auch eine erhebliche psychische Erkrankung des Klägers (mittelschwere posttraumatische Belastungsstörung, depressive Episode mittelschwer), die als - jedenfalls mittelbare - Unfallfolge anzusehen ist, teilweise bedingt durch die vollständig aufgehobene Sexualfunktion und damit einhergehender Beeinträchtigung des Selbstwertgefühl, Partnerschaftsproblemen etc. Offen bleiben kann, ob die von Prof. Dr. Sch. weiter beschriebene Schmerzstörung ursächlich wesentlich auf das Unfallgeschehen oder die unfallunabhängig bestehenden Veränderungen im Bereich der Wirbelsäule zurückgeführt werden kann, denn - selbst ihre Unfallursächlichkeit unterstellt - führt sie nicht zu einer Erhöhung der MdE, da sie in der Gesamt-MdE für die psychischen Unfallfolgen aufgehen würde. Nicht als Unfallfolge anzuerkennen sind mögliche Veränderungen im Bereich der Wirbelsäule.
Dies steht zur Überzeugung des Senats fest nicht nur durch die Ausführungen von Prof. Dr. Sch. in seinem Gutachten vom 2. März 2009 sowie der ergänzenden gutachterlichen Stellungnahme, sondern auch aufgrund der gutachterlichen Äußerung des Dr. H. sowie der beratungsärztlichen Stellungnahme des Prof. Dr. S ... Wie Prof. Dr. Sch. in seiner ergänzenden gutachterlichen Stellungnahme überzeugend ausgeführt hat, sind die von ihm angewandten psychologischen Untersuchungsmethoden nicht nur weitgehend störungsunanfällig, d.h. durch den Probanden willentlich kaum zu beeinflussen, sondern wissenschaftlich auf hohem Niveau angesiedelt. Die von ihm mitgeteilten Gesundheitsstörungen, nämlich eine posttraumatische Belastungsstörung (mittelschwer, ICD 10 F 43.1), eine major-depressive Episode, mittelschwer, beginnend im Jahr 2004 (F 32.1) sowie eine Schmerzstörung in Verbindung mit psychischen Faktoren (F 45.5) sind daher mit dem Höchstmaß diagnostischer Sicherheit erstellt worden. Der Senat hat auch bei kritischer Würdigung des im Verfahren um die Anerkennung einer Schwerbehinderteneigenschaft erstellten Gutachtens keinen Anlass, an diesen Diagnosen zu zweifeln.
Das Gutachten von Dr. H. gibt keinen Anlass hierzu. Wie Prof. Dr. Sch. zutreffend ausführt, lag der Schwerpunkt der Begutachtung von Dr. H. nicht auf der Erhebung des psychischen, sondern des neurologischen Befundes. Dessen Schlussfolgerung, das Verhalten des Klägers sei als Aggravation, wenn nicht gar als Simulation zu interpretieren (eine Schlussfolgerung im Übrigen, die noch keiner mit dem Gesundheitszustand des Klägers befassten Ärzte vor ihm gezogen hatte), überzeugt deshalb vor dem Hintergrund des nur spärlich erhobenen psychischen Befundes nicht. Soweit die Beklagte im Berufungsverfahren vorbringt, für die Annahme einer posttraumatischen Belastungsstörung fehle es an Anknüpfungspunkten im primären Heilverfahren ist ihr zwar recht zu geben, dass diese Diagnose nicht gestellt worden ist. Allerdings war bereits zeitnah zum Unfall mit Abklingen der schweren körperlichen Verletzungen erkennbar, dass beim Kläger eine erhebliche psychische Problematik besteht (z.B. Schmerzschilderungen ohne objektivierbaren Befund bzw. möglichen Ursachen in der Wirbelsäule; Minderwertigkeitsgefühlen wegen der Sexualfunktionsstörung, depressive Verstimmung), die jedoch keiner näheren Diagnostik zugeführt worden ist. Vielmehr sind die Schmerzen der Wirbelsäulenproblematik zugeordnet und als nicht unfallabhängig bewertet worden. Nach Bekanntwerden der erektilen Dysfunktion lag der Schwerpunkt der weiteren Ermittlungen auf urologischem Fachgebiet; der mit dieser Funktionsstörung einhergehenden psychischen Problematik war keine Beachtung geschenkt worden. Deshalb überzeugt es nicht, wenn allein aufgrund unfallnah unterbliebener Diagnostik eine zu einem späteren Zeitpunkt festgestellte Störung negiert wird.
Deshalb sind für die Beurteilung der MdE des Klägers sowohl Unfallfolgen auf urologischem, unfallchirurgischem als auch psychiatrischem Fachgebiet einzubeziehen. Für die Bewertung einer unfallbedingten MdE kommt es auf die gesamten Umstände des Einzelfalles an. Die Beurteilung, in welchem Umfang die körperlichen oder geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch die Unfallfolgen beeinträchtigt sind, liegt in erster Linie auf ärztlich-wissenschaftlichem Gebiet (BSG, Urt. vom 26. Juni 1985 - 2 RU 60/84 -, in: SozR 2200 § 581 RVO Nr. 23 m.w.N.; BSG, Urt. vom 19. Dezember 2000 - B 2 U 49/99 R -, in: HVBG-Info 2001, 499). Die Sachkunde des ärztlichen Sachverständigen bezieht sich in erster Linie darauf, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch die Unfallfolgen beeinträchtigt sind. Schlüssige ärztliche Meinungsäußerungen darüber, inwieweit derartige Beeinträchtigungen sich auf die Erwerbsfähigkeit auswirken, sind zwar bedeutsame Anhaltspunkte, besitzen aber keine bindende Wirkung, auch wenn sie eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richterliche Schätzung der MdE darstellen (BSG, Beschluss vom 22. August 1989, - 2 BU 101/89 -, in: HVBG-Info 1989 S. 2268). Bei der Bewertung der MdE sind schließlich auch die in jahrzehntelanger Entwicklung von der Rechtsprechung und dem versicherungsrechtlichen oder versicherungsmedizinischen Schrifttum ausgearbeiteten Erfahrungssätze zu beachten, um eine gerechte und gleiche Bewertung der zahlreichen Parallelfälle der täglichen Praxis zu gewährleisten.
Soweit die Unfallfolgen auf urologischem Fachgebiet zur Beurteilung stehen, haben sowohl Dr. H. als auch Prof. Dr. S. im Rahmen der Nachuntersuchung des Klägers vorgeschlagen, aufgrund der mittlerweile völlig aufgehobenen Sexualfunktion (komplette erektile Dysfunktion) sowie der Blasenentleerungsstörung, eine MdE um 40 v.H. festzustellen. Dem schließt sich der Senat unter Berücksichtigung der aktuellen unfallmedizinischen Literatur und Wissenschaft, die der Senat zur Gleichbehandlung aller Versicherten bei der Bemessung der MdE verwendet, an, so dass jedenfalls ab der Feststellung durch die Ärzte im Juli 2010 von einer höheren MdE um 40 v.H. auszugehen ist.
Nach Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Auflage 2010 S. 268, die eine umfassende Auswertung der in der Literatur vorgeschlagenen MdE-Werte bei Sexualfunktionsstörungen dargestellt haben, wird die Beischlafunfähigkeit - abhängig vom Alter - mit einer MdE überwiegend zwischen 20 und 40 bemessen, die reine Schwäche der Gliedsteife mit einer MdE um 10 bis 20, während der Ausfall der Gliedsteife ebenfalls überwiegend mit einer MdE zwischen 30 und 40 bewertet wird. Die insoweit weite Bandbreite der vorgeschlagenen MdE-Werte ist durch die mit diesen Beeinträchtigungen einhergehenden unterschiedlich starken psychischen Belastungen zu erklären, die daher nicht unabhängig von den urologischen Unfallfolgen beurteilt werden können. Bei der Bewertung der erektilen Dysfunktion ist nämlich zu berücksichtigen, dass sie per se nicht die Leistungsfähigkeit im allgemeinen Erwerbsleben beeinträchtigt, was jedoch die für die Bemessung der MdE wesentliche Kategorie darstellt. Jedoch kann sie - ebenso wie z.B. eine Zeugungsunfähigkeit - die Persönlichkeit im Kern beeinträchtigen und zu seelischen Störungen führen, die sich auf die allgemeine Lebensführung aber auch die Leistungsfähigkeit im Berufsleben auswirken können (ausführlich dazu Schönberger/Mehrtens/Valentin aaO S. 265 ff, insbes. 266). Dies überzeugt insbesondere dann, wenn wie hier die Ursache der Dysfunktion in einem Arbeitsunfall liegt und für den Betroffenen ein emotional direkter Bezug zwischen seelischem Leiden und beruflicher Tätigkeit besteht. Deshalb ist bei der Feststellung der MdE hier zu berücksichtigen, dass sich die beim Kläger beschriebenen seelischen Störungen insoweit mit den durch die urologischen Unfallfolgen ausgelösten seelischen Störungen decken.
Soweit die Beklagte vorbringt, Dr. H. und Prof. Dr. S. hätten "keine Veränderungen" auf urologischem Fachgebiet mitgeteilt, so dass es bei der MdE um 30 v.H. bleibe, verkennt sie, dass Dr. H. schon in seinem Gutachten vom 26. April 2007 eine MdE um 40 v.H. vorgeschlagen hatte, die Beklagte dem aber unter Berufung auf Prof. Dr. S. in seiner beratungsärztlichen Stellungnahme vom 4. September 2007 nicht gefolgt war. Dieser hatte allerdings seine Beurteilung unter verschiedene Vorbehalte gestellt (zur Beurteilung der MdE sei zwingend auch die Blasen- und Mastdarmfunktion zu erheben; die MdE allein auf urologischem Fachgebiet bei "bloßer" isolierter erektiler Dysfunktion sei mit 40 v.H. zu hoch). Jetzt bejaht allerdings auch Prof. Dr. S. unter Berücksichtigung der nunmehr kompletten erektilen Dysfunktion und ihren psychischen Folgen und unter Berücksichtigung der bislang nicht in die MdE -Bewertung eingeflossenen neurogenen Harnblasenentleerungsstörung eine wesentliche Veränderung der Unfallfolgen und folgt deshalb auch in der MdE-Bewertung dem Vorschlag von Dr. H ... Soweit Prof. Dr. S. eine MdE um 30 v.H. isoliert für die urologischen Störungen annimmt, ist er jedenfalls in seiner Beurteilung vom 15. Dezember 2010 unter der Voraussetzung abgewichen, dass eine außergewöhnliche psychische Belastung beim Kläger festgestellt werden könne, was zur Überzeugung des Gerichts durch das Gutachten des Prof. Dr. Sch. nachgewiesen ist.
Für die Zeit vor Juli 2010 folgt der Senat der Bewertung durch Prof. Dr. S. im September 2007 und erachtet eine MdE um 30 v.H. unter Berücksichtigung der oben aufgeführten Kriterien für angemessen. Die Beischlaffähigkeit des Klägers war ab Februar 2006 noch nicht völlig aufgehoben, urologische Funktionsstörungen im Übrigen nicht vorliegend. Auch fehlen Anhaltspunkte für eine bereits ab dem Jahr 2006 bestehende erhebliche psychische Erkrankung, die ohne weitere urologische Unfallfolgen zu einer abweichenden MdE-Bewertung hätte führen können.
Was die bestehenden seelischen Störungen anbelangt, ist der Senat der Überzeugung, dass der von Prof. Dr. Sch. für das Recht der Schwerbehinderten vorgeschlagene GdB von 40 nicht ohne Einschränkungen auf das Recht der Unfallversicherung übertragen werden kann, auch wenn die von Prof. Dr. Sch. vorgeschlagenen Einzel-GdB Werte ihre Entsprechung in der für das Unfallversicherungsrecht maßgeblichen Literatur finden (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin aaO S. 156 f). Daher kommt auch nicht bereits mit dem Gutachten von Prof. Dr. Sch. einer höhere MdE-Bewertung in Betracht.
So wird für eine mittelschwere posttraumatische Belastungsstörung ein GdB von 30 vorgeschlagen (üblicherweise zu beobachtendes Störungsbild, geprägt durch starke emotional und durch Ängste bestimmte Verhaltensweisen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit und gleichzeitig größere sozial-kommunikative Beeinträchtigungen), eine major-depressive Episode, mittelschwer, mit einer MdE bis 40 v.H. sowie eine Schmerzstörung in Verbindung mit psychischen Faktoren mit einer MdE von bis zu 20 v.H. (Schönberger u.a. S. 222).
Die Bildung einer Gesamt-MdE dann, wenn der Versicherungsfall Gesundheitsstörungen an mehreren Körperteilen verursacht hat oder mehrere funktionelle Einschränkungen ein Zielorgan betreffen, erfolgt nicht durch eine mathematische Addition der Einzel-MdE-Werte (umfassend zur vergleichbaren Gesamt-MdE-Bildung im sozialen Entschädigungsrecht BSGE 48, 82 ff), sondern ist durch eine Gesamtwürdigung der Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit unter Berücksichtigung des Zusammenwirkens der verschiedenen Funktionsstörungen zu ermitteln (Burchardt in Becker u.a., Handbuch des Unfallversicherungsrechts, § 56 Rn. 91 mit weiteren Nachweisen). Überschneiden sich die Funktionseinbußen in ihren Auswirkungen, wird die Gesamt-MdE niedriger sein als die Summe der einzelnen MdE-Grade. Überschneiden sie sich nicht oder stehen die einzelnen Gesundheitsschäden in einer Wechselwirkung, die zu einer Verstärkung der Funktionseinbußen führt, kann die Gesamt-MdE der Summe der einzelnen MdE-Grade entsprechen oder auch höher sein.
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist die MdE auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet jedenfalls ab 6. Februar 2006 bis einschließlich Juni 2010 mit 30 v.H. angemessen auch ausreichend bewertet. Sie erfasst die funktionellen Einschränkungen durch die posttraumatische Belastungsstörung sowie die mittelschwere depressive Episode, die sich überlappen. Soweit auch eine Schmerzstörung beim Kläger besteht kann für die MdE-Bewertung offen bleiben, ob diese unfallursächlich ist oder nicht. Denn eine Bewertung mit mehr als einer Teil-MdE um 20 v.H. käme nach den oben dargestellten Grundsätzen (Schönberger/Mehrtens/Valentin aaO S. 222) nicht in Betracht und würde bei der Bildung der Gesamt-MdE nicht zu einer Erhöhung führen. In dieser Gesamt-MdE um 30 v.H. geht auch die durch die erektile Dysfunktion einhergehende psychische Beeinträchtigung auf.
Für die Zeit ab Juli 2010 ist die Gesamt-MdE auf 40 v.H. festzusetzen. Die erektile Dysfunktion als unmittelbare Unfallfolge beeinträchtigt die Partizipation am Erwerbsleben nicht, wohl aber die dadurch und durch das Unfallereignis per se bedingten psychischen Beeinträchtigungen. In einer Gesamtschau der für die einzelnen Funktionsstörungen vorgeschlagenen MdE-Werte ist daher der ab diesem Zeitpunkt erstmals festgestellte komplette Ausfall der Beischlaffähigkeit mit den damit verbundenen erheblichen psychischen Problemen sowie die zusätzlich bestehende unfallbedingte mittelschwere posttraumatische Belastungsstörung unter Berücksichtigung der auf urologischem Fachgebiet bestehenden Blasenentleerungsstörung mit einer Gesamt-MdE um 40 zu bewerten. Darin fließen auch die von der Beklagten als Unfallfolgen festgestellten Kopfschmerzen mit ein. Dem entsprechen auch die Vorschläge der Dres. Hinz und Stenzl, die die Beklagte selbst zur Rentennachprüfung beauftragt hatte und deren Beurteilung sich der Senat insoweit ebenfalls anschließt.
Da die Unfallfolgen auf chirurgischem Fachgebiet weitgehend folgenlos ausgeheilt sind, können sie eine höhere MdE nicht rechtfertigen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt die begehrte Verletztenrente von bis zu 100 v.H bereits ab 6. Februar 2006.
Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht erfüllt sind.
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