S 71 KA 62/10

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
Abteilung
71
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 71 KA 62/10
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Bescheid der Beklagten vom 22. Januar 2009 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 26. Januar 2010 wird insoweit aufgehoben, wie die Beklagte eine Verletzung der vertragsärztlichen Pflichten der zur Klägerin gehörenden Klinika V-K, Universitätsklinikum B F und H-Universität wegen des nicht ordnungsgemäßen Einzugs der Zuzahlung gemäß § 28 Absatz 4 SGB V und einen dadurch entstandenen Schaden der Krankenkassen für die Quartale I/2007 bis III/2007 festgestellt hat. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. Die Klägerin trägt 7/10, die Beklagte trägt 3/10 der Gerichtskosten und der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Verfahrens, mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese jeweils selbst tragen.

Tatbestand:

Die Klägerin wendet sich gegen die Feststellung der Beklagten eines nicht ordnungsgemäßen Einzugs der Praxisgebühren in den Quartalen I/2005 bis III/2007. Die Klägerin betreibt an ihren Standorten Campus M, Campus B F und Campus V-Klinikum unter den Abrechnungsnummern 7 ..., 7 ... und 7 ... Erste-Hilfe-Stellen, die Leistungen der ambulanten Notfallversorgung erbringen.

Die Beklagte stellte im Rahmen der Honorarabrechnungen der Quartale I/2005 bis III/2007 für die Erste-Hilfe-Stellen der Klägerin fest, dass die Zuzahlung gemäß § 28 Absatz 4 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) in mehr als 10% der Behandlungsfälle nicht bei den Patienten eingezogen wurde. Aufgrund dessen machte die Beklagte von ihrem Zurückbehaltungsrecht im Sinne des § 18 Absatz 7 a Bundesmantelvertrag-Ärzte (BMV-Ä) bzw. § 21 Absatz 7 a Bundesmantelvertrag-Ärzte/Ersatzkassen (EKV) Gebrauch und behielt die Differenz zwischen den jeweils zu erhebenden und den tatsächlich erhobenen Zuzahlungsbeträgen ein. Sie leitete das Schlichtungsverfahren wegen einer Verletzung vertragsärztlicher Pflichten durch die Erste-Hilfe-Stellen der Klägerin ein. Die Schlichtungsstelle empfahl der Beklagten, das zurückbehaltene Honorar endgültig einzubehalten und nach Maßgabe der bundesmantelvertraglichen Regelungen an die Krankenkassen auszukehren.

Mit Bescheiden vom 22. Januar 2009 stellte die Beklagte gegenüber der Klägerin jeweils für den Primär- und Ersatzkassenbereich eine Verletzung der vertragsärztlichen Pflichten durch die Erste-Hilfe-Stellen fest. Im Zeitraum der Quartale I/2005 bis III/2007 habe sie die Zuzahlung gemäß § 28 Absatz 4 SGB V nicht ordnungsgemäß eingezogen, so dass den Krankenkassen ein erstattungspflichtiger Schaden entstanden sei. In den relevanten Quartalen liege die Nichtzahlerquote der von der Klägerin vertretenen Erste-Hilfe-Stellen weit über 10%, zum Teil über 40 und sogar über 50%. Die Höhe der Nichtzahlerquote als Indiz für eine schuldhafte Pflichtverletzung beim Einzug der Praxisgebühr habe von der Klägerin nicht entkräftet werden können.

Hiergegen legte die Klägerin mit am 27. Februar 2009 bei der Beklagten eingegangenem Schreiben Widerspruch ein. Sie sei ihrer Verpflichtung zum Einzug der Praxisgebühr nachgekommen. Schon seit dem 1. Januar 2004 erhalte jeder Patient ein Informationspaket "Praxisgebühr", das eine Patienteninformation, die Aufforderung zur Zahlung und einen Überweisungsträger enthalte. Die Patienten müssten den Empfang des Informationspakets quittieren. Patienten, die innerhalb der gesetzten Frist nicht nachträglich zahlen würden, erhielten zusätzlich ein Mahnschreiben. Die Patienten hätten grundsätzlich die Möglichkeit, die Zuzahlung in bar oder mittels EC-Karte bzw. Kreditkarte zu entrichten, wobei allerdings zwischen 23 Uhr und 9 Uhr keine Möglichkeit der bargeldlosen Zahlung bestanden habe. Zudem könne die Behandlung eines Notfalls nicht von der Zuzahlung der Praxisgebühr abhängig gemacht werden.

Den Widerspruch der Klägerin wies die Beklagte aufgrund ihrer Sitzung vom 26. Januar 2010 durch am 27. Januar 2010 ausgefertigten Widerspruchsbescheid zurück. Maßgebliches Indiz für die von der Klägerin schuldhaft begangene Verletzung der Verpflichtung zum ordnungsgemäßen Einzug der Praxisgebühr seien die hohen Nichtzahlerquoten in den von der Klägerin vertretenen Erste-Hilfe-Stellen. Die festgestellten Prozentsätze von zwischen 26,48% und knapp 60% lägen weit oberhalb der Nichtzahlerquoten der Erste-Hilfe-Stellen in anderen Krankenhäusern. Es reiche keinesfalls aus, dass die Patienten in der Erste-Hilfe-Stelle schriftlich aufgefordert würden, die Zuzahlung zu entrichten und ihnen ein Überweisungsträger ausgehändigt werden würde. Maßgeblich sei, dass die Zuzahlung grundsätzlich vor Behandlungsbeginn oder – falls dies aufgrund des Zustandes des Patienten nicht möglich sei – unmittelbar nach Beendigung der Behandlung zu erheben, das heiße tatsächlich in bar oder bargeldlos einzuziehen, sei. Hinzu komme, dass in den meisten Fällen einer akuten Behandlungsbedürftigkeit von Versicherten, in denen aufgrund des Zustandes des Patienten eine Erhebung der Praxisgebühr nicht möglich sei, wohl ohnehin eine stationäre Aufnahme erforderlich sein dürfte, so dass dann in diesen Fällen die Praxisgebühr nicht fällig werde. Weiterhin sei es keinesfalls ausreichend, dass im Zeitraum zwischen 9 Uhr und 23 Uhr Verwaltungspersonal anwesend sei, das berechtigt sei, den bargeldlosen Zahlungsverkehr abzuwickeln. Die Erste-Hilfe-Stellen von Krankenhäusern würden insbesondere abends und nachts und damit gerade außerhalb dieser Zeiten aufgesucht. Hinzu komme, dass von der Klägerin erklärt worden sei, eine Barzahlung sei zunächst nur zu den üblichen Kassenzeiten, werktags von 8 Uhr bis 15 Uhr, möglich gewesen, und erst ab dem 3. Quartal 2006 sei auch eine weitergehende Barzahlungsmöglichkeit geschaffen worden. Der nicht ordnungsgemäße Einzug der Zuzahlung habe auch zu einem Schaden geführt, da sich die von den Krankenkassen auszuzahlende Gesamtvergütung gemäß § 43 Absatz 2 SGB V um die von den Leistungserbringern einbehaltene Zuzahlung verringere. Werde die Zuzahlung vom Leistungserbringer nicht einbehalten, verringere sich sein Vergütungsanspruch nicht und die Gesamtvergütung werde nicht in diesem Umfang reduziert.

Am 16. Februar 2010 erhob die Klägerin Klage vor dem Sozialgericht Berlin. Sie sei ihrer Verpflichtung zur Einrichtung eines Verfahrens für die Einziehung der Praxisgebühr nachgekommen und habe keine vertragsärztlichen Pflichten verletzt. Bei Notfallpatienten sei es lebensfremd anzunehmen, es könne eine Zahlung der Praxisgebühr vor Untersuchung und Behandlung durchgesetzt werden. Es fehle bei Behandlungen in den Erste-Hilfe-Stellen von Krankenhäusern auch an einer engen Arzt-Patienten-Beziehung, die die Neigung zur Zahlung der Praxisgebühr fördere. Die Nichteinbehaltungsquote von 10%, ab der nicht eingezogene Praxisgebühren zurückbehalten werden können, sei erkennbar auf Verhältnisse bei niedergelassenen Vertragsärzten bezogen. Die Nichteinzugsquote in Krankenhäusern bewege sich nicht nur in Einzelfällen zwischen 35% und 65%. Dies sei ein Indiz für ein offensichtliches Systemversagen bei Festlegung einer einheitlichen und zudem zu niedrig bemessenen Nichteinzugsquote. Weiterhin sei die Nichteinzugsquote nicht allein vom gewählten Einzugsverfahren abhängig, sondern auch vom Zahlungsverhalten der Versicherten. Eine hohe Nichteinzugsquote indiziere daher noch kein Verschulden. Die Beklagte habe des Weiteren nicht berücksichtigt, dass an allen ihren Standorten – denjenigen der Klägerin – die Nichtzahlerquote im streitgegenständlichen Zeitraum signifikant gesunken sei. Ein Zusammenhang mit den von ihr ergriffenen organisatorischen Maßnahmen sei erkennbar. Es sei nicht ersichtlich, welche Maßnahmen ihr über die bereits ergriffenen hinaus zugemutet hätten werden können, um zahlungsunwillige oder weder mit Bargeld noch Kreditkarten ausgestattete Versicherte zur Zahlung zu bewegen. Nicht zuletzt seien die Bescheide deshalb aufzuheben, weil es die Beklagte versäumt habe, zeitnah Schlichtungsverfahren einzuleiten. § 49 Absatz 7 a BMV-Ä und die entsprechende Vorschrift des EKV-Ä ließen ausweislich des Wortlautes "gleichzeitig" keine verzögerte Einleitung eines Schlichtungsverfahrens zu. Hinsichtlich der Zurückbehaltung für das 3. Quartal 2007 handelte die Beklagte zudem bereits ohne Rechtsgrundlage, da der dem Bescheid vom 22. Januar 2009 zugrunde liegende § 18 Absatz 7 a BMV-Ä in seiner Geltung bis zum 30. Juni 2007 befristet gewesen sei.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 22. Januar 2009 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 26. Januar 2010 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Zur Begründung bezieht sie sich zum einen auf ihre Ausführungen in den angefochtenen Bescheiden. Weiterhin bezieht sie sich auf das Urteil der 83. Kammer des Sozialgerichts Berlin vom 13. Mai 2009, Aktenzeichen S 83 KA 443/06. Danach sei der Begriff "Erheben" der Praxisgebühr nicht im Sinne von Geltendmachen, sondern im Sinne eines erfolgreichen Einziehens zu verstehen. Dieser Verpflichtung seien die von der Klägerin vertretenen Erste-Hilfe-Stellen nicht nachgekommen. Das dargestellte Verfahren lasse an der Ernsthaftigkeit der Einziehungsversuche seitens der Mitarbeiter der Erste-Hilfe-Stellen zweifeln. Wenn es den niedergelassenen Vertragsärzten möglich sei, den Einzug der Praxisgebühr durch die Arzthelferin, die am Empfang die Krankenversichertenkarte einliest, zu organisieren, dann müsse dies erst recht einem Krankenhaus möglich sein. Ihr sei aus anderen Schlichtungsverfahren bekannt, dass andere Krankenhäuser den Einzug der Praxisgebühr in bar bei der Aufnahme der Patienten organisiert hätten, wenn die Krankenversicherungskarte eingelesen werde bzw. die Personalien des Patienten aufgenommen werden müssten. Hinsichtlich der weiteren Ausführungen wird insbesondere auf den Schriftsatz vom 8. Oktober 2010 Bezug genommen.

Die Beigeladenen haben keine Anträge gestellt.

Die Beigeladenen zu 1) und zu 2) haben sich den Ausführungen der Beklagten inhaltlich angeschlossen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakten und die Verwaltungsakten der Beklagten, die vorlagen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Entscheidungsfindung waren, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet, im Übrigen ist sie unbegründet.

Der Bescheid der Beklagten vom 22. Januar 2009 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 26. Januar 2010 ist insoweit rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, wie die Beklagte eine Verletzung der vertragsärztlichen Pflichten der zur Klägerin gehörenden Klinika V-K, Universitätsklinikum B F und H-Universität wegen des nicht ordnungsgemäßen Einzugs der Zuzahlung gemäß § 28 Absatz 4 SGB V und einen dadurch entstandenen Schaden der Krankenkassen für die Quartale I/2007 bis III/2007 festgestellt hat. Im Übrigen sind die angefochtenen Bescheide rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten.

Die Beklagte hat gegenüber der Klägerin zu Recht eine Verletzung der vertragsärztlichen Pflichten durch die Erste-Hilfe-Stellen in den Quartalen I/2005 bis IV/2006 festgestellt. In diesem Zeitraum hat sie die Zuzahlung gemäß § 28 Absatz 4 SGB V (Praxisgebühr) nicht ordnungsgemäß eingezogen, so dass den Krankenkassen ein erstattungspflichtiger Schaden entstanden ist. In den Quartalen I/2007 bis III/2007 konnte der Klägerin indes kein entsprechender Vorwurf gemacht werden.

Der in den angegriffenen Bescheiden getroffenen Feststellung ging ein Zurückbehaltungsverfahren gemäß § 18 Absatz 7 a Satz 1 BMV-Ä bzw. § 21 Abs. 7a S. 1 EKV-Ä voraus. Nach diesem kann die Kassenärztliche Vereinigung die Differenz zwischen einzubehaltender und einbehaltener Zuzahlung zurückbehalten, wenn sich aus der Abrechnung ergibt, dass ein Leistungserbringer in einem Quartal in 10 von Hundert oder einem höheren Anteil der Behandlungsfälle, in denen die Zuzahlung nach § 28 Abs. 4 SGB V zu erheben ist, die Zuzahlung nicht erhoben hat. Nach § 18 Abs. 7a S. 3 BMV-Ä bzw. § 21 Abs. 7a S. 3 EKV-Ä leitet die Kassenärztliche Vereinigung in Abstimmung mit der zuständigen Krankenkasse gleichzeitig ein Verfahren nach § 49 BMV-Ä bzw. § 45 EKV-Ä ein (Schlichtungsverfahren). Die Zurückbehaltung dient der Vorbereitung dieses – hier streitgegenständlichen - Schadensersatzverfahrens, in dem die Art und Weise des Einziehungsverfahrens und das Verschulden als Voraussetzung eines Schadensersatzanspruchs der Krankenkassen geprüft werden.

Die Klägerin ist auch Leistungserbringerin im Sinne von § 18 Abs. 7a BMV-Ä / § 21 Abs. 7a EKV-Ä, weil die in Notfällen ambulant ausgeführten ärztlichen Leistungen durch nicht an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmende Ärzte gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 4 BMV-Ä/EKV-Ä zur vertragsärztlichen Versorgung gehören (vgl. auch BSG, Urteil vom 24. September 2003, - Az. B 6 KA 51/02 R -, SozR 4-2500 § 75 Nr. 2). Es handelt sich um einen Fall der beschränkten Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung durch Krankenhäuser und Nichtvertragsärzte, ohne dass diese in die Kassenärztliche Vereinigung einbezogen werden (Wenner, Vertragsarztrecht nach der Gesundheitsreform. 2008 § 14 Rn. 12). In diesem Fall gelten nicht nur die die betroffenen Leistungserbringer begünstigenden Regelungen über die vertragsärztliche Vergütung, sondern auch die sonstigen, für die Leistungserbringer ggf. mit Nachteilen verbundenen Regelungen der vertragsärztlichen Versorgung. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Leistungserbringer die entsprechenden vertragsärztlichen Regelungen kennen müssen. Bei einem Krankenhaus, das regelmäßig und in erheblichem Umfang am Notfalldienst teilnimmt, kann davon ausgegangen werden, dass die einschlägigen Bestimmungen bekannt und daher anwendbar sind (vgl. BSG v. 16. April 1986 – Az. 6 RKa 34/84 -, hier zitiert nach Juris, Rn. 14).

In den betroffenen Quartalen hatten die Erste-Hilfe-Stellen der Klägerin – von den Beteiligten unbestritten - folgende Fallquoten zu verzeichnen, in denen die Zuzahlung nach § 28 Abs. 4 SGB V (im Folgenden: Praxisgebühr) nicht erhoben wurde:

Quartal V-K Universitätsklinikum B F H-Universität/C I/2005 46,58% 48,30% 45,17% II/2005 41,70% 52,74% 40,02% III/2005 42,18% 52,36% 42,96% IV/2005 46,39% 55,50% 44,37% I/2006 43,89% 50,07% 42,09% II/2006 40,69% 48,56% 42,67% III/2006 40,18% 45,48% 38,45% IV/2006 38,24% 59,43% 27,96% I/2007 26,48% 32,61% 27,76% II/2007 29,35% 36,59% 28,73% III/2007 31,39% 35,88% 33,22%

Dabei ist "erheben" nicht im Sinne von Geltendmachen, sondern im Sinne von erfolgreichem Einziehen, also der tatsächlichen Realisierung der Praxisgebühr durch Zahlung des Patienten, zu verstehen. Die Kammer folgt dabei den Urteilen der 83. Kammer des Sozialgerichts Berlin vom 13. Mai 2009 in den Verfahren S 83 KA 343/06, S 83 KA 443/06 und S 83 KA 304/06 (alle drei Urteile veröffentlicht in Juris).

In diesen hohen Nichtzahlerquoten erkennt die Kammer ein Indiz für eine schuldhafte Verletzung der Verpflichtung zum ordnungsgemäßen Einzug der Praxisgebühr. Dieses Indiz hat die Klägerin durch ihren Vortrag für die Quartale I/2005 bis IV/2006 nicht entkräften können. In diesem Zeitraum widersprach das in den von der Klägerin betriebenen Erste-Hilfe-Stellen praktizierte Verfahren zur Erhebung der Praxisgebühr den gesetzlichen bzw. vertraglichen Bestimmungen, so dass eine Pflichtverletzung im Ergebnis zu bejahen ist.

Eine schriftliche Aufforderung der Patienten in den Erste-Hilfe-Stellen, die Praxisgebühr zu entrichten bzw. die Aushändigung eines Überweisungsträgers sind nach Auffassung der Kammer nicht hinreichend, um ein effektives Einzugsverfahren zu gewährleisten. Auch in Notfallstellen ist es grundsätzlich möglich und zumutbar, die Zuzahlung entweder vor Behandlungsbeginn oder unmittelbar nach Beendigung der Behandlung zu verlangen, etwa anlässlich der Aushändigung der Versichertenkarte. Die Kammer sieht es nicht als belegt an, dass es bei der ambulanten Versorgung in Erste-Hilfe-Stellen der gesundheitliche Zustand der Versicherten in einer Vielzahl von Fällen nicht ermöglicht, die Leistung der Zuzahlung grundsätzlich noch vor Beginn der Behandlung zu verlangen. Bei schwerwiegenden Notfällen wird in den meisten Fällen eine stationäre Aufnahme der Patienten erfolgen, bei der keine Praxisgebühr anfällt. Die ambulante Versorgung in den Erste-Hilfe-Stellen ist in der Regel leichteren und mittelschweren Notfällen vorbehalten.

Wenn es den niedergelassenen Vertragsärzten möglich ist, den Einzug der Praxisgebühr durch die Arzthelferin, die am Empfang die Krankenversichertenkarte einliest, zu organisieren, dann muss dies erst recht in einem Krankenhaus mit seinen höheren personellen Kapazitäten möglich sein.

Weist die Klägerin auf die fehlende Patientenbindung in Erste-Hilfe-Stellen hin, so erscheint dies plausibel. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Hemmschwelle für Patienten, die Praxisgebühr (nach bereits erfolgter Behandlung) nicht mehr zu bezahlen, im Rahmen einer einmaligen Notfallbehandlung niedriger ist als in einer Arztpraxis, die man immer wieder aufsucht und in der man als Patient bekannt ist. Dieser Umstand entbindet die Klägerin jedoch nicht von der Verpflichtung zum Einzug der Praxisgebühr. Vielmehr korrespondiert der fehlenden Patientenbindung die Pflicht, das Einzugsverfahren besonders gut zu organisieren und darauf hinzuwirken, dass die Praxisgebühr im Regelfall noch vor der Behandlung entrichtet wird.

Vorliegend zeigten sich in den Quartalen I/2005 bis IV/2006 bei der Organisation des Einzugsverfahrens durch die Klägerin jedoch strukturelle Defizite, die für den ganz überwiegenden Teil der Nichtzahlerquoten verantwortlich sein dürften. Wie die Klägerin selbst vorträgt, war eine Barzahlung zunächst nur zu den üblichen Kassenzeiten, werktags von 8 Uhr bis 15 Uhr, möglich, und erst ab dem III. Quartal 2006 wurde auch eine weitergehende Barzahlungsmöglichkeit für den Zeitraum zwischen 9 Uhr und 23 Uhr geschaffen. Gerade in den Abendstunden treten die Erste-Hilfe-Stellen in den Krankenhäusern jedoch nicht in Konkurrenz zu der Notfallversorgung durch niedergelassene Vertragsärzte. Eine Barzahlungsmöglichkeit für Versicherte bestand damit gerade nicht in einer Zeitspanne, in der die Erste-Hilfe-Stellen der Klägerin vermehrt zur ambulanten Notfallversorgung in Anspruch genommen werden. Angesichts des Umstandes, dass Kleinbeträge – wie hier die Praxisgebühr von 10 Euro – in Deutschland in den allermeisten Fällen bar und nur relativ selten bargeldlos durch EC-Karte entrichtet werden, kommt der Möglichkeit zur Barzahlung in einem Zeitraum, in dem die Rettungsstellen der Krankenhäuser erfahrungsgemäß stärker frequentiert werden, besonderes Gewicht zu.

Hinzu kommt, dass sich die Kammer nicht vollends davon überzeugen konnte, dass ab dem Quartal III/2006 in der Zeit zwischen 9 Uhr und 23 Uhr eine Barzahlungsmöglichkeit tatsächlich durchgehend bestand. Zweifel hieran ergeben sich aufgrund des Protokolls der Schlichtungsstelle vom 15. Dezember 2008. Danach war die Klägerin von der Schlichtungsstelle gebeten worden, die ab dem Quartal III/2006 geltenden schriftlichen Arbeits- und Dienstanweisungen vorzulegen, war dieser Aufforderung aber nicht nachgekommen. Ein Vertreter der Krankenkassen wusste ausweislich dieses Protokolls zudem zu berichten, dass ihm bei einem privaten Besuch der Erste-Hilfe-Stelle im Klinikum B F außerhalb der Kassenzeiten von 8 Uhr bis 15 Uhr die Entrichtung der Praxisgebühr in bar verwehrt worden war.

Weiterhin wurden laut Protokoll der Schlichtungsstelle vom 7. August 2008 sowie nach den Aussagen in der mündlichen Verhandlung von Frau G, Abteilung Finanzen und Rechnungswesen der C, und von Frau W, Abteilungsleiterin des ambulanten Patientenmanagements der C, Rechnungen über die Praxisgebühr mit ggf. nachfolgender Mahnung erst seit dem I. Quartal 2007 ausgestellt. Vorher erfolgte bei Nichtzahlung der Praxisgebühr zwar nach Ablauf des jeweiligen Quartals eine Mahnung; anlässlich der Notfallbehandlung wurde den Patienten jedoch, soweit sie die Praxisgebühr nicht entrichteten und auch kein Befreiungstatbestand zur Zahlung von der Praxisgebühr vorlag, lediglich ein Informationspaket zur Praxisgebühr ausgehändigt, jedoch keine Rechnung, deren Entgegennahme sie hätten quittieren müssen (anders als ab dem Quartal I/2007, siehe dazu unten). In diesem Umstand sieht die Kammer ein bis einschließlich des IV. Quartals 2006 bestehendes, gewichtiges organisatorisches Defizit, das die ausgesprochen hohen Nichtzahlerquoten im Zeitraum der Quartale I/2005 bis IV/2006 mit erklärt.

Die Kammer hat auch keine Bedenken dagegen, dass die Nichteinbehaltungsquote von 10%, ab der nicht eingezogene Praxisgebühren zurückbehalten werden können, gleichermaßen für die ambulante Versorgung in Erste-Hilfe-Stellen in Krankenhäusern und für die Versorgung durch niedergelassene Vertragsärzte gilt. Gewichtige Unterschiede, die die Anwendung einer unterschiedlich hohen Nichteinzugsquote gebieten würden, sind nicht zu erkennen. Der geringeren Patientenbindung in den Erste-Hilfe-Stellen kann durch einen Einzug grundsätzlich vor Beginn der Behandlung zu begegnen. Dem stehen – wie oben dargelegt – in der ambulanten Versorgung (im Gegensatz zur stationären Versorgung) in aller Regel auch keine zwingenden medizinischen Gründe entgegen. Der Einzug der Praxisgebühr etwa zusammen mit dem Einlesen der Krankenversichertenkarte lässt sich in Krankenhäusern grundsätzlich genauso gut organisatorisch bewerkstelligen wie in Vertragsarztpraxen. Die Vertragsparteien waren somit im Rahmen ihres Gestaltungsermessens berechtigt, in der ambulanten Notfallversorgung in den Erste-Hilfe-Stellen die gleiche Quote wie in der Versorgung durch niedergelassene Vertragsärzte zugrunde zu legen.

Der den Krankenkassen entstandene Schaden ist auch kausal auf diese Pflichtverletzung zurückzuführen. Es ist davon auszugehen, dass bei pflichtgemäßem Einzug der Praxisgebühr und einer deutlich besseren Organisation die Nichteinzugsquote unter 10% hätte gesenkt werden können.

Die angefochtene Feststellung der Beklagten ist auch nicht deshalb rechtswidrig, weil die Beklagte das Schlichtungsverfahren nicht bereits zugleich mit der Ausübung des Zurückbehaltungsrechts bzw. zeitnah eingeleitet hat: Zwar heißt es in § 18 Absatz 7 a Satz 3 BMV-Ä, dass die Kassenärztliche Vereinigung gleichzeitig mit einer Geltendmachung des Zurückbehaltungsrechts in Abstimmung mit der zuständigen Krankenkasse ein Schlichtungsverfahren nach § 49 BMV-Ä einleitet. Vorliegend wurde das Schlichtungsverfahren gemäß § 49 BMV-Ä bzw. § 45 EKV von der Beklagten indes erst durch Schreiben vom 28. April 2008 eingeleitet. Zum 28. Juli 2008 wurde die Klägerin für die Schlichtungsverhandlung geladen. Dieser Mangel an zeitlicher Konkordanz hat jedoch nach Auffassung der Kammer nicht zur Folge, dass die Beklagte ihren Schadensersatzanspruch verlieren würde. Eine entsprechende Rechtsfolge ist in § 18 Absatz 7 a BMV-Ä nicht vorgesehen. Vielmehr handelt es sich bei der in § 18 Absatz 7 a Satz 3 BMV-Ä um eine bloße Ordnungsvorschrift im Interesse einer zügigen Entscheidung über etwaige Schadensersatzansprüche, ohne dass ein Verstoß gegen die dort geforderte Gleichzeitigkeit einen Rechtsverlust nach sich ziehen könnte.

Soweit die Klägerin ausführt, die Beklagte habe hinsichtlich der Zurückbehaltung für das III. Quartal 2007 ohne Rechtsgrundlage gehandelt, da das Zurückbehaltungsrecht aus § 18 Absatz 7 a BMV-Ä befristet gewesen sei, ist dies unzutreffend. In dem vorliegenden Rechtsstreit geht es darum, ob das in den von der Klägerin betriebenen Erste-Hilfe-Stellen praktizierte Verfahren zur Erhebung der Praxisgebühr den gesetzlichen und vertraglichen Bestimmungen entsprochen hat oder nicht und ob hier eine Pflichtverletzung vorliegt. Es geht aber nicht darum, ob die Voraussetzungen zur Ausübung des Zurückbehaltungsrechts vorgelegen haben und ob die Beklagte dieses ordnungsgemäß ausgeübt hat. Diese Frage ist in dem gegen den Bescheid betreffend die Ausübung des Zurückbehaltungsrechts gerichteten Verfahren zu klären.

Im Übrigen geht aus dem Rundschreiben des GKV-Spitzenverbandes Nr. RS 2010/433 vom 9. September 2010 hervor, dass die Befristung des Teils I der Vertragsänderung nicht in den Bundesmantelverträgen oder einer diesbezüglichen Protokollnotiz fixiert gewesen ist, sondern durch eine Mitteilung im Deutschen Ärzteblatt vom 29. Juni 2005 (DÄBl 2005, A-211 f.) und 13.12.2006 (DÄBl 2007, A-73) bekannt gemacht wurde. Es stellt sich daher die Frage, ob die Befristung der Geltungsdauer des § 18 Absatz 7 a BMV-Ä bzw. § 21 Absatz 7 a EKV, auf die sich die Klägerin beruft, überhaupt rechtswirksam erfolgt ist. Aus der Formvorschrift des § 56 SGB X kann sich nämlich die Notwendigkeit ergeben, dass die Befristung der Geltungsdauer einer bundesmantelvertraglichen Vorschrift im Bundesmantelvertrag selbst zu erfolgen hat.

Diese Frage kann hier aber zum einen aus den vorgenannten Gründen, zum anderen aus folgendem Grund dahinstehen: wie sich aus dem genannten Rundschreiben des GKV-Spitzenverbandes ergibt, hatten die Kassenärztliche Bundesvereinigung und der GKV Spitzenverband unter dem 30. August 2010 vereinbart, die Bundesmantelverträge dahingehend zu ändern, dass die Befristungen des Teils I der Vertragsänderungen vom 29. Juni 2005 und 13. Dezember 2006 aufgehoben werden. Diese Änderung trat zum 1. Juli 2007 in Kraft, so dass die bundesmantelvertraglichen Vorschriften, auf die das Zurückbehaltungsrecht gestützt wurde, bei dessen Ausübung Geltung beanspruchen konnten.

Eine abweichende Beurteilung des Sachverhalts ist auch in Anbetracht des Urteils des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 17. November 2010, Az. L 7 KA 64/09, nicht geboten. Dieses Urteil betrifft die Frage der Rechtmäßigkeit der Zurückbehaltung von Honorar wegen der Nichteinbehaltung der Zuzahlung nach § 28 Absatz 4 SGB V, während es vorliegend um die Frage einer Pflichtverletzung und eines daraus resultierenden Schadens geht. Jenem Urteil lag damit ein anderer rechtlicher Sachverhalt zugrunde. Überdies resultierte die Aufhebung der angefochtenen Bescheide in jenem Verfahren aus Ermessensfehlern, war also deutlich auf den Einzelfall bezogen.

Für den Zeitraum der Quartale I/2007 bis III/2007 kann der Klägerin indes keine Verletzung vertragsärztlicher Pflichten im Zusammenhang mit dem Nichteinzug der Praxisgebühr vorgeworfen werden.

Nach den Ausführungen in der mündlichen Verhandlung von Frau G, Abteilung Finanzen und Rechnungswesen der Charité, sowie von Frau W, Abteilungsleiterin des ambulanten Patientenmanagements der Charité, wurde das Abrechnungssystem der Klägerin zum I. Quartal 2007 dahingehend umgestellt, dass jeder Patient – sofern er die Praxisgebühr nicht direkt bei Behandlung entrichtete und auch kein Befreiungstatbestand vorlag – automatisch eine Rechnung über die Praxisgebühr erhielt, deren Entgegennahme er quittieren musste. Zudem erfolgte bei Nichtzahlung der Praxisgebühr zum Quartalsende eine Mahnung. Es fällt auch auf, dass mit dieser Verbesserung der organisatorischen Vorkehrungen zum Einzug der Praxisgebühr die Nichtzahlerquoten signifikant zurückgingen. Diese schwankten im Jahr 2007 in allen drei Rettungsstellen noch zwischen 26,48% und 36,59%, während sie zuvor fast durchweg über 40% lagen, mit Spitzenwerten von nahezu 60%.

Weitere organisatorische Maßnahmen zur Sicherstellung der Bezahlung der Praxisgebühr konnte die Beklagte von der Klägerin nach Auffassung der Kammer nicht erwarten. Es ist nicht jede denknotwendige Maßnahme erforderlich, um die Nichtzahlerquoten weiter zu minimieren. Dies gilt jedenfalls für solche Maßnahmen, von denen im Hinblick auf die Zahlung der Praxisgebühr nur geringe Mehrerträge zu erwarten sind, die aber andererseits mit einem unverhältnismäßig hohen Verwaltungsaufwand einhergehen. Die Kammer misst daher dem Umstand, dass auch ab dem I. Quartal 2007 zwischen 23 Uhr und 9 Uhr keine Möglichkeit zur Barzahlung der Praxisgebühr bestand, keine entscheidende Bedeutung bei. Die Klägerin hat durch ihre Abteilungsleiterin des ambulanten Patientenmanagements, Frau W, mitteilen lassen, dass nur 10% - allenfalls 15% - der ambulanten Behandlungsfälle die Rettungsstellen während dieser Zeitspanne aufsuchen. Die nach wie vor recht hohen Nichtzahlerquoten können also allenfalls marginal durch den Umstand bedingt sein, dass in der Zeitspanne einer niedrigen Frequentierung der Rettungsstellen keine Möglichkeiten zur Barzahlung bestanden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i.V.m. §§ 155 Abs. 1 Satz 1, 162 Abs. 3 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Sie folgt dem Umfang des jeweiligen Obsiegens und Unterliegens der Beteiligten. Kosten der Beigeladenen waren nicht erstattungsfähig, da sie jeweils keinen eigenen Antrag gestellt haben und somit kein eigenes Kostenrisiko eingegangen sind.
Rechtskraft
Aus
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