L 19 AS 1651/11 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
19
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 204 AS 23591/11 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 19 AS 1651/11 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 06. September 2011 geändert. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin zu 2) vorläufig für den 06. September 2011 bis zum 30. September 2011 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts und Kosten der Unterkunft und Heizung in Höhe von insgesamt 344,83 Euro zu zahlen. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers zu 1) gegen den Bescheid vom 18. Juli 2011 wird angeordnet, soweit die Aufhebung der Leistungsbewilligung für den Monat September 2011 betroffen ist. Der Antrag des Antragstellers zu 3) wird als unzulässig verworfen. Im Übrigen wird der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes abgelehnt. Der Antragsgegner hat den Antragstellern zu 1) und 2) die Hälfte der notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Antragsteller zu 1) und 2) sind die Eltern des 1993 geborenen, schwerbehinderten und mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Antragstellers zu 3) und beziehen von dem Antragsgegner seit einigen Jahren Grundsicherungsleistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II). Der Antragsteller zu 1) arbeitet seit dem 01. Juli 2011 als Hilfsarbeiter bei der IS-KI Hoch- und Tiefbau GmbH zu einem Arbeitslohn von 480,- Euro brutto und 432,28 Euro netto, der am Ende eines jeden Monats nachträglich ausgezahlt wird.

Den Antragstellern wurde mit Bescheid vom 15. März 2011 Leistungen für den Zeitabschnitt vom 01. April bis zum 30. September 2011 bewilligt und zwar, bezogen auf den hier streitigen Monat September 2011, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von 305,19 Euro (Antragstellerin zu 2)), 305,20 Euro (Antragsteller zu 1)) sowie 157,61 Euro (Antragsteller zu 3)) und Kosten der Unterkunft (KdU) und Heizung in Höhe von 180,66 Euro (Antragstellerin zu 2)) sowie für die Antragsteller zu 2) und 3) jeweils 180,67 Euro. Mit den Änderungsbescheiden vom 25. März 2011, 22. Juni 2011, 28. Juni 2011, 05. Juli 2011 und 18. Juli 2011 ist die Bewilligung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts mehrfach nach § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) teilweise aufgehoben worden, u. a. wegen der Erzielung von Einkommen durch den Antragsteller zu 1). Gegen den Bescheid vom 25. März 2011 (Widerspruchsbescheid vom 05. Mai 2011) haben die Antragsteller wegen der Höhe der KdU und Heizung Klage bei dem Sozialgericht Berlin erhoben, die unter dem Aktenzeichen S 77 AS 13223/11 anhängig ist. Zuletzt wurde die Bewilligung von Grundsicherungsleistungen für die Antragstellerin zu 2) mit dem Bescheid vom 05. Juli 2011 wegen ihrer nicht genehmigten Ortsabwesenheit ab dem 25. Juli 2011 aufgehoben. Den dagegen eingelegten Widerspruch nahm die Antragstellerin zu 2) zurück, nachdem ihr der Antragsgegner mit Schreiben vom 10. August 2011 versichert hatte, die Leistungen für sie würden ab dem 05. August 2011 wieder aufgenommen werden, da sie sich an diesem Tag persönlich aus der Ortsabwesenheit zurückgemeldet habe. Tatsächlich ist die Leistungserbringung für sie erst am 01. Oktober 2011 wieder aufgenommen worden (Bescheid vom 22. September 2011). Mit Änderungsbescheid vom 18. Juli 2011 teilte der Antragsgegner der Antragstellerin zu 2) mit, dass er die Leistung auch für den Antragsteller zu 1) ab dem 25. Juli 2011 nicht mehr erbringe, da dieser sich ab diesem Zeitpunkt ebenfalls außerhalb des zeit- und ortsnahen Bereichs aufhalte. Mit diesem Bescheid wurden dem Antragsteller zu 3) Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für August und September 2011 in Höhe von 176,- Euro und KdU und Heizung in Höhe von 180,66 Euro monatlich bewilligt. Gegen diesen Bescheid legten die Antragsteller Widerspruch ein, der mit dem ersten und bindend gewordenen Widerspruchsbescheid vom 27. Juli 2011 und dann nochmals mit dem Widerspruchsbescheid vom 07. September 2011 als unzulässig verworfen wurde, weil der Änderungsbescheid vom 05. Juli 2011 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 18. Juli 2011 gemäß § 86 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Gegenstand des Verfahrens gegen den ursprünglichen Bewilligungsbescheid vom 25. März 2011 geworden sei. Der Antragsteller zu 1) hatte unter Vorlage einer Lohnabrechnung für den Monat Juli 2011 seinen Widerspruch damit begründet, er sei zu keiner Zeit ortsabwesend gewesen, denn er habe ab dem 01. Juli 2011 eine Tätigkeit als Bauhelfer aufgenommen.

Am 06. September 2011 haben die Antragsteller bei dem Sozialgericht Berlin beantragt, den Antragsgegner zu verpflichten, ihnen für den Monat September 2011 im Wege der einstweiligen Anordnung Grundsicherungsleistungen in Höhe von 983,64 Euro, hilfsweise von 950,14 Euro zu zahlen. Den Antrag hat das Sozialgericht mit Beschluss vom 06. September 2011 mangels Eilbedürfnis abgelehnt. Gegen diesen Beschluss richtet sich die von den Antragstellern eingelegte Beschwerde, mit der sie an ihrem bisher gestellten Antrag festhalten und zu deren Begründung sie ihr bisheriges Vorbringen wiederholen. Die Antragsteller haben die Lohnabrechnung für den Antragsteller zu 1) für August 2011 vorgelegt. Der Lohn sei am 01. September 2011 bar ausgezahlt worden.

II.

Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde der Antragsteller, deren Anträge individuell zu betrachten sind, ist bezüglich des Antragstellers zu 3) als unzulässig zu verwerfen, denn er ist nicht beschwert. Ihm sind nicht mehr als die mit Bescheid vom 18. Juli 2011 zuerkannten Leistungen zu Sicherung des Lebensunterhalts zu bewilligen, was er auch selbst nicht behauptet. Es ist nämlich bei dieser Berechnung noch nicht berücksichtigt worden, dass der Antragsteller zu 1) – auch – im September 2011 Einkommen bezogen hat, das auf die Leistung der Bedarfsgemeinschaft anzurechnen ist. Die Höhe der KdU und Heizung ist hier nicht streitig.

Der auf die Antragstellerin zu 2) bezogene Antrag ist teilweise begründet. Ihr sind vorläufig Leistungen der Grundsicherung zu gewähren und zwar ab dem Zeitpunkt der Antragstellung am 06. September 2011 bis zum 30. September 2011. Denn die Antragstellerin zu 2) hat entgegen der Auffassung des Sozialgerichts insoweit sowohl einen Anordnungsgrund als auch einen Anordnungsanspruch mit der für die Vorwegnahme der Hauptsache erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit glaubhaft gemacht (§ 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO)).

Unter Beachtung des sich aus Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) ergebenden Gebots effektiven Rechtsschutzes bestehen zunächst gegen die Eilbedürftigkeit der Sache keine Bedenken. Denn der erwerbsfähigen, hilfebedürftigen Antragstellerin zu 2) ist es nicht zuzumuten, eine Entscheidung im Hauptsacheverfahren abzuwarten. Sie ist nach Lage der Akten nicht dazu in der Lage, für den Bedarf im September 2011 auch nur teilweise selbst aufzukommen oder sich auf sonstige Weise selbst zu helfen. Sie benötigt die Leistungen, um ihren laufenden Lebensunterhalt decken zu können. Die mit dem Bescheid vom 18. Juli 2011 erfolgte Zahlung von Leistungen in Höhe von 356,66 Euro deckt allein den Bedarf des schwerbehinderten Antragstellers zu 3) und ist im Übrigen nicht einmal geeignet, die monatliche Miete zu zahlen. Hinsichtlich der nunmehr zuerkannten Leistungen ist auch ein Anordnungsanspruch zu bejahen. Er ergibt sich im Fall der Antragstellerin zu 2) bereits aus dem als Zusicherung im Sinne des § 34 SGB X zu wertenden Zugeständnis des Antragsgegners in seinem Schreiben vom 10. August 2011. Hier hat er nicht nur bestätigt, dass sich die Antragstellerin zu 2) am 05. August 2011 aus der Ortsabwesenheit zurückgemeldet hat, sondern hat ausgeführt: "Da , werden die Leistungen ab diesem Zeitpunkt für sie wieder aufgenommen werden." Dies ist eine Zusage, einen bestimmten Verwaltungsakt später zu erlassen, der den Bevollmächtigten der Antragstellerin zu 2) immerhin bewogen hat, seinen Widerspruch gegen den Bescheid vom 05. Juli 2011 zurückzunehmen. Aus welchem Grund eine Weiterbewilligung nicht erfolgt ist, hat der Antragsgegner trotz Nachfrage des Senats nicht erklären können. Der Antragstellerin zu 2) sind daher 344,83 Euro vorläufig zuzusprechen. Der Senat hat sich dabei an der Berechnung in dem Bewilligungsbescheid vom 22. September 2011 orientiert, aus dem sich unter Berücksichtigung des von dem Antragsteller zu 1) auch im Oktober 2011 erzielten Nettoeinkommens von 432,28 Euro für die Antragstellerin zu 2) ein monatlicher Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von 233,13 Euro und auf KdU und Heizung in Höhe von 180,66 Euro ergibt. Bezogen auf die Zeit vom 06. September bis zum 30. September 2011 macht dies einen Betrag von 344,83 Euro aus (233,13 Euro + 180,66 Euro = 413,79 Euro: 30 = 13,793 Euro x 25 Tage = 344,83 Euro).

Der Antrag des Antragstellers zu 1) war auszulegen. Sein Begehren, Grundsicherungsleistungen für September 2011 zu erhalten, ist nur zulässig, indem sein Antrag als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 18. Juli 2011 gemäß § 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG umgedeutet wird. Denn mit diesem Bescheid ist der ursprüngliche Bewilligungsbescheid vom 15. März 2011 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 25. März 2011, 22. Juni 2011, 28. Juni 2011 und 05. Juli 2011 gemäß § 48 SGB X wegen vermeintlicher Ortsabwesenheit ab dem 25. Juli 2011 bis zum Ablauf des Bewilligungsabschnitts am 30. September 2011 aufgehoben und die dadurch bewilligten Leistungen sind entzogen worden. Weder Widerspruch noch die in der Hauptsache zu erhebende Anfechtungsklage haben aufschiebende Wirkung (§ 86 a Abs. 2 Nr. 4 SGG i. V. m. § 39 Nr. 1 SGB II). Ob der Bescheid vom 18. Juli 2011 gemäß § 96 SGG tatsächlich Gegenstand des Verfahrens bei dem Sozialgericht Berlin - S 77 AS 13223/11 – geworden ist, bedarf hier angesichts der Folgen einer Anordnung der aufschiebenden Wirkung von Klage oder Widerspruch gemäß § 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG, die ganz oder teilweise angeordnet werden kann, keiner abschließenden Entscheidung, da sich die Folgen für den Antragsteller zu 1) im einstweiligen Rechtsschutz nicht unterscheiden. Der Bescheid vom 18. Juli 2011 ist auch noch nicht bestandskräftig geworden, denn gegen den Widerspruchsbescheid vom 07. September 2011 kann zum einen noch innerhalb der Monatsfrist des § 87 Abs. 1 SGG Klage erhoben werden, zum anderen vertritt der Antragsgegner die Auffassung, der Bescheid sei Gegenstand des bereits anhängigen Klageverfahren S 77 AS 13223/11 geworden. Vor dem Hintergrund des im Rahmen einer Aufhebungsentscheidung grundsätzlich bestehenden Vorranges des öffentlichen Vollzugsinteresses gegenüber dem privaten Aufschubinteresse kommt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung nur dann in Betracht, wenn entweder ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Bescheide bestehen oder andere Gründe ausnahmsweise zu einem Vorrang des privaten Aufschubinteresses führen. Vorliegend bestehen ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheids. Der Antragsgegner trägt zwar vor, er habe mit dem Änderungsbescheid vom 18. Juli 2011 die vorangegangenen Bewilligungsbescheide aufgehoben. Der Bescheid vom 18. Juli 2011 ist auch mit dem Hinweis überschrieben "Änderung zum Bescheid vom 05. Juli 2011 über Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts". Ob der Bescheid, der nicht klar erkennen lässt, gegen welchen Leistungsempfänger er sich richtet und welche Leistungen und welchen Bewilligungszeitraum er abändert, hinreichend bestimmt ist, braucht hier nicht entschieden zu werden, denn auch in der Sache dürfte der Bescheid vom 18. Juli 2011 rechtswidrig sein. Denn der Antragsteller zu 1) hat durch Vorlage seines Arbeitsvertrags mit der IS-KI Hoch- und Tiefbau GmbH vom 01. Juli 2011 und den Lohnabrechnungen für Juli und August 2011 mit der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren erforderlichen Wahrscheinlichkeit glaubhaft gemacht, dass er nicht ab dem 25. Juli 2011 ortsabwesend war. Damit hätte die Aufhebung für September 2011 nicht wegen ungenehmigter Ortsabwesenheit, jedoch wegen der Erzielung von Einkommen erfolgen müssen. Bei Anrechnung des erzielten Einkommens von 432,28 Euro gemäß § 11 SGB II ergäben sich Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von 233,12 Euro und KdU und Heizung in Höhe von 180,67 Euro, insgesamt 413,79 Euro. Die geringfügige Differenz zwischen der Leistungsbewilligung für den Antragsteller zu 1) für September 2011 mit dem Bescheid vom 05. Juli 2011 über 10,29 Euro rechtfertigt es, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs insoweit anzuordnen, als die vollständige Leistungsbewilligung für September 2011 betroffen war.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer analogen Anwendung von § 193 SGG und trägt dem teilweisen Obsiegen der Antragsteller Rechnung.

Der Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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