L 6 RA 177/98

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 9 An 4824/93
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 6 RA 177/98
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 2. September 1998 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Anerkennung von Beitragszeiten in Jugoslawien im Zeitraum von 1945 bis 1948.

Der 1924 in Jugoslawien geborene Kläger - jetzt wohnhaft in Israel - gehört als Jude zum Personenkreis der Verfolgten des Nationalsozialismus. Im Jahre 1948 wanderte er von Jugoslawien nach Israel aus. Im November 1990 stellte er bei der Beklagten einen Antrag auf Anerkennung von Beitragszeiten nach dem Fremdrentengesetz (FRG), da auf ihn § 20 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) und § 17 a FRG anwendbar seien. Der Kläger legte hierzu Erklärungen vor von Anton Gregor, Arje Hauer, Laszlo Vig sowie Eva Bergel. Der damalige jugoslawische Versicherungsträger bescheinigte folgende Beitragszeiten: 20. November 1945 bis 15. Juni 1946, 2. November 1946 bis 31. Dezember 1946, 1. April 1947 bis 24. April 1947 und 11. August 1948 bis 30. November 1948. Die Beklagte ließ durch das israelische Finanzministerium eine Sprachprüfung durchführen. Dort gab der Kläger an (Bericht vom 16. Oktober 1991): Die Umgangssprache im Elternhaus sei Deutsch gewesen, mit “Fremden und Bekannten” habe er auch ungarisch und serbokroatisch gesprochen. Er habe nie deutsch schreiben gelernt. Er habe sechs Geschwister gehabt und nur zwei ältere Geschwister - er sei das fünfte Kind - hätten deutsch schreiben gelernt. Sein Vater sei Inhaber eines Lebensmittelgeschäftes gewesen und habe daneben als Sprachlehrer für Deutsch und Französisch gearbeitet. Die Unterrichtssprache in der Schule und in der Handelsschule sei Serbokroatisch gewesen. Der Prüfer führte aus, der Kläger spreche Deutsch fließend wie eine Muttersprache und lese deutsche Texte fließend mit vollem Verständnis. Er sei der Ansicht, dass der Kläger zur Zeit seiner Auswanderung 1948 dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört habe.

Mit Bescheid vom 22. Februar 1993 lehnte die Beklagte die Anerkennung von Beitragszeiten im Zeitraum von Juli 1945 bis Dezember 1948 ab, weil diese Zeit weder nachgewiesen noch glaubhaft gemacht sei. Der Widerspruch des Klägers blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 22. Oktober 1993).

Hiergegen hat der Kläger vor dem Sozialgericht Berlin Klage erhoben. Die Beklagte hat am 6. Juli 1998 einen Bescheid erlassen, in welchem es heißt, die Anerkennung von Zeiten nach dem FRG werde abgelehnt, da dieses Gesetz auf den Kläger nicht anwendbar sei, denn er gehöre nicht zum begünstigten Personenkreis des § 20 WGSVG. Er habe im maßgebenden Zeitpunkt nicht zum deutschen Sprach- und Kulturkreis gezählt, weil er nicht Deutsch schreiben gelernt habe. Die Notwendigkeit, mangels deutscher Schriftkenntnisse jedwede schriftliche Äußerung in einer anderen Sprache vollziehen zu müssen, habe zur Folge, dass diese andere Sprache die Priorität im persönlichen Leben gehabt habe. Der Kläger hat beantragt, unter Aufhebung des Bescheides vom 22. Februar 1993 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Oktober 1993 sowie des Bescheides vom 6. Juli 1998 die Tätigkeit vom 20. November 1945 bis 15. Juni 1946, 2. November 1946 bis 31. Dezember 1946, 1. April 1947 bis 24. April 1947 und 11. August 1948 bis 30. November 1948 als glaubhaft gemachte Beitragszeit nach dem FRG anzuerkennen.

Am 2. September 1998 hat das Sozialgericht die Beklagte antragsgemäß verurteilt und dazu ausgeführt, der Anspruch auf Anerkennung der genannten Beitragszeiten ergebe sich aus den §§ 17 a, 15 FRG. Der Kläger habe im maßgebenden Zeitpunkt - April 1941 - zum deutschen Sprach- und Kulturkreis gehört. Entgegen der Auffassung der Beklagten sei nicht entscheidend, dass er Deutsch nicht schreiben könne und dies nach seinen Angaben auch nie gelernt habe. Der Kläger habe in seinem persönlichen Bereich überwiegend deutsch gesprochen. Er habe überzeugend dargelegt, warum er die deutsche Sprache nicht schriftlich beherrsche. In der Schule sei Serbokroatisch gelehrt worden, auch habe er sich im Beruf dieser Sprache bedient. Er habe daher die deutsche Sprache nicht als Schriftsprache benötigt.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung der Beklagten, die vorträgt: Der Kläger gehöre nicht zum deutschen Sprach- und Kulturkreis, weil er nicht Deutsch schreiben gelernt habe. Er sei mehrsprachig, nämlich er beherrsche Serbokroatisch, Ungarisch und Deutsch. Seine Schul- und Handelsschulbildung habe er in Serbokroatisch absolviert. Sein Vater sei Sprachlehrer für Deutsch und Französisch gewesen, dennoch habe der Kläger nie Deutsch schreiben gelernt. Hiernach sei es im Gegensatz zu den Ausführungen des Sozialgerichts nicht ausreichend erklärt, weshalb der Kläger nicht Deutsch schreiben gelernt habe. Die völlig fehlende Fähigkeit, sich in der deutschen Sprache schriftlich auszudrücken, könne nur zur Folge haben, dass der Kläger sein ganzes Leben lang eine andere Sprache - wohl Serbokroatisch - als Schriftsprache benutzt habe, die zwingend Priorität im persönlichen Leben gehabt habe.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 2. September 1998 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er habe im Elternhaus deutsch gesprochen. In seiner Erklärung vom 28. März 1999 heißt es: “Mein Vater war Religionslehrer und unterrichtete auch Gebete in deutscher Sprache und war somit imstande, meinen Schwestern Deutschunterricht zu geben. Uns älteren Brüdern blieb keine Zeit zum Lernen übrig ... Ich brachte mir das Lesen selbst bei, da ich die lateinischen Buchstaben kannte und die deutsche Sprache auch sprach. Ich lernte das methodische Schreiben der deutschen Sprache nie.” Der Kläger beantragt, die Zeugen Vig, Hauer und Bergel zu seinem mündlichen Sprachgebrauch im persönlichen Lebensbereich vernehmen zu lassen.

Das israelische Finanzministerium hat auf Anfrage mitgeteilt, dass der Kläger bei seinem dort 1989 gestellten Rentenantrag die Frage nach der Muttersprache nicht beantwortet habe.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte, insbesondere die Schriftsätze der Beteiligten, und auf die Rentenakte der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig und auch begründet. Das Urteil des Sozialgerichts ist nicht zutreffend.

Der Kläger hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Anerkennung der nachgewiesenen Beitragszeiten im Zeitraum von 1945 bis 1948 (vgl. § 149 Abs. 5 des Sechsten Buches des Sozialgesetzbuches), denn auf ihn ist das FRG nicht anwendbar. Auf den Kläger kommt die Anwendung des FRG nur über § 20 WGSVG oder den am 1. Juli 1990 in Kraft getretenen § 17 a FRG in Betracht. Für beide Tatbestände ist es erforderlich, dass die Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis glaubhaft gemacht ist (§§ 3 WGSVG bzw. 4 FRG), und zwar im Zeitpunkt der Auswanderung 1948 bzw. - wenigstens - im Zeitpunkt des Beginns des nationalsozialistischen Einflusses im Herkunftsgebiet des Klägers im April 1941. Nach beiden Vorschriften ist es erforderlich, dass der Kläger zum maßgeblichen Zeitpunkt dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört hat. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) kommt dem Gebrauch der deutschen Sprache für die Zugehörigkeit zu diesem Kreis eine ausschlaggebende Bedeutung zu (vgl. unter anderem BSG in Sozialrecht 5070 § 20 Nr. 2 bis 5). Denn wer eine Sprache im persönlichen Bereich ständig gebraucht, gehört nicht nur diesem Sprachkreis, sondern auch dem durch diese Sprache vermittelten Kulturkreis an, weil sie ihm den Zugang zu dessen Weltbild und Denkwelt erschließt. Die Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis ergibt sich daher im Regelfall aus dem zumindest überwiegenden Gebrauch der deutschen Muttersprache im persönlichen Bereich, der in erster Linie die Sphäre von Ehe und Familie, aber auch den Freundes- und Bekanntenkreis umfasst. Eine Mehrsprachigkeit steht der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis nicht entgegen, wenn der Verfolgte die deutsche Sprache wie eine Muttersprache beherrscht und sie in seinem persönlichen Bereich überwiegend gebraucht hat. Zum Beherrschen der Sprache in diesem Sinne gehören neben dem Sprechen auch das Lesen und Schreiben, wie der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (Rechtsprechung zum Widergutmachungsrecht 1970 S. 243) und des BSG zu entnehmen ist (vgl. Sozialrecht 5070 § 20 Nr. 4).

Die Zugehörigkeit des Klägers zum deutschen Sprach- und Kulturkreis ist zu verneinen, weil er nie Deutsch schreiben gelernt hat bzw. - wie er sich in seiner Erklärung vom 28. März 1999 ausgedrückt hat - nie das methodische Schreiben der deutschen Sprache erlernt hat. Der gegenteiligen Ansicht des Sozialgerichts in seinem Urteil von 1998 vermag der Senat nicht zu folgen, wobei zu beachten ist, dass ein für die hier zu entscheidende Frage maßgebendes Urteil des BSG erst am 10. März 1999 ergangen ist (mehrere Urteile am gleichen Tage, mit Leitsatz versehen ist B 13 RJ 83/98 R). Wenn das BSG dort ausführt, das Beherrschen der Schriftsprache gehöre nicht zu den “objektiven Mindestanforderungen” einer Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis, so sieht der erkennende Senat darin keine neue Rechtsprechung, sondern nur eine andere Formulierung der Ansicht des BSG (vgl. Sozialrecht 5070 § 20 Nr. 4), dass auf den Bildungsgrad - bis hin zum Analphabeten - abzustellen ist. Der erkennende Senat stimmt dem Urteil vom 10. März 1999 insoweit zu, als das BSG ausführt, bei jemandem, der Deutsch wie eine Muttersprache beherrsche, könne man grundsätzlich erwarten, dass die Deutsch-Kenntnisse mindestens ebenso gut seien wie die Kenntnisse in einer anderen Sprache, die er außerdem beherrsche. Dies bezieht das BSG - wie der Zusammenhang seines Urteils zeigt - auch auf die Schriftsprache. Neu in der Entscheidung des BSG vom 10. März 1999 ist lediglich, dass es meint: “Bei deutscher Muttersprache kommt es insbesondere darauf an, ob für den Verfolgten eine zumutbare Möglichkeit bestanden hat, die deutsche Schriftsprache zu erlernen”. Das BSG definiert nicht, was unter Muttersprache zu verstehen ist, und es gibt dem Landessozialgericht, an welches die Sache zurückverwiesen worden ist, wenige Erläuterungen an die Hand, wie die “zumutbare Möglichkeit” ermittelt werden soll. Vornehmlich hängt nach Ansicht des BSG die Entscheidung dieser Frage davon ab, ob er “eine deutsche Schule besuchen oder zumindest Deutschunterricht erhalten konnte”; weiter sei zu prüfen, ob die Eltern in der Lage gewesen seien, dem Kind das Schreiben beizubringen oder durch Privatunterricht beibringen zu lassen. Führt eine Anfrage bei der zuständigen Heimatauskunftsstelle zu dem Ergebnis, dass eine deutschsprachige Schule im Wohnort oder einem Nachbarort vorhanden war, müsste der jeweilige Kläger unter Beweis stellen, warum ihm deren Besuch nicht zumutbar war. Gelingt ihm die Glaubhaftmachung der Unzumutbarkeit insoweit, trifft den jeweiligen Kläger darüber hinaus die Pflicht, glaubhaft zu machen, dass es seinen Eltern nicht zumutbar war, ihm durch sie selbst oder durch andere Personen die deutsche Schriftsprache beizubringen. Beherrschen die Eltern nicht die deutsche Schriftsprache (sondern nur eine andere Schriftsprache), bestehen wiederum starke Zweifel, ob die Eltern zum deutschen Sprach- und Kulturkreis zählen, von denen aber der jeweilige Kläger gerade seine eigene Zugehörigkeit zu diesem Kreise ableiten möchte. Allerdings erscheint es fast unmöglich, zu dem Ergebnis zu gelangen, dass es Eltern - die die deutsche Schriftsprache beherrschen - nicht zumutbar ist, ihrem Kind diese Schreibfertigkeit zu vermitteln. Vielmehr erscheint es realistisch, dass Eltern, die ihrem Kind nicht die Landessprache, sondern Deutsch als Muttersprache beibringen wollen - und damit eine Entscheidung für die vorherrschende Zugehörigkeit des Kindes zum deutschen Sprach- und Kulturkreis treffen wollen -, alles daran setzen, um ihr Kind in Wort und Schrift das Deutsche erlernen zu lassen. Bringen diese Eltern ihrem Kind lediglich das deutsche Sprechen bei und lassen es im Übrigen in der Landessprache in Wort und Schrift ausbilden, so treffen sie damit die Entscheidung, dass für ihr Kind der deutsche Sprach- und Kulturkreis nicht vorrangig sein soll.

Im Falle des Klägers ist die Frage der Zumutbarkeit schon deshalb zu bejahen, weil sein Vater als Lehrer die deutsche Sprache unterrichtet hat, und es ihm deshalb zumutbar war, auch dem Kläger die deutsche Sprache in Wort und Schrift beizubringen. Die Erklärung, die der Kläger dazu am 28. März 1999 abgegeben hat (vgl. das Zitat im Tatbestand des Urteils), lässt nicht erkennen, dass es seinem Vater etwa nicht zumutbar war. Der Bevollmächtigte des Klägers hat diese Erklärung des Klägers nur mit Schriftsatz vom 2. April 1999 überreicht, ohne sie zu erläutern oder zu kommentieren, obwohl er mit Schreiben vom 31. August 1999 vom Senat auf die Rechtsprechung des BSG zur Zumutbarkeit hingewiesen worden ist. Wenn der damals in Jugoslawien lebende Kläger der deutschen Kultur wirklich stärker als anderen Kulturkreisen verbunden gewesen wäre, hätte er - immerhin war er 1938 schon 14 Jahre alt - auch selbst die Initiative ergreifen können, um sich von seinem Vater oder anderen Personen die deutsche Schriftsprache beibringen zu lassen, zumal er behauptet, sich das Lesen dieser Sprache sogar selbst beigebracht zu haben. Die Notwendigkeit, mangels deutscher Schreibfertigkeit damals jedwede schriftliche Äußerung in einer anderen Sprache (hier das in der Schule und Handelsschule praktizierte Serbokroatisch) vollziehen zu müssen, führt bei realistischer Betrachtung eher dazu, den Kläger dem serbokroatischen Sprach- und Kulturkreis zuzuordnen. Das Schreiben ist eine wesentliche Kulturtechnik, die in der Regel beherrscht werden muss, wenn jemand zu einem bestimmten Kulturkreis gerechnet werden will und er nicht insgesamt - hinsichtlich aller von ihm gesprochenen Sprachen - ein Analphabet ist.

Es ist für die Entscheidung des Rechtsstreits ohne wesentliche Bedeutung, dass der Prüfer des israelischen Finanzministeriums die Meinung vertreten hat, der Kläger habe bis 1948 zum deutschen Sprach- und Kulturkreis gehört. Der Prüfer hat sich nicht dazu geäußert, wie die fehlende Schreibfertigkeit in diesem Zusammenhang zu werten ist, und dies war auch nicht seine Aufgabe. Ob der Kläger im persönlichen Lebensbereich - im maßgebenden Zeitpunkt 1941 bzw. 1948 ? überwiegend deutsch gesprochen hat, kann der Senat offen lassen. Insoweit bedarf es auch nicht der beantragten Vernehmung der drei Zeugen zum mündlichen Sprachgebrauch des Klägers.

Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).

Die Revision war nicht zuzulassen, denn ein Grund hierfür ist gemäß § 160 Abs. 2 SGG nicht gegeben.
Rechtskraft
Aus
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