L 4 P 6/08

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Magdeburg (SAN)
Aktenzeichen
S 4 P 90007/07
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 4 P 6/08
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 5. März 2008 sowie der Bescheid der Beklagten vom 2. August 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Februar 2007 werden aufgehoben.

Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin in beiden Instanzen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Umstritten ist, ob die Beklagte der Klägerin zu Recht Leistungen nach der Pflegestufe II entzogen hat.

Die am ... 1988 geborene Klägerin, die bei der Beklagten pflegeversichert ist, leidet u.a. an einem Morbus down Syndrom. Am 28. August 1991 stellte sie bei der Beklagten den Antrag auf Leistungen bei Schwerpflegebedürftigkeit. Die Klägerin erhielt zunächst Leistungen nach § 53 des Sozialgesetzbuch Fünftes Buch – Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V). Auf Veranlassung der Beklagten erstattete die Ärztin Dr. B. und die Pflegefachkraft G. am 2. März 1998 ein Gutachten für den Medizinischen Dienst der Krankenkassen S. (MDK). Danach ist von einem Grundpflegemehrbedarf gegenüber einem gesunden gleichaltrigen Kind von 103 Minuten auszugehen. Mit Bescheid vom 9. Juli 1998 bestätigte die Beklagte das Vorliegen der Voraussetzungen für die Pflegebedürftigkeit der Stufe II und kündigte eine Wiederholungsbegutachtung im April 1999 an. Die MDK-Pflegefachkraft S. nahm am 6. Mai 1999 einen Hausbesuch bei der Klägerin vor. In dem darauf erstellten MDK-Gutachten vom 26. Mai 1999 finden sich u.a. folgende Angaben: Die Versicherte sei in den Bewegungen sehr verlangsamt und benötige immer eine Beaufsichtigung. Es lägen eine gestörte Motorik, ein plumper Gang sowie Koordinationsstörungen in den Bewegungsabläufen vor. Bei der Hygiene sowie beim Bekleiden sei eine Hilfestellung erforderlich. Eine mundgerechte Zubereitung der Nahrung sei unumgänglich. Bei Toilettengängen sei regelmäßig eine Aufforderung und Begleitung notwendig. Zusammenfassend sei ein Grundpflegebedarf von 121 Minuten anzunehmen. Mit Bescheid vom 21. Mai 1999 bestätigte die Beklagte nochmals die Voraussetzungen der Pflegebedürftigkeit der Stufe II und kündigte für Mai 2001 eine erneute Überprüfung an. Tatsächlich erfolgte diese erst am 20. Juni 2006 durch eine Begutachtung der MDK-Pflegefachkraft S ... Nach Einschätzung der MDK-Gutachterin sei von einem Grundpflegebedarf von 77 Minuten auszugehen (Zeitaufwand für die Hauswirtschaft 45 Minuten). Die nun achtzehnjährige Klägerin (149 cm Körpergröße; Gewicht 62 kg) sei situativ desorientiert und adipös. Sie komme zwar selbstständig zur Untersuchung, antworte jedoch kaum auf Fragestellungen. Neben Knie- und Gelenkbeschwerden seien ein plumpes Gangbild und wenig Ausdauer festzustellen. Eine Hilfe beim Be- und Entsteigen der Badewanne sei erforderlich. Als Ressourcen bestünden eine Sitz- und Rumpfstabilität, eine Fähigkeit zum Positionswechsel nach Aufforderung sowie eine einsetzbare Greif- und Haltefunktion. Die Klägerin könne sich im Wohnbereich zügig bewegen. Im Bereich der Körperpflege betrage der Pflegebedarf 58 Minuten. Die Klägerin könne selbstständig zur Toilette gehen. Ein Hilfebedarf in der Grundpflegeverrichtung Ernährung sei nicht gegeben, da sich die Klägerin bei gedecktem Tisch selbstständig die Schnitten zubereiten könne. Für die Mobilität seien 19 Minuten anzusetzen. Erschwerende Pflegeumstände lägen genau wie ein nächtlicher Grundpflegebedarf nicht vor. Der Hilfebedarf habe sich wie folgt verringert: Die Klägerin könne sich nach notwendiger Vorbereitung der Utensilien selbstständig die Zähne putzen und zur Toilette gehen. Im Bereich der Ernährung könne sie ihre Schnitten selbstständig belegen. Auch im Bereich der Mobilität habe es Verbesserungen gegeben. Zwar habe sich der Gesundheitszustand insgesamt nicht gebessert, es bestehe jedoch gleichwohl eine höhere Selbstständigkeit in den Bereichen des täglichen Lebens.

Im Schreiben vom 17. Juli 2006 hörte die Beklagte die Klägerin zu einer Herabsetzung der Leistungen der Pflegeversicherung nach der Pflegestufe I ab dem 1. September 2006 an. Hiergegen wandte sich die am 27. April 2006 vom Vormundschaftsgericht S. bestellte Betreuerin und Kindesmutter der Klägerin und machte geltend: Angesichts der kurzen Begutachtungszeit verwundere es, wie die MDK-Gutachterin bei der Klägerin erhebliche Verbesserungen habe feststellen können. Aufgrund ihrer geistigen Behinderung sei diese ohne Pflege und Unterstützung völlig hilflos. Es folgten weitere detaillierte Beschreibungen eines typischen Tagesablaufs. Die Klägerin legte ein weiteres psychologisches Gutachten vom 24. November 2005 vor, das vom Arbeitsamt S. in Auftrag gegeben worden ist. Der Diplompsychologe J. hatte darin berichtet: Die Klägerin verhalte sich sehr schüchtern. Beim Auftreten von vier neuen Mitschülern in der Schule habe sie mit sehr starken Verhaltenshemmungen reagiert. Bei der Erledigung alltäglicher Lebensaufgaben benötige sie ständig Hilfe und Kontrolle. Bereits das Zubinden der Schuhe bereite ihr Schwierigkeiten. Den Umgang mit Geld beherrsche sie nicht. Auch das Lesen und Schreiben gelinge ihr kaum. Sie sei nicht in der Lage, selbstständig einfache manuelle Tätigkeiten über einen ganzen Arbeitstag hinweg erfolgreich auszuführen. Während der Gespräche mit der Kindesmutter habe sie kein Wort herausgebracht. Bei der testpsychologischen Untersuchung habe sie ein Ergebnis erzielt, das dem Leistungsstand bei einer schweren und umfassenden geistigen Behinderung entspreche. Das feinmotorische Handgeschick sei deutlich beeinträchtigt. Die Vermittlung von Aufgabenstellungen bereite Probleme. Das langfristige Konzentrationsvermögen auf einfache manuelle Aufgaben sei deutlich reduziert. Ihr Entwicklungsstand sei mit dem eines sechsjährigen Kindes zu vergleichen. Eine Tätigkeit in einer Werkstatt sei aus diesen Gründen bedenklich und eine sozial-pflegerische Einrichtung zu empfehlen, die eine bessere individuelle Betreuung sichern könne. Mit Bescheid vom 2. August 2006 hob die Beklagte den Bescheid vom 9. Juli 1998 auf, entzog die Leistungen nach der Pflegestufe II für die Zukunft und gewährte ab dem 1. September 2006 nur noch Pflegegeld nach der Pflegestufe I. Hiergegen wandte sich die anwaltlich vertretene Klägerin mit Widerspruch vom 23. August 2006 und trug zur Begründung vor: Der zeitliche Aufwand für die Grundpflege habe sich zwischen 1999 und dem aktuellen Zustand nicht geändert. Tatsächlich sei von einem Pflegebedarf von 141 Minuten in der Grundpflege auszugehen. Die Beklagte ließ durch die MDK-Pflegefachkraft O. ein weiteres Gutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit vom 29. November 2006 erstellen. Hiernach sei von einem Zeitaufwand für die Grundpflege von 98 Minuten und in der Hauswirtschaft von 45 Minuten auszugehen. Im Vergleich zur Vorbegutachtung am 6. Mai 1999 habe die Klägerin teilweise an Selbständigkeit gewonnen. So sei sie mittlerweile in der Lage, ihre Zähne teilweise selbstständig zu putzen, Schnitten zu schmieren und benötige insgesamt weniger Hilfe. So erfolgten die Toilettengänge und die Intimhygiene nach Wasserlassen selbstständig. Die Klägerin vergesse nur zu Spülen und benötige eine Aufforderung zum Händewaschen. Das Richten der Kleidung gelinge überwiegend selbstständig. Nur nachts sei eine Begleitung auf die Toilette notwendig. Da Arztbesuche nicht regelmäßig erfolgten, sei kein gesonderter Hilfebedarf notwendig. Der von der Klägerin geltend gemachte Hilfebedarf sei überzogen hoch. Mit Widerspruchsbescheid vom 28. Februar 2007 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.

Hiergegen hat die Klägerin am 20. März 2007 Klage beim Sozialgericht Stendal erhoben und ihr Begehren weiterverfolgt. Zur Bekräftigung ihrer Ansicht hat sie Tagespflegeprotokolle vom 15. Juli 2007 bis 21. Juli 2007 (Bl. 29 bis 44 d. GA) zur Gerichtsakte gereicht. Das Sozialgericht hat Befundberichte der Fachärztin für Gynäkologie und Geburtshilfe Dipl.-Med. H. vom 8. Mai 2007 sowie des Facharztes für Kinder- und Jugendmedizin Dr. H. vom 20. Juni 2007 eingeholt. Dipl.-Med. H. hat mitgeteilt, es seien seit zwei Jahren Blutungsstörungen bei der Klägerin bekannt. In einem beigefügten Arztbrief berichtete die Fachärztin für HNO-Erkrankungen Dr. H. unter dem 15. Februar 2006 über eine seit Jahren fragliche Hörminderung. In einem weiteren Arztbrief gab der Facharzt für Orthopädie Dr. W. unter dem 14. Juni 2004 Deformationen des Köchel und des Fußes sowie Hüftbeschwerden rechts an. Die Beklagte hat die von der Klägerin vorgelegten Pflegeprotokolle auswerten lassen. Die MDK-Pflegefachkraft O. hat unter dem 10. Juni 2007 angegeben: Die vorgetragenen Hilfebedarfe seien überwiegend zu hoch eingeschätzt. Insbesondere die nächtlichen Beruhigungen der Klägerin gehörten nicht zur grundpflegerischen Versorgung. Darüber hinaus hat das Sozialgericht einen Entwicklungsbericht der Klägerin vom Wohnheim C. und ein Abschlusszeugnis des Landesbildungszentrums T. vom 18. Juli 2006 beigezogen. Nach dem Entwicklungsbericht über einen Zeitraum vom September 2006 bis November 2006 benötigte die Klägerin intensive Hilfestellung und vorrangig einer Animation zur Kommunikation. Im Bereich der Feinmotorik habe sie unübersehbare Schwächen. Bei Aufgabenstellungen agiere sie äußerst vorsichtig und langsam. Zur Durchführung von Arbeitsaufträgen benötige sie eine intensive Anleitung sowie eine teilweise stellvertretende oder sogar umfassende Ausführungshilfe. Nur wenig Hilfe benötige sie im Umgang mit alltäglichen und technischen Geräten einfacher Art. Während der Mahlzeiten agiere die Klägerin selbstständig. Die Handhabung der Essutensilien sei ihr geläufig. Das Essen erfolge sehr langsam. Beim Angebot sei die Klägerin recht wählerisch. Das Einordnen von Hunger, Durst oder Appetit in den Lebenszusammenhang falle ihr nicht leicht. Sie benötige zum Aktivwerden immer wieder Aufforderungen. Die Toilettenbenutzung erfolge zumeist ebenfalls nur nach Aufforderung. Hier sei eine intensive Hilfe notwendig. Dies gelte auch für die Monatshygiene. Im Bereich der lebenspraktischen Anleitung wirke sie ohne Anleitung und ohne umfassende Hilfestellung überfordert und schnell orientierungslos. Nach dem Abschlusszeugnis habe die Klägerin im zweiten Halbjahr 2006 eine höhere Bereitschaft gezeigt, die Arbeiten korrekter und sauberer auszuführen. Am Besten seien ihr Arbeiten in der Küche bei der Vor-, Zu- und Nachbereitung gelungen. Im Hauswirtschaftsunterricht verrichte die Klägerin Schälaufgaben mit dem Obst- und Gemüseschäler. Reinigungsarbeiten – wie Tische und Stühle abwischen – verrichte sie sauber und ordentlich. Das Fegen und Wischen müsse weiter trainiert werden, um die erforderliche Selbstständigkeit zu erreichen. Das Bügeln von Geschirrtüchern und Halbschürzen gelinge sehr gut. Wäsche könne sie allein aufhängen und abnehmen. Arbeiten in gehockter Stellung seien der Klägerin nur sehr schwer möglich. Ausdauernd beteilige sie sich an Lernspielen und habe besonderen Erfolg beim Memory. Die Klägerin benötige häufig das persönliche Ansprechen oder die Orientierung bei den Mitschülern, um die Aufgabenstellungen zu verstehen. Hervorzuheben seien die exakten Kenntnisse der Uhrzeit. Beim Umgang mit Geld habe sie Fortschritte erzielt. Beim Sport sei die Klägerin manchmal etwas zurückhaltend und unschlüssig.

Das Sozialgericht hat ein Gutachten der Sachverständigen H. vom 18. Januar 2008 (Untersuchung vom 3. Januar 2008) eingeholt. Hiernach sei der Bedarf in der Grundpflege mit 128 Minuten und in der hauswirtschaftlichen Versorgung mit 78 Minuten täglich zu bewerten. Diese Einschätzung setzte sich u.a. wie folgt zusammen: Die Mutter der Klägerin wasche sie jeden Tag vollständig. Wegen einer trockenen Haut müsse sie eingecremt werden. Da sie nicht ausschnauben könne, erfolge die Nasenreinigung mit Wattestäbchen. Die Augen seien wegen Verklebungen mehrmals am Tag zu reinigen. Die Klägerin verfüge über eine intakte Hand- und Armfunktion, für das selbstständige Waschen fehlte ihr jedoch die Einsicht und die notwendige Motivation. Nach Angaben der Pflegeperson könne die Klägerin den Waschlappen nur ungezielt einsetzen. Am Abend erfolge nochmals eine fast vollständige Körperpflege. Die Klägerin habe Angst, in die Dusche zu gehen und werde lieber gebadet. Sie könne selbst ihre Zähne putzen. Der Vorgang werde jedoch trödelig und wenig sorgfältig ausgeführt. Anschließend müsse die Pflegeperson die Zähne nachreinigen, was zunehmend Missmut auslöse und gutes Zureden erfordere. Aufgrund der fehlenden Feinmotorik könne sich die Klägerin ihr langes Haar nicht selbst kämmen. Sie sei in der Lage Urin und Stuhl zu halten, müsse jedoch teilweise zur Toilette geschickt werden. Gerade in der Tagesplanung, sei ein vorausschauendes Eingreifen der Pflegeperson notwendig, um unpassende Toilettengänge zu vermeiden. Das Entfernen der Kleidung gelinge nur, wenn die Kleidung keine Verschlüsse habe. Beim Ankleiden sei eine Teilhilfe notwendig. Das Nachreinigen nach Stuhlgängen müsse die Pflegeperson vollständig übernehmen. Dies gelte auch für das nachfolgende Waschen der Hände sowie das Abtrocknen. Umfassende Hilfe benötige die Klägerin bei Hygienemaßnahmen in Zusammenhang mit der Regelblutung. Diese sei jedoch nicht anrechenbar, da es sich nicht um einen täglichen Hilfebedarf handele. Teilweise könne die Klägerin die Brotschnitte bei gedecktem Tisch selbst beschmieren. Dies dauere jedoch sehr lange, sei nicht sorgfältig und gelinge auch nur nach jeweiliger Tagesform und ausreichender Motivation. Das An- und Auskleiden erfolge überwiegend durch die Pflegeperson. Ein völlig selbstständiges An- und Ausziehen sei der Klägerin nicht möglich. Wegen des langsamen Handelns, einer teilweise fehlenden Motivation und Einsicht, der geringen Konzentrationsfähigkeit (die Klägerin beschäftige sich zwischenzeitlich mit anderen Dingen, wie spielen, Musik hören, vor sich hinträumen) müsse werktags wegen der terminlichen Vorgaben mehr von der Pflegeperson übernommen werden. An den Wochenenden werde ihr dann deutlich mehr Zeit eingeräumt. Schleifen könne die Klägerin überhaupt nicht binden. Das selbstständige Aufstehen und Zubettgehen gelinge körperlich, könne aber zeitlich nicht organisiert werden. Der Gang sei tapsig und neige zur Unsicherheit. In fremder Umgebung sei sie orientierungslos.

Im Einzelnen setze sich der tägliche Bedarf an Grundpflegeverrichtungen wie folgt zusammen:

I. Körperpflege (66 Minuten)

Ganzkörperwäsche morgens (12 Minuten) (7 x die Woche)

Teilwäsche abends (8 Minuten)

Teilwäsche nach den Mahlzeiten (8 Minuten (4 x 2 Minuten))

Zahnpflege (12 Minuten)

Kämmen (9 Minute)

Darm- und Blasenentleerung einschließlich Kleidung (17 Minuten)

II. Ernährung (10 Minuten)

Mundgerechte Zubereitung der Nahrung/

Vorbereitung der Nahrung (10 Minuten)

III. Mobilität (40 Minuten)

Aufstehen/zu Bett gehen (einschließlich Unruhe/Toilettengänge) (10 Minuten)

Ankleiden gesamt (12 Minuten)

Gehen (10 Minuten)

Treppensteigen Verlassen/Wiederaufsuchen der Wohnung (8 Minuten)

Im Bereich des Waschens, des Anziehens und der mundgerechten Nahrungszubereitung sei größtenteils eine Vollübernahme durch die Pflegeperson notwendig. Dies gelte gerade von Montag bis Freitag, da es die Familie sonst kaum schaffen könne, die Klägerin um 07.00 Uhr pünktlich mit dem Taxi zur Tagesförderstätte fahren zu lassen. Am Wochenende würden der Klägerin mehr eigene Möglichkeiten gegeben, was jedoch mit einem deutlich höheren Zeitbedarf verbunden sei, da sie immer wieder aufgefordert, angeleitet und motiviert werden müsse. Die Klägerin liege zusammenfassend daher deutlich im Bereich der Pflegestufe II.

Die Beklagte hat dem Sachverständigengutachten widersprochen und geltend gemacht: Die von der Sachverständigen ermittelten Pflegezeiten seien teilweise überzogen. Die Pflegezeiten für das Waschen von Händen/Mund von 2 Minuten je Verrichtung entsprächen einer vollen Übernahme am oberen Zeitkorridor der Begutachtungsrichtlinien. Dies sei widersprüchlich, da die Sachverständige selbst von einer teilweisen Verrichtung der Klägerin ausgegangen sei. Richtig sei es daher, lediglich 1 Minute je Verrichtung anzunehmen. Das zweimalige wöchentliche Baden sei mit je 40 Minuten von den Begutachtungsrichtlinien nicht gedeckt. Bei einer vollen Übernahme sei nach den Richtlinien nur von 20 bis 25 Minuten auszugehen. Auch die Zeiten für die Mund- und Zahnpflege seien zu hoch bewertet. Nach den Begutachtungsrichtlinien betrage der Zeitkorridor für die Zahnpflege 5 Minuten. Richtigerweise hätten daher für die Klägerin je Verrichtung 3 Minuten angesetzt werden müssen. Auch die Zeiten für die mundgerechte Zubereitung der Nahrung seien mit 10 Minuten nicht nachzuvollziehen und hätten nur 5 Minuten betragen dürfen. Die festgestellten Zeiten für Aufstehen und Zubettgehen seien durch die Begutachtungsrichtlinien wiederum nicht gedeckt. Bei einer vollen Übernahme sei nach den Richtlinien nur von 1 bis 2 Minuten auszugehen. Gleiches gelte für das An- bzw. Auskleiden. Zudem erfolge das Entkleiden regelmäßig schneller als das Ankleiden. Die von der Sachverständigen festgestellten Zeiten für Stehen, Gehen und Transfer seien unzutreffend. Die Klägerin benötige lediglich Aufforderungen, jedoch keine körperliche Hilfe. Tatsächlich sei zusammenfassend daher von einem Hilfebedarf in der Grundpflege von nur 103 Minuten auszugehen.

Das Sozialgericht Stendal hat mit Urteil vom 5. März 2008 die Klage abgewiesen und im Wesentlichen zur Begründung ausgeführt: Die Klägerin erreiche keinen Grundpflegebedarf von 120 Minuten. Tatsächlich liege dieser nur bei nur 108 Minuten. Für das Waschen seien 28 Minuten anzusetzen (12 Minuten Ganzkörperwäsche; 8 Minuten Teilkörperwäsche; 8 Minuten Waschen von Händen/Gesicht). Für das Baden seien wegen des Haaretrocknens von langem Haar täglich 11 Minuten einzuschätzen. Bei der Zahnpflege sei von insgesamt 12 Minuten auszugehen. Dem Kämmen seien 9 Minuten zuzuordnen. Für den Bereich der Blasen- und Darmentleerung sei von nur fünf Toilettengängen und hierfür ein Grundpflegebedarf von 10 Minuten anzunehmen. Für die mundgerechte Zubereitung der Nahrung sei ein Grundpflegebedarf von nur 5 Minuten gerechtfertigt. Morgens bestehe in diesem Punkt kein Hilfebedarf. Im Bereich des Aufstehens und Zubettgehen seien 5 Minuten zu berücksichtigen. Die Hilfe beim An- und Auskleiden und die Hilfe beim Gehen seien mit 6 Minuten zu bewerten. Hierbei sei die teilweise Selbstständigkeit der Klägerin zu berücksichtigen. Der Transfer in die Badewanne betrage durchschnittlich 1 Minute. Die notwendigen Treppengänge seien mit 8 Minuten zu bewerten.

Die Klägerin hat gegen das ihr am 17. März 2008 zugestellte Urteil am 11. April 2008 Berufung beim Landessozialgericht Sachsen-Anhalt eingelegt. Zur Begründung hat sie im Wesentlichen ausgeführt: Die Vorinstanz habe den Pflegesonderbedarf bei der monatlichen Menstruation zu Unrecht (vgl. § 1 Abs. 4 a Sozialgesetzbuch Elftes Buch – Gesetzliche Pflegeversicherung (SGB XI)) nicht berücksichtigt. Die Angaben der Pflegeperson nach dem Pflegetagebuch seien zutreffend. Von einer Änderung der Verhältnisse könne nicht ausgegangen werden. Die Klägerin hat zur Bekräftigung ihres Vortrages einen Entwicklungsbericht über die Zeit zwischen 2006 und 2008 vorgelegt. Hiernach sei eine Kompetenzsteigerung der Klägerin kaum wahrnehmbar gewesen. Das Toilettentraining solle intensiviert werden. Lernintensive Übungen seien für die Klägerin erkennbar anstrengend und ermüdend. Die Vorinstanz habe sich teilweise zu Unrecht medizinischen Sachverstand angeeignet und sich über Bewertungen der Sachverständigen hinweggesetzt.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Stendal vom 5. März 2008 sowie den Bescheid der Beklagten vom 2. August 2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Februar 2007 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Entgegen der Ansicht der Klägerin führe § 1 Abs. 4 a SGB XI nicht zu einer Erweiterung von Leistungen. Die Vorinstanz habe diesen Gesichtspunkt daher zu Recht unberücksichtigt gelassen. Die Rechtsänderung sei zudem erst am 1. Juli 2008 in Kraft getreten. Das angefochtene Urteil sei genau wie die Bescheide der Beklagten zutreffend.

Der Senat hat einen Pflegebefundbericht vom Facharzt für Kinder und Jugendmedizin Dr. H. eingeholt. In einer nichtöffentlichen Sitzung vom 26. Februar 2010 hat die Betreuerin und Mutter der Klägerin erklärt: Aus ihrer Sicht habe sich in den letzten Jahren in der Pflegesituation der Klägerin nichts geändert. Teilweise habe es sogar Verschlechterungen gegeben, da sie die Klägerin nicht mehr selbst tragen könne. Diese sei jetzt 1,50 m groß und wiege 55 kg. Es werde nach wie vor davon ausgegangen, dass der Pflegebedarf 141 Minuten betrage und unverändert seit 1999 fortbestehe. Die Klägerin hat eine Stellungnahme von Dr. H. vom 28. April 2010 sowie von der Pflegedienstleiterin Malycha vom 23. April 2010 zur Gerichtsakte gereicht. Dr. H. hat mitgeteilt, er habe in den letzten sechs bis acht Jahren bei der Klägerin keine wesentlichen Änderungen im mentalen Bereich feststellen können. Die Reduzierung der Pflegestufe sei ihm nicht nachvollziehbar. Wegen der allgemeinen körperlichen Entwicklung (Gewichtszunahme; Menstruation) sei der Pflegebedarf im Laufe der Zeit sogar aufwändiger geworden. Während die Klägerin im März 1999 33,7 kg gewogen habe, habe sich das Gewicht im Januar 2006 auf 63,3 kg und im Januar 2007 auf 65,1 kg erhöht. Pflegedienstleiterin M. hat mitgeteilt: Sie kenne die Klägerin seit der Geburt und sei seit dieser Zeit Mitarbeiterin in der betreuenden Mütterberatung. Seit Jahren sei bei ihr keine pflegerelevante Veränderung aufgetreten. Die Klägerin sei extrem introvertiert und zu keiner Kommunikation mit Fremden bereit. Der Entwicklungsstand dürfte dem eines fünf- bis sechsjährigen Kindes entsprechen. Darüber hinaus hat die Klägerin ein psychiatrisches Gutachten der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. C. vom 18. März 2006 vorgelegt, das für das Vormundschaftsgericht S. erstattet worden ist. Hiernach sei die Klägerin vom Arbeitsamt als nicht werkstattfähig eingeschätzt worden. Es liege eine erhebliche Sprachbehinderung vor. Die Klägerin sei zeitlich und zur eigenen Person mangelhaft orientiert. So habe sie nur ihren Namen angeben können. Im Kontaktverhalten sei sie stark auf die Mutter fixiert. Mit ihr sei nur eine bruchstückhafte Kommunikation möglich. Die Stimmungslage sei indifferent und emotional eine verminderte Schwingungsfähigkeit festzustellen. Die Frustrationstoleranz sei deutlich eingeschränkt. So neige sie zu Stimmungsauffälligkeiten und einer leichten Reizbarkeit. Die Intelligenz erreiche den Grad einer mindestens mittelgradigen geistigen Behinderung. Eine Betreuungshilfe sei in allen Lebensbereichen notwendig. Die Beklagte hat ein weiteres sozialmedizinisches Gutachten des MDK vom 21. Juni 2010 vorgelegt (O.). Hiernach bestehe kein Grund, von der bisherigen Einschätzung abzuweichen. Trotz des Übergewichts bewege sich die Klägerin ohne Einschränkungen. Die Menstruation sei nicht zu berücksichtigen, da diese nicht wöchentlich und auf Dauer auftrete.

Der Senat hat den Pflegesachverständigen Dipl.-Pflegewirt B. mit der Erstattung eines Gutachtens vom 8. Januar 2011 (Untersuchung vom 5. Januar 2011) beauftragt. Nach seiner Untersuchung beträgt das Gewicht der Klägerin 62,80 kg. Die Handkraftmessung (mit Balldynamometer) ergab 0,20 bar (rechts) und 0,17 bar (links) (Normwert: zwischen 0,7 und 1,2 bar). Die deutlich unterhalb der Norm liegenden Messwerte seien als Ursache für vorhandene Selbstpflegedefizite anzusehen (z.B. beim Umgang mit Verpackungen). Im Balancetest nach Tinetti habe sich ein mangelndes Adaptionsvermögen gezeigt, was auf die geistige Behinderung zurückzuführen sei. In der Gehprobe nach Tinetti habe in körperlicher Hinsicht ein uneingeschränktes Gehen vorgeführt werden können. Die Klägerin habe sich jedoch bei allen Bewegungsabläufen immer wieder umgesehen und auf das Verhalten der Pflegeperson geachtet. Zur Ermittlung des Selbsthilfestatus sei auf den Barthel-Index nach dem Hamburger Einstufungsmanual zurückgegriffen worden. Statt der möglichen 100 Punkte habe die Klägerin 65 Punkte erreicht. Auffällig seien dabei insbesondere die Defizite in den Bereichen Körperpflege, Ernährung, Toilettenbenutzung sowie An- und Auskleiden, da alle Verrichtungen angeleitet, beaufsichtigt und kontrolliert werden müssten. So sei die Klägerin auf der einen Seite in der Lage, die Treppe hinauf- und hinabzugehen. Auf der anderen Seite könne sie mit Verschlüssen überhaupt nicht umgehen. Im Geldzähltest habe sie bereits Mühe gehabt, alle Geldfächer eines Portemonnaies zu finden. Der Geldwert werde dann zwar erkannt, könne jedoch nicht addiert werden. Die Sehprüfung zeige, dass die Klägerin allenfalls eine Sehleistung von etwa 50 % besitze. Hierbei könne – nach Angabe der Pflegeperson – die Brille die Minderung der Sehschärfe nicht ausgleichen. Nach Angaben der Pflegeperson bestehe ein nächtlicher Hilfebedarf beim Aufsuchen der Toilette. Die Klägerin habe gerade nachts Orientierungsprobleme. Auf Nachfrage an die Pflegeperson zeige die Klägerin unter Stress ein Abwehrverhalten. Dies sei werktags regelmäßig in der morgendlichen Grundversorgung der Fall. Ein besonderer Aufwand bestehe bei der Mund- und Zahnpflege, die sich der Sachverständige anlässlich des Hausbesuchs habe vorführen lassen. Diese Verrichtung müsse die Pflegeperson voll übernehmen. Die Klägerin könne bereits nicht einschätzen, wie viel Zahncreme benötigt werde. Auch die Technik der Zahnreinigung werde nicht beherrscht. So beiße die Klägerin auf die Zahnbürste, drehe sie im Mund hin und her, ohne dass von einem Reinigungsvorgang gesprochen werden könne. In einem im Hausbesuch übergebenen Befundbericht der Zahnärztin N. vom 20. Dezember 2010 bestätige sich diese Einschätzung. Die Klägerin sei hiernach wegen ihrer motorischen und geistigen Defizite zu keiner angemessenen Zahnpflege imstande. Als pflegeerschwerender Umstand könne das zeitweilig abwehrende Verhalten eingeschätzt werden. Dies gelte nicht für das Übergewicht, da die Begutachtungsrichtlinien lediglich von absoluten Körpergewichten ausgehe, was die Klägerin nicht erreiche. Bezogen auf das Verhältnis von Körpergewicht zur Körpergröße müsse ein pflegeerschwerender Umstand jedoch wohl bejaht werden. Der aktuell ermittelte Grundpflegebedarf von 167 Minuten und in der hauswirtschaftlichen Versorgung von 51 Minuten habe bereits im Zeitraum September 2006 bis Februar 2007 bestanden. Dies ergebe sich aus der geistigen Behinderung der Klägerin, die ihr Maximum an vorhandenen Entwicklungsmöglichkeiten erschöpft zu haben scheine. Allein sei sie nicht lebensfähig. Die im Vergleich zu den MDK-Gutachten unterschiedlichen Bewertungen seien damit zu erklären, dass die MDK-Gutachterinnen den tatsächlichen Hilfebedarf teilweise nicht korrekt und die Formulargutachten nur unvollständig bearbeitet hätten. Dies ergebe sich exemplarisch aus Folgendem: In dem MDK-Gutachten vom 28. November 2006 sei entgegen der Begutachtungsrichtlinie nicht das verbindlich vorgegebene Formulargutachten verwandt worden. Nach den Begutachtungsrichtlinien seien Wartezeiten bei Arztbesuchen aufzunehmen, was nicht geschehen sei. Entgegen den Vorgaben der Richtlinien sei die Versorgungssituation (nächtlicher Hilfebedarf) nicht dokumentiert worden. Von einem guten Kräftezustand der Klägerin könne nicht die Rede sein. Fragwürdig sei auch die Formulierung im Gutachten, dass die Klägerin "immer mal leise vor sich hin grunzt". Diese Sprachwahl lasse zumindest Zweifel am Grundverständnis der MDK-Gutachterin gegenüber Menschen mit Behinderungen aufkommen. Punkt 3.1 des MDK-Gutachtens sei zudem widersprüchlich, wenn auf der einen Seite Knie- und Gelenkbeschwerden bestätigt, auf der anderen Seite aber eine uneingeschränkte Gelenkbeweglichkeit behauptet werde. So werde die Ganzkörperwäsche als eine vollständig zu übernehmende Verrichtung angegeben. Hierfür werde jedoch lediglich ein Zeitaufwand von 18 Minuten angenommen, was sich unterhalb des Zeitkorridorwertes der Richtlinien bewege und zudem ohne Begründung bleibe. Dies treffe auch auf die Verrichtung Zahnpflege zu. Nach der Begutachtungsrichtlinie hätte die MDK-Gutachterin eine Vollübernahme annehmen müssen. Auch im Bereich der Ernährung werde eine teilweise Übernahme behauptet, obwohl die Klägerin wegen der unzureichenden Handkraft und den Defiziten im Abstraktionsvermögen beispielweise keine Verschlüsse, Verpackungen oder Flaschen handhaben könne. Zusammenfassend sei die Klägerin von sich aus nicht in der Lage, die notwendigen kognitiven, psychischen, sozialen und aufgrund dessen die erforderlichen physischen Selbstpflegekompetenzen abzurufen. Insbesondere die vorliegenden Defizite im kognitiven Bereich schlössen eine eigenständige und autonome Lebensfähigkeit aus. Eine Minimierung des anzunehmenden Hilfebedarfs sei daher tatsächlich nicht eingetreten. Auf die genauen Minutenbewertungen des Sachverständigen (Bl. 325 bis 328 d. GA) wird Bezug genommen.

Die Klägerin sieht sich durch das Gutachten bestätigt und hat eine Stellungnahme der Zahnärztin N. vom 20. Dezember 2010 zur Akte gereicht. Hiernach sei die Klägerin wegen der intellektuellen und motorischen Defizite nicht in der Lage, eine umfassende Mundhygiene zu erbringen. Aufgrund einer häufigen Noncompliance bei der Zahnpflege sei ein Zeitaufschlag von 10 Minuten vorzunehmen. Die Beklagte hat dem gerichtlichen Sachverständigen widersprochen und zur Bekräftigung ein sozialmedizinisches Gutachten der MDK-Pflegefachkraft O. vom 28. Januar 2011 vorgelegt. Bereits aus dem Förderbericht der Behinderteneinrichtung Chausseehaus in Hassel ergebe sich, dass die Klägerin wenig Hilfe im Umgang mit alltäglichen und technischen Gegenständen benötige. Der Sachverständige B. gehe im Bereich der Ernährung zu Unrecht von einer vollen Übernahme aus. Im Übrigen sei das MDK-Gutachten von 2006 auf der Grundlage der Angaben der Pflegeperson zustande gekommen. Auch habe die Pflegeperson damals angegeben, die Klägerin könne selbstständig zur Toilette geschickt werden und benötige lediglich Nachreinigungsarbeiten. Die vom Sachverständigen B. angenommene Vollübernahme beim An- und Auskleiden sei mit den damaligen Angaben der Pflegeperson nicht vereinbar.

Der Senat hat dem Sachverständigen B. dieses MDK-Gutachten zur Stellungnahme übersandt, der seine Bewertung unter dem 18. März 2011 verteidigt hat: Das erneute MDK-Gutachten sei lediglich nach Aktenlage erfolgt und enthalte keine neuen Gesichtspunkte. Nach den Entwicklungsbereichten aus den Jahren 2006 bis 2008 sei ein Entwicklungsfortschritt der Klägerin kaum erkennbar. Diese sei wegen der intellektuellen und motorischen Defizite zu einer eigenständigen mundgerechten Vorbereitung der Nahrung nicht in der Lage. Gleiches gelte für das An- und Ausziehen, was eine ständige Anwesenheit der Pflegeperson während der gesamten Verrichtung erforderlich mache. Seine bisherige Einschätzung sei daher nicht zu verändern.

Die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten haben vorgelegen und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Sachvortrages der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte ergänzend verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß §§ 143, 144 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthafte Berufung ist form- und fristgerecht beim Landessozialgericht Sachsen-Anhalt eingelegt worden (§ 151 SGG) und auch im Übrigen zulässig.

Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreits ist eine isolierte Anfechtungsklage gemäß § 54 Abs. 1 SGG gegen einen belastenden Verwaltungsakt. Daher bezieht sich die Prüfung der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide auf die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheids der Beklagten vom 28. Februar 2007 (vgl. z.B. BSG – Urteil vom 18. September 2003, B 9 SB 6/02 R, zitiert nach juris, mit weiteren Rechtsprechungshinweisen).

Die Berufung ist auch begründet. Die Beklagte hat zu Unrecht der Klägerin Leistungen der Pflegestufe II entzogen. Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind rechtswidrig. Der Senat ist nach Ausschöpfung aller Erkenntnismöglichkeiten nicht davon überzeugt, dass es bei der Klägerin seit September 2006 eine wesentliche Minderung des Pflegebedarfs gegeben hat.

Die angefochtenen Bescheide sind formell rechtmäßig. Insbesondere hat die Beklagte in ihrem Schreiben vom 17. Juli 2006 die Klägerin nach § 24 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) zur Entziehung der Pflegestufe II angehört.

Die Aufhebungsbescheide der Beklagten beruhen rechtlich auf § 48 SGB X iVm §§ 15, 14 Elftes Buch Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Pflegeversicherung (SGB XI). Der Anspruch auf Pflegeleistungen, insbesondere auf das Pflegegeld nach der Pflegestufe II, ist in § 37 Abs. 1 SGB XI i. V. m. den §§ 14, 15 SGB XI geregelt. Nach § 37 SGB XI können Pflegebedürftige anstelle der ihnen sonst zustehenden häuslichen Pflegehilfe Pflegegeld beantragen. Voraussetzung ist, dass der Pflegebedürftige mit dem Pflegegeld dessen Umfang entsprechend die erforderliche Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung in geeigneter Weise selbst sicherstellt. Diese Sicherstellung war und ist im Falle der Klägerin gegeben. Sie lebt im elterlichen Haushalt und wird von diesen gepflegt.

Grundvoraussetzung für die Leistungsgewährung ist, dass Pflegebedürftigkeit im Sinne des § 14 Abs. 1 SGB XI vorliegt. Pflegebedürftig sind danach Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, in erheblichem oder höherem Maße der Hilfe bedürfen. Dass Pflegebedürftigkeit in diesem Sinne bei der Klägerin vorliegt, ist aufgrund des feststehenden Krankheitsbildes offenkundig und zwischen den Beteiligten auch nicht streitig.

Die Höhe des Pflegegeldes richtet sich danach, welcher Stufe der Pflegebedürftigkeit die pflegebedürftige Person zuzuordnen ist. Die Voraussetzungen für die einzelnen Stufen der Pflegebedürftigkeit sind in § 15 SGB XI definiert. Pflegebedürftige der Pflegestufe II (Schwerpflegebedürftige) sind danach Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität für wenigstens zwei Verrichtungen aus einem oder mehreren Bereichen mindestens dreimal täglich zu verschiedenen Tageszeiten der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen (Abs. 1 Satz 1 Nr. 2). Der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegefachkraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, muss wöchentlich im Tagesdurchschnitt in der Pflegestufe II mindestens drei Stunden betragen, wobei auf die Grundpflege mindestens zwei Stunden (also mindestens 120 Minuten) entfallen müssen (Abs. 3 Nr. 2). Unter die Grundpflege fallen in Abgrenzung zum Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung die Hilfen in den in § 14 Abs. 4 Ziffern 1 bis 3 SGB XI näher definierten Bereichen der Körperpflege, der Ernährung und der Mobilität.

Gemäß § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X ist, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei Erlass eines Verwaltungsakts mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist, der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Die Entscheidung über die Bewilligung von Leistungen der sozialen Pflegeversicherung nach einer bestimmten Pflegestufe ist als "Verwaltungsakt mit Dauerwirkung" zu qualifizieren. Ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung liegt vor, wenn sich der Verwaltungsakt nicht in einem einmaligen Gebot oder Verbot oder in einer einmaligen Gestaltung der Rechtslage erschöpft, sondern ein auf Dauer berechnetes oder in seinem Bestand vom Verwaltungsakt abhängiges Rechtsverhältnis begründet bzw. inhaltlich verändert (vgl. Wulffen/Schütze, SGB X, 6. Auflage 2008, § 48 RdNr 4, 5 mwN). Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Es geht um die Bewilligung einer Dauerleistung, die sich auf einen voraussichtlich mindestens sechs Monate andauernden, die Pflegebedürftigkeit auslösenden Gesundheitszustand bezieht (§ 14 Abs. 1 SGB XI) und bei unveränderten Umständen monatlich als Geldleistung (§ 37 SGB XI), als Sachleistung (§§ 36, 43 SGB XI) oder als kombinierte Sach- und Geldleistung (§ 38 SGB XI) zu erbringen ist.

Zu vergleichen sind dabei nach § 48 Abs. 1 SGB X stets die zum Zeitpunkt des Widerrufs bestehenden tatsächlichen Verhältnisse mit jenen, die zum Zeitpunkt der letzten Leistungsbewilligung, bei der die Anspruchsvoraussetzungen vollständig geprüft worden sind, vorhanden gewesen sind. Maßgebend sind daher die gesundheitlichen Verhältnisse der Klägerin zum Zeitpunkt des Bescheides vom 21. Mai 1999 und zum Zeitpunkt 1. September 2006. In Würdigung der Gesamtumstände ist der Senat nach Ausschöpfung aller Erkenntnismöglichkeiten nicht davon überzeugt, dass sich der Pflegebedarf der Klägerin zum Februar 2007 wesentlich verringert hat. Es sprechen im Gegenteil sogar mehr Gründe dafür, dass bei der Klägerin ab September 2006 immer noch die Voraussetzungen für die Pflegestufe II vorgelegen haben (dazu im Folgenden 1.). Jedenfalls sind aber in der Zeit zwischen Erlass des Bescheides vom 21. Mai 1999 und September 2006 wesentliche Änderungen im Pflegebedarf der Klägerin nicht sicher festzustellen. Hierfür trägt die Beklagte die objektive Beweislast (dazu im Folgenden 2.).

1. Für einen unveränderten Grundpflegebedarf von mehr als 120 Minuten lassen sich zahlreiche Indizien finden. Zunächst ergibt sich aus den Stellungnahmen von Dr. H. vom 28. April 2010 sowie von der Pflegedienstleiterin M. vom 23. April 2010 ein deutlicher Hinweis, dass bei der Klägerin über die letzten Jahre hinweg keine wesentlichen Änderungen im Leistungsvermögen bzw. im Pflegebedarf eingetreten sind. Hierbei handelt es sich um Bewertungen von Personen, die die Klägerin langjährig behandelt haben und daher sehr gut kennen. Sie sind somit in besonderer Weise kompetent, zu beurteilen, ob und in welchem Maße es Fortschritte in der Entwicklung der Klägerin gegeben hat. Eine fehlende Verbesserung des Gesundheitszustandes der Klägerin von 1998 bis 2006 räumt im Übrigen selbst die MDK-Pflegekraft S. im Gutachten vom 20. Juni 2006 ein. Da der Gesundheitszustand der Klägerin unverändert geblieben ist, kann ein verringerter Pflegebedarf bei ihr nur gerechtfertigt werden, wenn durch altersbedingte Reifefortschritte oder erfolgreiche Schulungen eine höhere Selbstständigkeit in den Bereichen des täglichen Lebens zwischen 1998 bis September 2006 eingetreten ist. Hieran sind deutliche Zweifel anzumelden. Für eine Steigerung der Selbstständigkeit der Klägerin ließe sich zwar argumentativ auf das Abschlusszeugnis des Landesbildungszentrums T. vom 18. Juli 2006 verweisen. Danach konnte die Klägerin ihre Leistungen steigern und bestimmte Handlungen selbstständig ausführen (z. B. Schälaufgaben mit dem Obst- und Gemüseschäler; bestimmte Reinigungsarbeiten wie Tisch wischen, das Bügeln von Geschirrtüchern und Halbschürzen; Wäsche aufhängen und abnehmen). Trotz dieser teilweise eher positiven Leistungsbewertung war die Klägerin jedoch auch aus Sicht der Schule beispielsweise nicht in der Lage selbstständig zu fegen oder zu wischen. Auch benötigte sie häufig das persönliche Ansprechen oder die Orientierung bei den Mitschülern, um die jeweilige Aufgabenstellung überhaupt zu verstehen. Deutlicher in den tatsächlichen Leistungsgrenzen der Klägerin wird der Entwicklungsbericht vom Wohnheim C. für den Zeitraum von September 2006 bis November 2006. Hiernach hatte die Klägerin erhebliche Schwierigkeiten in der Feinmotorik, benötigte eine intensive Hilfestellung und Animation bzw. sogar eine umfassende Ausführungshilfe. Die jeweiligen Handlungsabläufe gestalteten sich bei ihr äußerst vorsichtig und langsam. Im Bereich der lebenspraktischen Anleitung wirkte sie hiernach ohne Hilfe von Dritten überfordert und schnell orientierungslos.

Die argumentativ nur gering begründete Annahme der MDK-Gutachter einer erheblichen Steigerung des Selbsthilfepotenzials der Klägerin wird durch beide gerichtliche Sachverständigengutachten nachhaltig erschüttert. So hat der gerichtliche Sachverständige Dipl.-Pflegewirt B. überzeugend auf gravierende Leistungsdefizite der Klägerin verwiesen. Die bereits im Entwicklungsbericht geschilderten erheblichen feinmotorischen Störungen haben nach seiner Einschätzung einen konkreten Hintergrund. So verfügt die Klägerin weder aktuell noch in der Vergangenheit über eine ausreichende Handkraft und kann Verschlüsse und ähnliches nicht öffnen. Noch entscheidender ins Gewicht fallen nach seiner Einschätzung die Auswirkungen der erheblichen geistigen Behinderung der Klägerin. Gerade die Schwächen im Abstraktionsvermögen, den kognitiven Fähigkeiten sowie im Konzentrationsbereich haben bei ihr einen Grad erreicht, der berechenbare, komplexe Selbstpflegeleistungen ausschließt. So wurde der Klägerin die Werkstatttauglichkeit abgesprochen, d.h. die Fähigkeit, sich für einen längeren Zeitraum einer Arbeitsaufgabe zu widmen. Krankheitsbedingt liegt bei ihr auch ein pflegeerschwerendes Abwehrverhalten vor, was sich bereits in dem psychiatrischen Gutachten von Dr. C. hinreichend belegt findet, jedoch in keinem MDK-Gutachten eine angemessene Berücksichtigung gefunden hat. So wird die Klägerin von Dr. C. als eine Person beschrieben, die über eine geringe Frustrationstoleranz verfügt und als leicht reizbar und ablenkbar eingeschätzt wird. Die Angabe der Pflegeperson, die Klägerin neige unter Stress zu abwehrenden Verhaltensweisen, ist vor diesem Hintergrund glaubhaft und nachvollziehbar. Diese besonderen Erschwerungsgründe in der Pflege der Klägerin bestätigt auch die Zahnärztin N., die über eine Noncompliance der Klägerin in der Zahnpflege berichtete. Gerade an Werktagen ist die Klägerin wegen ihrer sehr langsamen Handlungen und des dadurch bedingten Zeitdrucks bis zur Abholung in die Einrichtung mit einem hohen Stressfaktor konfrontiert. Daher ist ein verhaltenstypischer Widerstand der Klägerin, die jeweiligen Verrichtungen zeitnah vorzunehmen, naheliegend. Dies bedeutet für die Pflegeperson im Ergebnis nicht nur eine Vollübernahme der genannten Verrichtungen, sondern – je nach Tagesform und Motivation der Klägerin – auch eine besondere Pflegeerschwernis. An den Wochenenden ist der Pflegebedarf der Klägerin dann nochmals deutlich höher einzuschätzen. Hierbei ist für den Senat nachvollziehbar, dass die Pflegeperson der Klägerin zu diesen Zeiten mehr Freiräume in der Selbstpflege zubilligt. Wegen ihrer großen Langsamkeit und mangelnden Konzentrationsfähigkeit ist dies jedoch mit deutlich höheren Pflegezeiten verbunden, die sogar eine Vollübernahme zeitlich überschreiten dürften und vom MDK an keiner Stelle erwähnt worden sind. Gleiches gilt für den vom Sachverständigen Dipl.-Pflegewirt B. festgestellten nächtlichen Pflegebedarf für Toilettengänge. Wegen ihrer erheblichen geistigen Behinderung kommt die Klägerin bei etwas komplexen Vorgängen sehr schnell an ihre Leistungsgrenzen. Dies hat der gerichtliche Sachverständige B. bei der Verrichtung Zahnpflege beispielhaft und sehr eindrucksvoll beschrieben. Hiernach kann sie weder die Zahncrememenge dosieren noch die Technik der Zahnreinigung vorführen. Das Zähneputzen beschränkt sich bei ihr auf ein Beißen auf die Zahnbürste und unkoordinierte Drehbewegungen im Mund, ohne jeden zielgerichteten Reinigungseffekt. Dies entspricht auch der Einschätzung der Sachverständigen H., die beim Zähneputzen deutliche Nacharbeiten der Pflegeperson beschrieben hat. Scheitert die Klägerin bereits an dieser vergleichsweise einfachen Verrichtung des Zähneputzens bedarf es wenig Phantasie, sich das beschränkte Leistungsvermögen in anderen Verrichtungen vorzustellen. Demgegenüber behauptet die MDK-Pflegefachkraft O. im Gutachten vom 29. November 2006, die Klägerin könne ihre Zähne teilweise selbstständig zu putzen. Dies hält der Senat für wenig überzeugend. Offenbar hat sich die MDK-Gutachterin diese Verrichtung nicht vorführen lassen, da ein zwischenzeitliches, plötzliches Verlernen der einfachen Verrichtung Zähneputzen zwischen dem Jahr 2006 und der aktuellen Untersuchung des gerichtlichen Sachverständigen B. nicht angenommen werden kann. Vielmehr spricht viel dafür, dass die Klägerin – entgegen der MDK-Gutachterin – diesen Grad an Selbstständigkeit in dieser Verrichtung tatsächlich nie erreicht hatte.

Auch die weiteren Kritikpunkte des gerichtlichen Sachverständigen an den vorliegenden MDK-Gutachten bleiben nicht ohne Gewicht. Die höchst fragwürdige Formulierung im Gutachten O., die Klägerin "grunzt", hätte im Fall eines gerichtlichen Gutachtens ausgereicht, den Anschein einer Voreingenommenheit des Sachverständigen tragfähig begründen zu können. Zumindest lässt diese zumindest sehr unglückliche Formulierung im Zusammenhang mit der lückenhaften Pflegediagnose eines bloßen Down-Syndroms ohne Hinweis auf eine tatsächlich vorhandene mittelgradige geistige Behinderung Zweifel aufkommen, ob sich die MDK-Gutachterin O. mit dieser erheblichen geistigen Behinderung der Klägerin überhaupt angemessen auseinandergesetzt hat. Die Kritik des Sachverständigen B. im Hinblick auf die Widersprüchlichkeit der MDK-Gutachten, die auf der einen Seite Knie- und Gelenkbeschwerden bestätigen und auf der anderen Seite eine uneingeschränkte Gelenkbeweglichkeit behaupten, hält der Senat für nachvollziehbar. Dies zumal selbst im Abschlusszeugnis der Klägerin berichtet wird, dass sie praktisch keine hockenden Tätigkeiten ausführen kann. Obwohl die Ganzkörperwäsche nach MDK-Bewertung vollständig zu übernehmen ist, wird der Zeitkorridor nicht voll ausgeschöpft. Die Annahme einer teilweisen Übernahmefähigkeit im Bereich der Ernährung ist wegen der erheblichen Einschränkungen der Klägerin zumindest fragwürdig. Ohne ständige Kontrolle und Einwirkung der Pflegeperson kann das Ernährungsverhalten der Klägerin keineswegs als selbstständig bewertet werden. Dies widerspricht auch nicht der Leistungseinschätzung im bereits genannten Abschlusszeugnis. So hat die Klägerin in der Einrichtung jeweils von der Pflegeperson vorbereitetes Essen zu sich genommen (vgl. Entwicklungsbericht). Nach dem Entwicklungsbericht kann die Klägerin während der Mahlzeiten zwar selbstständig agieren. Gleichzeitig wird sie in ihrem Essverhalten jedoch als langsam und recht wählerisch bezeichnet. Insbesondere fehlt ihr die grundlegende Fähigkeit, Hunger, Durst und Appetit in den täglichen Ablauf zu integrieren. Dies erfordert im Umkehrschluss ein ständiges Überwachen und ggf. Einwirken der Pflegeperson in dieser Verrichtung. Dies gilt insbesondere auch deswegen, weil die Klägerin – mit der partiellen Ausnahme des Brotebeschmierens je nach Tagesform und Motivation (so die Sachverständige H.) – komplexere Esssituationen mit Verschlüssen oder ähnlichem nicht bewältigen kann. Bezeichnenderweise hat sich die MDK-Gutachterin O. im sozialmedizinisches Gutachten vom 28. Januar 2011 mit diesen Argumenten des gerichtlichen Sachverständigen B. in keiner Weise auseinandergesetzt und glaubte den eigenen Standpunkt lediglich mit dem pauschalen Hinweis auf den Entwicklungsbericht verteidigen zu können. Dies hält der Senat jedoch für keineswegs ausreichend.

2. Ob der vom BSG in sog. Grenzfällen befürwortete großzügige Bewertungsmaßstab hier anzuwenden ist, kann offenbleiben (dazu im Folgenden a.). In jedem Fall geht die Unerweislichkeit einer Verbesserung des Pflegebedarfs zum maßgeblichen Zeitpunkt zu Lasten der Beklagten (dazu im Folgenden b.).

a. Gerade in streitigen Grenzfällen beim Übergang der jeweiligen Pflegestufen, in denen die beauftragten Pflegegutachter zu unterschiedlichen Einschätzungen gelangt sind, ist eine besondere Prüfungssorgfalt geboten. Im Bereich der Pflegeversicherung erweist sich die Feststellung einer "wesentlichen" Änderung des Pflegebedarfs bereits aus praktischen Gründen als ausgesprochen schwierig. Der Ermittlung des zeitlichen Pflegebedarfs gehen schließlich keine exakten Messungen voraus. Vielmehr kann nur im Rahmen einer zeitlich beschränkten medizinisch-pflegerischen Begutachtung ein Gesamtpflegebedarf durch Addition einer Reihe von einzelnen zeitlich geschätzten Hilfeleistungen festgestellt werden. Der Pflegegutachter greift dabei auf seine medizinisch-pflegerische Erfahrung zurück und bringt diese mit den Richtzeitwerten und Zeitkorridoren in den Begutachtungsrichtlinien in Zusammenhang. In hohem Maße muss er auch die Angaben des Pflegebedürftigen und/oder der jeweiligen Pflegeperson berücksichtigen und - soweit glaubhaft - seiner Begutachtung zu Grunde legen (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 7. Juli 2005 B 3 P 8/04 R, zitiert nach juris). Hierbei kann auch einem sog. Pflegetagebuch eine besondere Bedeutung zukommen (vgl. BSG SozR 4-3300 § 15 Nr. 1 RdNr. 13). Bei der Prüfung hat der Sachverständige auf der Grundlage einer durchschnittlichen, nicht professionellen Pflegekraft den angemessenen Pflegebedarf zu schätzen (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 7. Juli 2005, B 3 P 8/04 R, zitiert nach juris). Nach der Rechtsprechung des BSG unterliegt die Pflegebegutachtung bei diesen Schätzungen einer typischen Bewertungsbandbreite. Regelmäßig kommen an einem Verfahren beteiligte Gutachter daher kaum zu exakt demselben Ergebnis, obwohl sich die Verhältnisse unverändert darstellen. Diese Bewertungsrealität in der Ermittlung des konkreten Pflegebedarfs ist solange unkritisch, wie alle voneinander abweichende Zeitschätzungen zum selben rechtlichen Ergebnis führen, etwa zur Erfüllung der Voraussetzungen einer bestimmen Pflegestufe (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 7. Juli 2005 B 3 P 8/04 R, zitiert nach juris). Besonders sind dann die Fälle zu bewerten, die sich an der zeitlichen Schnittstelle der jeweiligen Pflegestufen bewegen. Hier ist eine besondere Sorgfalt bei den Schätzungen, eventuell auch eine Zeitmessung geboten, die im Einzelfall auch einer Pflegeperson überantwortet werden kann (vgl. BSG SozR 4-3300 § 15 Nr. 1 RdNr 12 und 13). In Grenzfällen ist es daher nach Ansicht des BSG nicht zu beanstanden, einen großzügigen Maßstab anwenden und den Leistungsanspruch nicht an wenigen Minuten scheitern lassen (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 7. Juli 2005 B 3 P 8/04 R, zitiert nach juris). Ob diese Rechtsprechung des BSG auf den vorliegenden Sachverhalt anzuwenden ist, kann der Senat offenlassen, da es hierauf im Ergebnis nicht ankommt. Jedenfalls können die Bescheide der Beklagten aus Gründen der objektiven Beweislast keinen Bestand haben. b. Sowohl die Sachverständige H. wie auch der Sachverständige B. halten die maßgebliche Grenze des Grundpflegebedarfs für die Pflegestufe II von 120 Minuten bei der Klägerin für sicher überschritten. Auch wenn der Senat im Detail der jeweils eingeschätzten Pflegeminuten der gerichtlichen Sachverständigen Abstriche vornehmen sollte, wie dies von der Beklagten unter Hinweis auf die MDK-Gutachten vertreten wird, ergeben sich zumindest ganz erhebliche Zweifel ob den MDK-Gutachten tatsächlich uneingeschränkt gefolgt werden kann und eine Verbesserung des Pflegebedarfs unter 120 Minuten Grundpflegebedarf mit hinreichender Gewissheit bejaht werden kann. Diese Zweifel gehen aus Gründen der objektiven Beweislast zu Lasten der Beklagten und müssen zur Aufhebung der Bescheide der Beklagten führen. Nach der vollständigen Ausschöpfung aller Möglichkeiten zur Aufklärung des Sachverhaltes – wie im folgenden Fall – kommt der Frage der Beweislast entscheidende Bedeutung zu (vgl. BSG, Urteil vom 8. September 2010, B 11 AL 4/09 R, mit zahlreichen Nachweisen, zitiert nach juris). Hierbei ist von folgender Grundregel auszugehen. Die Unerweislichkeit einer Tatsache geht grundsätzlich zu Lasten des Beteiligten, der aus ihr eine ihm günstige Rechtsfolge herleiten will. Während denjenigen, der sich auf einen Anspruch beruft, die Beweislast für die rechtsbegründenden Tatsachen trifft, ist derjenige, der das geltend gemachte Recht bestreitet, für die rechtsvernichtenden, rechtshindernden oder rechtshemmenden Tatsachen beweispflichtig. Die Verteilung der Beweislast bestimmt sich nach der für den Rechtsstreit maßgeblichen materiell-rechtlichen Norm (BSGE 6, 70, 72 f; BSGE 71, 256, 260). Bezogen auf den § 48 Abs. 1 SGB X bedeutet dies, dass die Beweis- bzw. Feststellungslast für das Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse gegenüber denjenigen Verhältnissen, die den ursprünglichen begünstigenden Verwaltungsakt rechtfertigten, grundsätzlich die Behörde trägt (vgl. BSG Urteil vom 8. September 2010 – B 11 AL 4/09 R, zitiert nach juris). Unter Anwendung der Beweislastgrundsätze der sog. objektiven Beweislast, welche die Beklagte zu tragen hat, kann der Senat den Nachweis einer Verbesserung des Pflegebedarfs bei der Klägerin nicht als gegeben ansehen. Auch dies rechtfertigt die vom Senat getroffene Entscheidung.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil es sich um die Entscheidung eines Einzelfalls auf gesicherter rechtlicher Grundlage handelt.
Rechtskraft
Aus
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