L 23 SO 180/11 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
23
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 88 SO 1101/11 ER Berlin
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 23 SO 180/11 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Zweifel im Sinne des § 37 Abs. 2 Satz 3 SGB X sind deshalb grundsätzlich schon dann gerechtfertigt, wenn der Adressat einen späteren Zugang konkret behauptet. Ist der behauptete Vortrag jedoch unschlüssig, weil es sich bei dem behaupteten Eingang um einen Sonntag handelt, an dem keine Briefe zustellt werden, löst ein solcher Vortrag auch keine Zweifel im Sinne des § 37 Abs. 2 Satz 3 SGB X aus
Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 08. September 2011 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch für das Beschwerde-verfahren nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Antragstellerin begehrt im Wesentlichen die Übernahme von Mietschulden.

Die Klägerin bewohnt seit dem 22. April 2008 eine Wohnung mit 3 ½ Zimmern, einer Wohnfläche von 81,8 m², für die ein Mietzins von 453,00 Euro nebst Nebenkosten-vorauszahlung in Höhe von 250,00 Euro vereinbart worden war. Diese Kosten der Unterkunft haben sich seitdem auf 803,00 Euro monatlich erhöht.

Die Klägerin erhält eine Rente wegen voller Erwerbsminderung, die ihr mit Bescheid vom 05. November 2009 in Höhe von 509,76 Euro bewilligt worden war.

Den Antrag der Klägerin vom 08. September 2010 auf laufende Leistungen nach dem Dritten Kapitel des Sozialgesetzbuchs Zwölftes Buch (SGB XII) lehnte der Antragsgegner mit Bescheid vom 09. September 2011 nach § 60 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) ab, da die Antragstellerin ihren Mitwirkungspflichten nicht nachgekommen sei.

Mit Schreiben vom 09. Juni 2011 wies der Antragsgegner die Antragstellerin darauf hin, dass er beabsichtige, den Antrag auf Übernahme der Mietrückstände abzulehnen, da nach seinen Feststellungen die Bruttowarmmiete sozialhilferechtlich nicht angemessen sei. Mit Bescheid vom 28. Juni 2011 lehnte der Antragsgegner den Antrag auf Übernahme der bestehenden Mietrückstände ab. Der Wohnraum sei sozialhilferechtlich nicht erhaltenswert. Der Bescheid trägt einen "Ab Vermerk" vom 29. Juni 2011. Am 10. August 2011 hat der Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin Widerspruch gegen den Bescheid vom 28. Juni 2011 eingelegt, in dem er formuliert "Gegen den Bescheid vom 28.06.2011, zugegangen am 10.07.2011, lege ich Widerspruch ein".

Die Antragstellerin hatte bereits am 08. Juni 2011 bei dem Sozialgericht einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt, mit dem sie Leistungen der Grundsicherung sowie Übernahme der Mietschulden begehrt hat.

Im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens hat die Antragstellerin diverse Unterlagen zu den Akten gereicht.

Das Sozialgericht hat den Antrag mit Beschluss vom 08. September 2011 zurückgewiesen: Soweit Leistungen ab Antragstellung begehrt würden, sei ein Anordnungsgrund nicht glaubhaft gemacht. Laufende Leistungen für die Vergangenheit kämen im einstweiligen Anordnungsverfahren ohnehin nicht in Betracht. Hinsichtlich der Mietschulden sei nicht erkennbar, dass ein Anordnungsgrund bestehe. Die vom Vermieter der Antragstellerin erhobene Räumungsklage sei durch Versäumnisurteil abgewiesen worden und es sei weder vorgetragen noch ersichtlich, dass gegen das Urteil Einspruch eingelegt worden sei.

Gegen den ihrem Prozessbevollmächtigten am 08. September 2011 zugestellten Beschluss hat die Antragstellerin am selben Tage Beschwerde eingelegt, die bezüglich der Kosten der Unterkunft damit begründet wurde, dass längst vom Vermieter der Antragstellerin Einspruch eingelegt worden sei. Es liege mittlerweile ein Versäumnisurteil gegen die Antragstellerin vor.

Im Beschwerdeverfahren hat die Antragstellerin die von dem Antragsgegner geforderten Unterlagen eingereicht und der Antragsgegner hatte ab 01. September 2011 Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel des SGB XII darlehensweise gewährt.

Auf den Hinweis, dass es sich bei dem als Eingangstermin des Bescheides vom 28. Juni 2011 angegebenen 10. Juli 2011 um einen Sonntag gehandelt habe, hat der Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin ausgeführt: "Sollte der Bescheid am 10.07.2011 eingegangen sein, beginnt die Frist erst am 11.07.2011 zu laufen, weil dies ein Werktag ist. Die Post ist erst am 11.07.2011 zugegangen. Der Widerspruch ist somit zulässig."

Mit weiterem Schriftsatz vom 06. Oktober 2011 hat der Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin ausgeführt, dass der Eingangsstempel des Widerspruchsbescheides den 10.07.2011 als Zugangsdatum ausweise. Die beigefügte beglaubigte Abschrift des genannten Bescheides trägt einen handschriftlichen Vermerk "eingegangen", sodann korrigiertes Datum "10.07.", die darunter genannte Ziffer kann nicht eindeutig entziffert werden. Daneben der Stempel des Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin.

Mit demselben Schriftsatz hat der Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin klargestellt, dass keine weiteren Anträge als die Übernahme der Mietschulden und die Bewilligung der darlehensweisen Übernahme der laufenden Mietzahlungen und, da zwingend erforderlich, um das Mietverhältnis fortzuführen, die Übernahme der Rechtsverfolgungskosten der Vermieterin der Beschwerdeführerin gestellt werden.

Hinsichtlich des weiteren Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten sowie auf die beigezogene Verwaltungsakte Bezug genommen.

II.

Die zulässige Beschwerde ist nicht begründet.

Soweit dem Schriftsatz vom 06. Oktober 2011 zu entnehmen sein sollte, dass die Antragstellerin nunmehr erstmals im Beschwerdeverfahren die "Rechtsverfolgungskosten der Vermieterin der Beschwerdeführerin" begehrt, ist die Beschwerde schon deshalb unzulässig, als das Sozialgericht über die Übernahme von Rechtsverfolgungskosten keine Entscheidung getroffen hat, da ein solches Begehren erstinstanzlich auch nicht geltend gemacht worden ist.

Hinsichtlich des Begehrens auf Übernahme der Mietschulden ist der Antrag nach § 86 b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) unzulässig. Nach § 86 b Abs. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung sind hier insoweit jedoch aus prozessualen Gründen nicht erfüllt, weil es an einem "streitigen Rechtsverhältnis" fehlt.

Der Antragsgegner hat den Antrag auf Übernahme der Mietschulden mit Bescheid vom 28. Juni 2011 abgelehnt. Die Antragstellerin hat gegen diesen Bescheid innerhalb der Widerspruchsfrist keinen Widerspruch eingelegt. Der am 10. August 2011 eingelegte Widerspruch war verfristet.

Hinsichtlich des Fristbeginns ist auf die Zugangsfiktion des § 37 Abs. 2 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) abzustellen. Danach gilt ein schriftlicher Verwaltungsakt bei der Übermittlung durch die Post im Inland am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben. Der Bescheid vom 28. Juni 2011 wurde - wie in der Verwaltungsakte des Antragsgegners vermerkt - am 29. Juni 2011 zur Post aufgegeben. Der Bescheid gilt daher grundsätzlich als am 02. Juli 2011 bekannt gegeben (§ 26 Abs. 1 SGB X, § 187 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch).

Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat diese Zugangsfiktion auch nicht erschüttert. Zwar gilt nach § 37 Abs. 2 Satz 3 SGB X die Zugangsfiktion nicht, wenn der Verwaltungsakt gar nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist; im Zweifel hat die Behörde den Zugang des Verwaltungsaktes und den Zeitpunkt des Zuganges nachzuweisen. Um von einem derartigen Zweifelsfall ausgehen zu können, bedarf es jedoch eines substantiierten Vorbringens von Tatsachen, die auf den verspäteten Zugang hindeuten und ein tatsächliches Abweichen von der gesetzlichen Zugangsfiktion möglich erscheinen lassen (vgl. Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss vom 17. März 2011, L 19 R 443/10 B PKH m. w. N.). Ein solches substantiiertes Vorbringen von Tatsachen stellt der Vortrag des Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin nicht dar. Zunächst ist mit Widerspruchsschreiben der 10. Juli 2011 als Eingangsdatum des Bescheides genannt worden. Auf den Hinweis, dass es sich dabei um einen Sonntag gehandelt hat, heißt es im Schriftsatz des Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin: "Die Post ist erst am 11.07.2011 zugegangen". Im Schriftsatz vom 06. Oktober 2011 heißt es nunmehr wiederum: "Der Eingangsstempel des Widerspruchsbescheides weist den 10.07.20011 als Zugangsdatum aus". Die beigefügte Kopie des Bescheides weist dann offensichtlich ein schriftlich korrigiertes Eingangsdatum aus, wobei die unter dem Datum 10.07. befindliche Eintragung durchaus ein früheres Datum tragen könnte. Zwar sind die Anforderungen an die Substantiierungspflicht nicht zu überspannen, da der Adressat in der Regel wenige Möglichkeiten hat, Beweise oder konkrete Anhaltspunkte für ein verspätetes Eingehen eines Bescheides vorzulegen. Zweifel im Sinne des § 37 Abs. 2 Satz 3 SGB X sind deshalb grundsätzlich schon dann gerechtfertigt, wenn der Adressat einen späteren Zugang konkret behauptet. Ist der behauptete Vortrag jedoch unschlüssig, weil es sich bei dem behaupteten Eingang um einen Sonntag handelt, an dem keine Briefe zustellt werden, löst ein solcher Vortrag auch keine Zweifel im Sinne des § 37 Abs. 2 Satz 3 SGB X aus. Dies gilt hier insbesondere, als der Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin auch noch einen anderen Termin als Eingangsdatum anbietet (den 11. Juli 2011) und einen offensichtlich korrigierten Zugangsvermerk auf dem Ablehnungsbescheid vorlegt.

Sind danach keine Zweifel an der Zugangsfiktion begründet, ist der Bescheid vom 28. Juni 2011 bestandskräftig. Soweit dieser bestandskräftige Bescheid eine Regelung über die Übernahme der Mietschulden enthält, entfaltet er Rechtswirkungen. Damit fehlt es hinsichtlich der in dem Bescheid getroffenen Regelung über die Nichtübernahme der Mietschulden an einem streitigen Rechtsverhältnis (§ 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG).

Soweit die Antragstellerin mit dem vorliegenden Beschwerdeverfahren darüber hinaus die Übernahme der Kosten der Unterkunft für den Zeitraum vor dem 01. September 2011 begehrt, kommt eine einstweilige Anordnung ebenfalls nicht in Betracht. Für vergangene, d. h. abgelaufene, Zeiträume ist die Annahme einer besonderen Dringlichkeit nur ausnahmsweise für den Fall gerechtfertigt, dass eine Entscheidung im - grundsätzlich vorrangigen - Verfahren der Hauptsache zu spät käme, weil ohne sie schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre. Eine solche Konstellation ist hier für die Zeit vor dem 01. September 2011 nicht glaubhaft gemacht. Im Hinblick auf die Bestandskraft des Bescheides vom 28. Juni 2011 über die Nichtübernahme von Mietschulden ist ein Erhalt der Wohnung der Antragstellerin gerade im Hinblick auf den seitens der Vermieterin der Antragstellerin zur Fortsetzung des Mietverhältnisses vorgelegten Räumungsvergleich ausgeschlossen.

Obwohl es nach dem Vorstehenden nicht mehr darauf ankommt, weist der Senat ergänzend darauf hin, dass auch ein Anordnungsanspruch auf Übernahme der Kosten der Unterkunft in Höhe von 803,00 Euro monatlich fehlen würde. Dass diese Kosten für einen Einpersonenhaushalt nicht zu übernehmen sind, liegt auf der Hand. Auch ist es nach den vorgelegten Unterlagen der Antragstellerin möglich, eine andere angemessene Unterkunft zu erlangen. Zwar weist das vorgelegte Attest der Internistin Dr. A vom 05. Januar 2011 das Vorliegen chronischer und schwerwiegender körperlicher und psychischer Erkrankungen und Einschränkungen bei der Antragstellerin aus, aus denen Frau Dr. A schließt, dass derzeit weder psychisch noch physisch die Antragstellerin in der Lage wäre, einen Umzug durchzuführen. Hinsichtlich des Umzugs selbst wird der Antragsgegner durch die Gewährung einer diesbezüglichen Hilfe jedoch ohne Zweifel Belastungen von der Antragstellerin fernhalten können. Soweit darüber hinaus der Sozialpsychiatrische Dienst in seiner Stellungnahme vom 17. Februar 2011 durch die Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. Sch einen Umzug nur unter der Bedingung für zumutbar hält, dass die neue Wohnung im derzeitigen Umkreis liegen sollte, damit das für die Klientin erforderliche soziale Umfeld erhalten bleiben könne, ergibt sich daraus ebenfalls keine Unmöglichkeit eines Umzugs. Die Antragstellerin weigert sich seit dem Hinweis im Dezember 2010 offensichtlich beharrlich, sich um eine andere Wohnung zu bemühen. Es gibt keine Hinweise, dass im "sozialen Umfeld", was auch immer Dr. Sch darunter versteht, eine der Antragstellerin zumutbare preiswertere Wohnung nicht erhältlich wäre. Den im Verfahren vorgelegten Kontoauszügen ist zu entnehmen, dass es der Antragstellerin möglich ist, trotz ihrer Erkrankungen regelmäßig in Modegeschäften einzukaufen und in Restaurants essen zu gehen. Es ist daher nicht erkennbar, dass sie aufgrund ihrer Erkrankungen derartig eingeschränkt wäre, dass ihr Bemühungen um eine andere Wohnung nicht möglich wären.

Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde zum Bundessozialgericht angefochtenen wer den (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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