S 6 U 193/10

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 6 U 193/10
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 4 U 643/11
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klagen werden abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Anerkennung und Entschädigung einer Berufskrankheit im Zugunstenverfahren sowie die Entfernung zahlreicher medizinischer Unterlagen aus den Verwaltungsvorgängen der Beklagten.

Der am 00.00.00 geborene Kläger war nach einer Tätigkeit als Papierarbeiter bei der Firma B. T. in E. von 1954 bis 1958 und einer zwischenzeitlichen Tätigkeit als Zeit-soldat von 1958 bis 1961 von 1962 bis 1998 zunächst als Schornsteinmaurer-Anwärter, Schonsteinmaurer und zuletzt als Schornsteinmaurer-Werkpolier tätig.

Unter dem 01.12.1997 zeigte er bei der Beklagten den Verdacht einer Berufskrank-heit nach Nr. 2108 der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung – BKV (Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können) an.

Die Beklagte führte Ermittlungen zu den vom Kläger ausgeübten Tätigkeiten durch und holte eine Stellungnahme der Chirurgen Dres. X. und D. vom 02.06.1998 ein. Mit Bescheid vom 30.07.1998 lehnte sie die Anerkennung und Entschädigung der BK 2108 der Anlage zur BKV ab. Zur Begründung führte sie aus, es fehle sowohl an den arbeitstechnischen als auch an den medizinischen Voraussetzungen. Beim Kläger fänden sich degenerative Veränderungen in allen Abschnitten der Wirbelsäule. Die Wirbelsäulenbeschwerden seien daher anlagebedingt und nicht auf die beruflichen Einwirkungen zurückzuführen. Der Kläger erhob nach erfolglosem Widerspruchsverfahren (Widerspruchsbescheid vom 24.11.1998) am 18.12.1998 Klage, die unter dem Az. S 1 U 101/98 geführt wur-de. In diesem Verfahren holte das Gericht von Amts wegen ein Gutachten des Arztes für Orthopädie Dr. C. vom 03.08.1999 ein, der von einer beruflichen Mitverursachung ausging. Die Beklagte holte eine gutachtliche Stellungnahme des Arztes für Chirurgie Dr. M. und des Orthopäden C. vom 10.10.1999 ein und führte weitere Ermittlungen zu den arbeitstechnischen Voraussetzungen durch. Im gerichtlichen Verfahren wurde sodann von Amts wegen ein weiteres Gutachten des Chirurgen Prof. Dr. C. vom 09.04.2001 eingeholt, der das Vorliegen der medizinischen Voraussetzungen der BK 2108 der Anlage zur BKV verneinte. Mit Urteil vom 19.06.2001 wies das Gericht die Klage ab und führte aus, es lägen weder die arbeitstechnischen, noch die medizinischen Voraussetzungen für eine Anerkennung der BK 2108 der Anlage zur BKV vor. Im Berufungsverfahren (Az. L 15 U 183/01) wurde auf Antrag des Klägers ein Gut-achten des Arztes für Orthopädie Dr. X. vom 21.10.2002 eingeholt, der die medizini-schen Voraussetzungen der BK 2108 der Anlage zur BKV als gegeben ansah. Die Beklagte holte eine Stellungnahme des Facharztes für Arbeitsmedizin Dr. X. vom 07.04.2003 ein, der sich dem Gutachten von Dr. X. nicht anzuschließen vermochte. In einem daraufhin von Amts wegen eingeholten weiteren Gutachten vom 28.08.2003 kam der Facharzt für Orthopädie Dr. T. zu dem Ergebnis einer Teilur-sächlichkeit der beruflichen Einwirkungen und schätzte die hieraus resultierende MdE auf 20 v.H. ein. Die Beklagte holte unter dem 01.03.2004 eine erneute Stel-lungnahme von Dr. X. ein und führte durch ihren TAD unter dem 08.07.2004 eine erneute Berechnung zu den arbeitstechnischen Voraussetzungen durch. Nachdem das Gericht eine ergänzende Berechnung des TAD veranlasst hatte, befragte es unter Hinweis auf diese Berechnung den Sachverständigen Dr. T. zu den arbeitstechnischen Voraussetzungen. In seiner Stellungnahme vom 15.08.2005 verneinte Dr. T. unter Zugrundelegung der nunmehr ermittelten Lebensbelastungsdosis das Vorliegen der arbeitstechnischen Voraussetzungen. In der mündlichen Verhandlung vor dem Landessozialgericht nahm der Kläger am 08.11.2005 die Berufung zurück, nachdem der Senat den Hinweis erteilt hatte, dass weder vom Vorliegen der arbeitstechnischen, noch vom Vorliegen der medizinischen Voraussetzungen der BK 2108 der Anlage zur BKV auszugehen sei.

Unter dem 15.09.2009 beantragte der Kläger unter Hinweis auf die Entscheidung des BSG vom 18.11.2008 (Az. B 2 U 14/08 R) zu den Berechnungen nach dem Mainz-Dortmunder-Dosismodell Überprüfung des Bescheides vom 30.07.1998 sowie Entfernung der Stellungnahme von Dres. X./D. vom 02.06.1998, der Stellungnahme von Dr. M./C. vom 190.10.1999 und der Stellungnahmen von Dr. X. vom 01.03. und 07.04.2004 aus den Verwaltungsvorgängen der Beklagten. Zur Begründung führte er aus, die Beklagte habe gegen sein Auswahlrecht aus § 200 Abs. 2 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII) verstoßen. Auf Rückfrage der Beklagten erklärte der Kläger, es solle Überprüfung gemäß § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdaten-schutz (SGB X) und nach § 48 SGB X erfolgen. Die Beklagte ermittelte im Folgenden eine Lebensbelastungsdosis von deutlich mehr als 37,98 MNh und lehnte die Rücknahme des Bescheides vom 30.07.1998 mit Bescheid vom 27.05.2010 ab. Es sei weder das Recht unrichtig angewandt, noch von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen worden. Zwar gehe sie unter Berücksichtigung der aktuellen Rechtsprechung des BSG zum Mainz-Dortmunder-Dosismodell nunmehr vom Vorliegen der arbeitstechnischen Voraussetzungen aus; die medizinischen Voraussetzungen der BK 2108 der Anlage zur BKV lägen jedoch weiterhin nicht vor. Ein Anspruch des Klägers auf Entfernung der besagten ärztlichen Stellungnahmen aus ihren Verwaltungsvor-gängen bestehe nicht, weil es sich um ein bindend abgeschlossenes Verfahren handele und der Kläger sein Rügerecht nicht ausgeübt habe. Eine Prüfung nach § 48 SGB X könne unterbleiben, da es sich bei dem bindenden Ablehnungsbescheid vom 30.07.1998 nicht um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung gehandelt habe. Der Kläger legte am 07.09.2010 Widerspruch ein, den die Beklagte mit Wider-spruchsbescheid vom 10.08.2010 unter Vertiefung ihrer bisherigen Ausführungen zurückwies.

Hiergegen richtet sich die am 16.08.2010 erhobene Klage.

Der Kläger beantragt schriftsätzlich sinngemäß,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 27.05.2010 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 10.08.2010 zu verurteilen, den Bescheid vom 30.07.1998 aufzuheben, bei ihm eine Berufskrank-heit nach Nr. 2108 der Anlage zur BKV anzuerkennen und ihm wegen der daraus resultierenden Folgen Verletztenrente nach einer MdE von mindestens 20 v.H. nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften zu zahlen,

sowie,

die Beklagte zu verurteilen, die gutachtliche Stellungnahme von Dr. X./Dr. D. vom 02.06.1998, die Stellungnahme von Dr. M./C. vom 10.10.1999 und die Stellungnahmen von Dr. X. vom 07.04.2003 und 01.03.2004 aus den Verwaltungsvorgängen zu entfernen.

Die Beklagte beantragt, die Klagen abzuweisen.

Das Gericht hat einen Befundbericht des Facharztes für Orthopädie Dr. L. vom 03.12.2010 eingeholt und den Kläger unter dem 28.03.2011 eine Frist bis 25.04.2011 gesetzt, neue Tatsachen vorzubringen, die bislang unberücksichtigt geblieben sein sollen sowie entsprechende Beweismittel zu benennen. Der Kläger hat daraufhin beantragt, den Arbeitsmediziner Prof. Dr. C-B zu den arbeitsmedizinischen Voraussetzungen der BK 2108 der Anlage zur BKV mit der Erstellung eines Gutachtens zu beauftragen. Das Gericht hat dem Kläger daraufhin mitgeteilt, dass § 44 Abs. 1 SGB X zu Ermittlungen lediglich dann zwinge, wenn neue Tatsachen vorgetragen wurden, was bislang nicht geschehen sei. Fehle es an dieser Voraussetzung, habe eine erneute Sachprüfung nicht zu erfolgen, und auch für die Einholung eines Gutachtens auf Antrag des Klägers sei kein Raum. Es hat – nachdem neue Tatsachen vom Kläger weiterhin nicht vorgebracht wurden – kein Gutachten von Prof. Dr. C-B eingeholt.

Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die ge-wechselten Schriftsätze und die übrige Gerichtsakte sowie auf die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Die Kammer konnte durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil sich die Beteiligten hiermit übereinstimmend einverstanden erklärt haben, § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Die Klagen sind zulässig, jedoch nicht begründet. Der Kläger wird durch die ange-fochtenen Bescheide nicht im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG beschwert, da sie nicht rechtswidrig sind. Er hat keinen Anspruch auf Rücknahme des bestandskräfti-gen Bescheides vom 30.07.1998 und Anerkennung und Entschädigung der Folgen einer BK 2108 der Anlage zur BKV (dazu unter I.). Er hat auch keinen Anspruch auf Aufhebung des bestandskräftigen Bescheides vom 30.07.1998 nach § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB X (dazu unter II.). Der Kläger hat schließlich keinen Anspruch auf Entfernung der besagten Stellungnahmen aus den Verwaltungsvorgängen der Be-klagten (dazu unter III.).

I. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Rücknahme des bestandskräftigen Bescheides vom 30.07.1998. Denn die Beklagte hat weder das Recht unrichtig angewandt (§ 44 Abs. 1 Satz 1, 1. Alt. SGB X), noch ist sie von einem Sachverhalt ausgegangen, der sich als unrichtig erweist (§ 44 Abs. 1 Satz 1, 2. Alt. SGB X).

Die Voraussetzungen des § 44 Abs. 1 Satz 1, 2. Alt SGB X liegen nicht vor. In An-lehnung an das Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) bzw. § 40 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) erfolgt die Prüfung der zweiten Alternative des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X im Rahmen eines Dreischritts: Ergibt sich im Verlauf des Überprüfungsverfahrens nichts, was für die Unrichtigkeit der Ausgangsentscheidung sprechen könnte, darf sich die die zuständige Behörde ohne jede Sachprüfung auf die Bindungswirkung berufen. Werden zwar neue Tatsachen oder Erkenntnisse vorgetragen und neue Beweismittel benannt, ergibt aber die Prüfung, dass die vorgebrachten Gesichtspunkte nicht tatsächlich vorliegen oder für die frühere Entscheidung nicht erheblich waren, darf sich die Verwaltung ebenfalls auf die Bindungswirkung stützen. Nur wenn die Prüfung zu dem Ergebnis führt, dass ursprünglich nicht beachtete Tatsachen oder Erkenntnisse vorliegen, die für die Entscheidung wesentlich sind, ist ohne Rücksicht auf die Bindungswirkung erneut zu entscheiden (BSG 3.2.1988 – 9/9a RV 18/86 = juris Rz 16 f = BSGE 63, 33; BSG 3.4.2001 – B 4 RA 22/00 R = juris Rz 28 = BSGE 88, 75; ähnlich BSG 12.12.1996 – 11 RAr 57/96 = juris Rz 17 = BSGE 79, 297; Schleswig-Holsteinisches LSG 7.10.1999 – L 5 U 11/99 = juris Rz 26 und 12.7.2007 – L 2 VS 55/06 = juris Rz 29; LSG Hamburg 9.2.2010 – L 3 U 50/08 = juris Rz 13). Im vorliegenden Verfahren fehlt es bereits an einem neuen Tatsachenvorbringen im Sinne des ersten Prüfungsschrittes. Die Beklagte hatte seinerzeit den Anspruch des Klägers auf Anerkennung und Entschädigung der BK 2108 der Anlage zur BKV mangels Vorliegens der arbeitstechnischen und medizinischen Voraussetzungen abgelehnt. Das Landessozialgericht hat im Berufungsverfahren L 15 U 183/01 diese Sichtweise ausdrücklich bestätigt, wie der Hinweis im Rahmen der mündlichen Verhandlung zeigt. Es ist deshalb im Rahmen des § 44 Abs. 1 Satz 1, 2. Alt SGB X zu fordern, dass im Hinblick auf die arbeitstechnischen und medizinischen Voraussetzungen neue Tatsachen vorgebracht werden. Die Kammer verkennt hierbei nicht, dass es sich um einen medizinischen Sachverhalt handelt, so dass ein qualifiziertes medizinisches Vorbringen selbst dem anwaltlich vertretenen Kläger nicht aufgebürdet werden kann. Jedoch ist im Rahmen der zweiten Alternative des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X zumindest zu fordern, dass neue Tatsachen im Ansatz bezeichnet werden. Bereits eine Darlegung dieser neuen Tatsachen, an die keine zu hohen Anforderungen zu stellen sind, löst die Pflicht zur Sachprüfung des Gerichts im Rahmen des Zugunstenverfahrens aus.

An einem solchen neuen Tatsachenvorbringen im dargelegten Sinne indessen fehlt es im vorliegenden Fall. Der Kläger hat sich allein darauf beschränkt, die Beweiswürdigung der Tatsacheninstanzen als fehlerhaft darzustellen. So hat er im Rahmen des Zugunstenverfahrens ausgeführt, der im Ausgangsverfahren unter dem 15.08.2005 gehörte Sachverständige Dr. T. habe eine Teilursächlichkeit festgestellt (Schriftsatz vom 02.11.2010, Bl. 21 der Gerichtsakte). Abgesehen davon, dass sich die Stellungnahme von Dr. T. zu den arbeitstechni-schen Voraussetzungen verhält, so handelt es sich sämtlich um Tatsachen, die be-reits zum Zeitpunkt der Berufungsrücknahme bekannt waren und damit nicht um ein neues Tatsachenvorbringen im dargelegten Sinne. Das Gericht darf sich daher darauf beschränken, in eine Sachprüfung nicht einzutreten, weil keine neuen Tatsachen vorgebracht worden sind. Nicht ausreichend ist demgegenüber, dass sich eine andere Bewertung der im Ausgangsverfahren bekannten Tatsachen ergibt. Die Möglichkeit einer lediglich anderen Beweiswürdigung eröffnet die Sachprüfung im Rahmen des § 44 Abs. 1 Satz 1, 2. Alt SGB X nicht (Schleswig-Holsteinisches LSG 12.7.2007 – L 2 VS 55/06 = juris Rz 37; LSG Nordrhein-Westfalen 18.2.2010 – L 10 B 9/09 VG Rz 18; Merten, in: Hauck/Noftz, § 44 SGB X, Rdnr. 40).

Erst Recht müssen diese Überlegungen Geltung beanspruchen, als mit der nach Berufungsrücknahme rechtskräftigen Entscheidung der ersten Kammer des Sozialgerichts Aachen vom 19.06.2001 eine gerichtliche Entscheidung vorliegt, welche die bestandskräftige Ausgangsentscheidung bestätigt. Angesichts dieser gleichsam mehrschichtigen Rechtssicherheit sind an das Tatsachenvorbringen umso höhere Anforderungen zu stellen.

Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Anhörung eines bestimmten Arztes nach § 109 Abs. 1 Satz 1 SGG. Denn ein ärztliches Gutachten ist ein Mittel zum Beweis von Tatsachen, § 118 Abs. 1 SGG i.V.m. §§ 402 ff. ZPO (Sachverständigenbeweis). Es sind daher, zumal im Rahmen des strengeren Anforderungen unterliegenden Zugunstenverfahrens nach § 44 SGB X, zunächst Tatsachen zu benennen, über die Beweis erhoben werden soll. Andernfalls handelte es sich um einen der Tatsachenausforschung dienenden, unzulässigen Ausforschungsbeweis. Werden deshalb im Rahmen des Zugunstenverfahrens keine neuen Tatsachen vorgebracht, besteht auch kein Anspruch auf gutachtliche Anhörung eines bestimmten Arztes nach § 109 Abs. 1 Satz 1 SGG (LSG Niedersachsen-Bremen 3.2.2005 – L 6 U 398/03 = juris Rz 24; LSG Nordrhein-Westfalen 2.12.2009 – L 17 U 256/08 = juris Rz 31; Merten, in: Hauck/Noftz, § 44 SGB X Rdnr. 41).

Der Kläger hat weiter keinen Anspruch auf Rücknahme des bestandskräftigen Aus-gangsbescheides nach § 44 Abs. 1 Satz 1, 1. Alt. SGB X. Eine unrichtige Rechtsanwendung im Sinne dieser Vorschrift ist nämlich nicht bereits infolge unrichtiger Subsumtion gegeben. Andernfalls hätte die zweite Alternative des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X kaum eigenständige Bedeutung. Streitet somit bereits die Binnensystematik des § 44 Abs. 1 SGB X für eine eigenständige Bedeutung dieser Tatbestandsalternative, so lassen sich auch Historie und ratio hierfür anführen. Denn der Gesetzgeber wollte mit der allgemeinen Vorschrift des § 44 SGB X die Vorgängerregelungen für den gesamten Bereich des Sozialrechts festschreiben. Eine "einfache" Rechtswidrigkeit indessen war nach den Vorläuferregelungen nicht ausreichend. Insbesondere aber dient die Vorschrift neben der Einzelfallgerechtigkeit auch der Rechtssicherheit. Würde indessen bereits die Behauptung einer falschen Subsumtion die Bindungswirkung von Sozialverwaltungsakten beseitigen können, so stünde jegliche behördliche Entscheidung unter dem Vorbehalt der nachträglichen Überprüfung, was rechtsstaatlich kaum hinnehmbar wäre (SG Aachen 16.12.2009 – S 8 U 69/09 = juris Rz 19; SG Hamburg, Urteil vom 03.01.2011, S 6 AY 70/09, abrufbar unter www.sozialgerichtsbarkeit.de; ausführlich Merten, in: Hauck/Noft, § 44 SGB X Rdnr. 30).

Demnach ist das Merkmal der unrichtigen Rechtsanwendung restriktiv zu interpretieren. Erfasst werden in Anknüpfung an die Unterscheidung zwischen Tatsachen- und Rechtfehlern lediglich Fehler im Bereich von Definition, Begriffsbestimmung oder Rechtsauslegung. Dagegen werden bloße Fehler im Subsumtionsvorgang nicht erfasst (so bereits SG Aachen 16.12.2009 – S 8 U 69/09 = juris Rz 19; Merten, in: Hauck/Noft, § 44 SGB X Rdnr. 32; ähnlich bereits Schleswig-Holsteinisches LSG 27.1.2000 – L 5 U 64/99 = juris Rz 27). Ein solcher Rechtsfehler im engeren Sinne aber ist im vorliegenden Fall nicht ersichtlich. Die Beklagte hat die einschlägigen Vorschriften richtig angewandt und ihren Bedeutungsgehalt nicht verkannt. Dass sie im Zugunstenverfahren zu einer neuen Bewertung der arbeitstechnischen Voraussetzungen gekommen ist, ändert für den Bereich der medizinischen Voraussetzungen der BK 2108 der Anlage zur BKV nichts.

II. Der Kläger hat weiter keinen Anspruch auf Aufhebung des bestandskräftigen Be-scheides vom 30.07.1998 nach § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB X. An den Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X fehlt es schon deshalb, weil es sich bei dem Bescheid vom 30.07.1998 um einen ablehnenden Verwaltungsakt handelt. Ablehnungsbescheide aber stellen keine Verwaltungsakte mit Dauerwirkung dar (allgemeine Ansicht, vgl. nur BSG, Urteil vom 30.01.1985 – 1 RJ 2/84 = BSGE 58, 27,31; BSG, Urteil vom 11.12.2007 – B 8/9b SO 12/06 R = SozR 4-3500 § 21 Nr. 1; Merten, in: Hauck/Noftz, SGB X, § 48 Rdnr. 17). Überdies fehlt es an einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse zu Gunsten des Klägers im Sinne von § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB X. Auf die aktuelle Recht-sprechung des BSG zum Mainz-Dortmunder-Dosismodell kann nicht abgestellt werden. Zwar schließt § 48 Abs. 2 SGB X – der eine Aufhebung nur mit Wirkung für die Zukunft ermöglicht – eine Aufhebung nach § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB X zu Gunsten des Betroffenen mit Wirkung für die Vergangenheit nicht aus (dazu etwa BSG, Urteil vom 21.03.1996 – 11 Rar 101/94 = BSGE 78, 109, 115; BSG, Urteil vom 27.07.2004 – B 7 AL 76/03 R = SozR 4-4300 § 330 Nr. 2). Jedoch liegt selbst in die-ser Rechtsprechung keine wesentliche Änderung, weil sie sich die Entscheidung des BSG vom 18.11.2008 (Az. B 2 U 14/08 R) lediglich zu den arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK 2108 der Anlage zur BKV, nicht aber zu den Maßstäben des medizinischen Kausalzusammenhangs verhält.

III. Der Kläger hat schließlich auch keinen Anspruch gegen die Beklagte auf Entfernung der besagten ärztlichen Stellungnahmen aus den Verwaltungsvorgängen.

Grundlage für einen solchen Anspruch ist die Vorschrift des § 84 Abs. 2 SGB X. Ein solcher Anspruch besteht jedoch lediglich bei Verstoß gegen das in § 200 Abs. 2 SGB VII genannte Auswahlrecht und bei rechtzeitiger Rüge eines solchen Verstoßes (vgl. nur BSG, Urteil vom 20.07.2010 - B 2 U 17/09 R = juris).

Im vorliegenden Fall fehlt es mit Ausnahme der Stellungnahme von Dres. X./D. vom 02.06.1998 bereits an einem Verstoß gegen § 200 Abs. 2 SGB VII. Denn ledig-lich bei der Stellungnahme von Dres. X./D. vom 02.06.1998 handelt es sich um ein "Gutachten" im Sinne von § 200 Abs. 2 SGB VII. Sämtliche übrigen streitgegenständlichen medizinischen Stellungnahmen der Beklagten sind während des laufenden Klage- bzw. Berufungsverfahrens eingeholt worden und damit schon aus systematischen Gründen nicht § 200 Abs. 2 SGB VII unterworfen (ebenso im Ergebnis Ricke, in: Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, 69. Ergänzungslieferung 2011, § 200 SGB VII Rdnr. 4). Doch auch die Stellungnahme von Dres. X./D. vom 02.06.1998 ist nicht aus den Verwaltungsvorgängen der Beklagten zu entfernen, weil der Kläger seiner Rügeob-liegenheit nicht nachgekommen ist. Eine Verletzung des Auswahlrechts nach § 200 Abs. 2 SGB VII kann nämlich grundsätzlich nur bis zum Abschluss des jeweili-gen Verwaltungsverfahrens vom Unfallversicherungsträger geheilt werden. Deshalb wird die Verletzung, auch wenn sie ungeheilt bleibt, mit dem Abschluss des Verwaltungsverfahrens grundsätzlich unbeachtlich (siehe nur BSG, Urteil vom 20.07.2010 - B 2 U 17/09 R = juris). Das ursprüngliche Verwaltungsverfahren aber war mit dem Widerspruchsbescheid vom 24.11.1998 abgeschlossen, ohne dass der Kläger eine Verletzung seines Auswahlrechts gerügt hätte. Damit ist selbst dann, wenn man von einer solchen Verletzung ausginge, diese unbeachtlich, weil der Kläger sie nicht rechtzeitig, sondern erst anlässlich des Zugunstenverfahrens ge-rügt hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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