L 28 AS 1853/11 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
28
1. Instanz
SG Neuruppin (BRB)
Aktenzeichen
S 24 AS 1597/11 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 28 AS 1853/11 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Neuruppin vom 07. September 2011 geändert. Der Antragsteller wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller für die Zeit ab dem 01. November 2011 bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens, längstens bis zum 29. Februar 2012 Leistungen zur Grundsicherung unter Ansatz der vollen tatsächlich anfallenden Kosten für Unterkunft und Heizung zu gewähren. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Der Antragsgegner hat die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers zu tragen. Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.

Gründe:

I.

Der Antragsteller begehrt die Gewährung höherer Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB II) für die Zeit vom 01. August 2011 bis zum 29. Februar 2012 unter Ansatz der tatsächlich anfallenden Kosten für Unterkunft und Heizung.

Der 1950 geborene Antragsteller bewohnt seit dem Tod seiner Ehefrau Ende Oktober 2010 unter der sich aus dem Rubrum ergebenden Anschrift allein eine ca. 59 m² große Wohnung. Die zu zahlende Miete beläuft sich auf monatlich 483,93 EUR (277,93 EUR Kaltmiete, 104,00 EUR Nebenkosten, 102,00 EUR Heizkosten). Mit Schreiben vom 08. November 2010 wies der Antragsgegner den Antragsteller darauf hin, dass die von ihm zu zahlende Nettokaltmiete in Höhe von 277,93 EUR den angemessenen Betrag von 210,00 EUR (50 m² x 4,20 EUR/m²) übersteige. Heizkosten seien für eine Person nur im Umfang von 1,20 EUR/m² angemessen. Zusammen mit den nachgewiesenen Nebenkosten würden die Kosten für die Unterkunft um 121,93 EUR, die für die Heizung um 42,00 EUR überschritten. Die unangemessenen Aufwendungen würden nur noch für längstens sechs Monate ab Leistungsbeginn berücksichtigt.

Nachdem der Antragsgegner für die Zeit bis einschließlich Juli 2011 der Leistungsberechnung die tatsächlich anfallenden Kosten für Unterkunft und Heizung zugrunde gelegt hatte, beantragte der Antragsteller Anfang Juli 2011 unter Darlegung seines Gesundheitszustandes die weitere Übernahme der tatsächlichen Kosten für Unterkunft und Heizung. Mit Bescheid vom 26. Juli 2011 bewilligte der Antragsgegner dem Antragsteller für die Zeit vom 01. August 2011 bis zum 29. Februar 2012 Grundsicherungsleistungen, wobei er bei der Leistungsberechnung für die Kosten der Unterkunft nur noch 314,00 EUR und für die Kosten der Heizung 60,00 EUR ansetzte, ohne auf das Ansinnen des Antragstellers einzugehen. Mit Schreiben vom 08. August 2011 legte dieser hiergegen Widerspruch ein, über den – soweit ersichtlich – bisher nicht entschieden ist.

Am selben Tag hat er beim Sozialgericht Neuruppin um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht. Zur Begründung hat er geltend gemacht, dass er das Vorgehen des Antragsgegners für pietätlos halte. Im Übrigen aber sei unberücksichtigt geblieben, dass er sich 2009 einem operativen Eingriff im Rückenmarkskanal habe unterziehen müsse und noch immer an den Folgen dieser Operation leide. Ferner wiesen seine beiden Hüftgelenke inoperable Schädigungen auf. Für den 24. August 2011 sei der operative Ersatz des rechten Hüftgelenks geplant. Er sei auf Schmerzmittel angewiesen, die seine kognitiven Fähigkeiten, insbesondere seine Konzentrationsfähigkeit beeinflussten. Größere Lasten könne er nicht bewegen. Es sei ihm unmöglich, umfangreiche Recherchen nach freiem Wohnraum zu tätigen. Seine Bemühungen bei seiner Wohnungsbaugenossenschaft um angemessenen Wohnraum seien bisher erfolglos geblieben. Er stehe dort jedoch auf der Warteliste mit besonderer Priorität für einen kleineren Wohnraum im Erd- bis 1. Obergeschoss.

Mit Beschluss vom 23. August 2011 hat das Sozialgericht Neuruppin dem Antragsteller Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seines Bevollmächtigten gewährt. Den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung hat es mit Beschluss vom 07. September 2011 abgelehnt. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass weder ein Anordnungsgrund noch ein Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht seien. Zweifel am Vorliegen eines Anordnungsanspruchs ergäben sich daraus, dass der Antragsteller bereits seit zehn Monaten in einer größenmäßig unangemessenen Wohnung lebe. Vor allem aber sei die Angelegenheit nicht eilbedürftig. Der Antragsteller habe nicht glaubhaft gemacht, dass ihm infolge der Kürzung der Leistungen die Kündigung oder zeitnahe Räumung der derzeitigen Unterkunft und infolgedessen Wohnungslosigkeit oder gar Obdachlosigkeit drohe. Zudem habe er selbst angegeben, die aktuelle Wohnung lieber heute als morgen wechseln zu wollen.

Gegen diesen ihm am 09. September 2011 zugestellten Beschluss richtet sich die am 06. Oktober 2011 eingelegte Beschwerde des Antragstellers, der zugleich die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren beantragt hat und der sich ausweislich des Schreibens seines Bevollmächtigten vom 06. September 2011 seit Anfang September zur Durchführung der geplanten Hüftoperation in der Klinik befindet und danach an einer Rehabilitationsmaßnahme teilnimmt. Zur Begründung hat er nochmals geltend gemacht, aufgrund seiner schweren Rückenmarks- und Hüftgelenkserkrankung körperlich nicht in der Lage zu sein, sich um eine andere Wohnung zu kümmern. Im Übrigen sei die Sache sehr wohl eilbedürftig, da ihm bei voller Zahlung seiner Unterkunftskosten nur noch 69,8 % des Regelsatzes zur Verfügung stünden.

II.

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Neuruppin vom 07. September 2011 ist nach § 172 Abs. 1 und 3 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthaft und zulässig, insbesondere schriftlich und fristgerecht eingelegt (§ 173 SGG). Auch ist sie in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht Neuruppin den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung abgelehnt. Der Antragsgegner war im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig zu verpflichten, dem Antragsteller für die Zeit ab dem 01. November 2011 bis zum rechtskräftigen Abschluss der Hauptsache, längstens bis zum 29. Februar 2012 Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitsuchende unter Ansatz seiner vollen Unterkunfts- und Heizkosten zu bewilligen.

Nach § 86b Abs. 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Dies setzt voraus, dass nach materiellem Recht ein Anspruch auf die begehrte Leistung besteht (Anordnungsanspruch) und die Regelungsanordnung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig ist (Anordnungsgrund). Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind jeweils glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).

Ob dem Antragsteller im Hauptsacheverfahren für die Zeit vom 01. August 2011 bis zum 29. Februar 2012 – so wie vor dem Sozialgericht bei sachgerechter Auslegung beantragt - ein Anspruch auf höheres Arbeitslosengeld II zugesprochen werden wird, vermag der Senat im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht abschließend zu beurteilen. Dabei ist es entgegen der Ansicht des Sozialgerichts unerheblich, ob der Antragsteller bereits seit zehn Monaten in einer unangemessenen großen Wohnung lebt. Maßgeblich ist vielmehr, dass zwar nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II Bedarfe für Unterkunft und Heizung grundsätzlich nur in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt werden, soweit diese angemessen sind, nach Satz 3 der Vorschrift allerdings Aufwendungen für die Unterkunft und Heizung, die den der Besonderheit des Einzelfalls angemessenen Umfang übersteigen, so lange als Bedarf anzuerkennen sind, wie es dem alleinstehenden Leistungsberechtigten nicht möglich oder nicht zuzumuten ist, durch einen Wohnungswechsel, durch Vermieten oder auf andere Weise die Aufwendungen zu senken, in der Regel jedoch längstens für sechs Monate.

Vorliegend ist der Antragsteller, der sich nach dem Tod seiner Ehefrau Ende Oktober 2010 sowieso schon in einer schwierigen Situation befunden haben dürfte, gesundheitlich offenbar deutlich angeschlagen. Hiervon hat der Antragsgegner spätestens am 05. Juli 2011 Kenntnis erlangt. Ergänzend ist darauf sowie auf den für den 24. August 2011 anberaumten Operationstermin bereits mit der am 08. August 2011 bei Gericht eingegangenen Antragsschrift hingewiesen worden, ohne dass dies zum Anlass genommen worden wäre, sich mit der Zumutbarkeit eines Umzuges auch nur ansatzweise auseinanderzusetzen. Ebenso wenig ist dies durch den Antragsgegner geschehen, nachdem er im Hinblick auf die Beschwerdebegründung ausdrücklich zur ausführlichen Stellungnahme zur Verfügbarkeit angemessenen Wohnraums und zur Zumutbarkeit eines Umzugs aufgefordert worden war. Nach Aktenlage spricht einiges dafür, dass dem Antragsteller, der überhaupt erst seit dem Tod seiner Ehefrau in einer möglicherweise unangemessenen Wohnung lebt und der zu keinem Zeitpunkt hat erkennen lassen, dass er sich dem geforderten Umzug grundsätzlich widersetzen möchte, der im Gegenteil nach eigenem Bekunden selbst an anderem Wohnraum interessiert ist und sich bei der Wohnungsbaugenossenschaft um angemessenen Wohnraum bemüht hat, bereits seit Beginn des hier verfahrensgegenständlichen Zeitraums am 01. August 2011 angesichts seines Gesundheitszustandes ein Umzug nicht zumutbar ist. Ob dies tatsächlich so ist oder ihm trotz bestehender gesundheitlicher Beeinträchtigungen eine Kostensenkung zumutbar gewesen wäre, bedarf der Aufklärung.

Da dem Senat die Durchführung der bisher nicht erfolgten Ermittlungen im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens nicht möglich ist, hatte er anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. Diese musste zugunsten des Antragstellers getroffen werden. Denn Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende dienen der Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens. Diese Sicherstellung ist eine verfassungsrechtliche Pflicht des Staates, die aus dem Gebot zum Schutze der Menschenwürde in Verbindung mit dem Sozialstaatsgebot folgt (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des 1. Senats vom 12.05.2005, - 1 BvR 569/05 -, zitiert nach juris). Da der elementare Lebensbedarf eines Menschen grundsätzlich nur in dem Augenblick befriedigt werden kann, in dem er entsteht ("Gegenwärtigkeitsprinzip"), wären selbst im Falle einer nachträglichen Leistungsgewährung im Rahmen eines Hauptsacheverfahrens die Folgen der (zunächst) ungerechtfertigten Leistungsversagung ungleich schwerwiegender als die einer möglicherweise nicht gebotenen Gewährung. Dem steht entgegen der beim Sozialgericht anklingenden Rechtsauffassung weder entgegen, dass aktuell keine Obdachlosigkeit droht, noch dass der Antragsteller selbst Interesse daran bekundet hat, schnellstmöglich in eine andere Wohnung umzuziehen.

Allerdings war der Antragsgegner zur vorläufigen Leistungsbewilligung - der ständigen Rechtsprechung des Senats folgend - erst für die Zeit ab Entscheidung durch den Senat – hier aus Praktikabilitätsgründen ab dem 01. November 2011 - zu verpflichten. Denn das Vorliegen eines Anordnungsgrundes beurteilt sich nach dem Zeitpunkt, in dem das Gericht über den Eilantrag entscheidet; im Beschwerdeverfahren ist dies der Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung. Denn die prozessuale Funktion des einstweiligen Rechtsschutzes besteht vor dem Hintergrund des Artikels 19 Absatz 4 des Grundgesetzes (GG) darin, in dringenden Fällen effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten, in denen eine Entscheidung im – grundsätzlich vorrangigen – Verfahren der Hauptsache zu spät käme, weil ohne sie schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre. Dies bedeutet aber zugleich, dass die Annahme einer besonderen Dringlichkeit und dementsprechend die Bejahung eines Anordnungsgrundes in aller Regel ausscheidet, soweit diese Dringlichkeit lediglich vor dem Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vorgelegen hat. Insoweit ist die besondere Dringlichkeit durch den Zeitablauf überholt; das Abwarten einer Entscheidung im Verfahren der Hauptsache über den zurückliegenden Zeitraum ist dem Rechtsschutzsuchenden in aller Regel zumutbar. Dass vorliegend anderes zu gelten hätte, ist nicht vorgetragen und auch sonst nicht ersichtlich. Soweit der Antragsteller in den vergangenen Monaten zur Begleichung seiner Unterkunftskosten teilweise auf die ihm zum Lebensunterhalt gewährten Leistungen zurückgegriffen hat, ist dies im Rahmen einer vorläufigen Regelung nicht mehr zu korrigieren.

Schließlich war die vorläufige Leistungsbewilligung auf die Zeit bis zum rechtskräftigen Abschluss der Hauptsache, längstens bis zum 29. Februar 2012 – dem Ende des aktuellen Bewilligungsabschnitts - zu befristen.

Der Höhe nach musste sich die vorläufige Verpflichtung des Antragsgegners nicht nur auf die Übernahme der vollen Unterkunfts-, sondern auch der vollen Heizkosten erstrecken. Denn da zu dem geschützten Grundbedürfnis "Wohnen" nicht nur eine bestimmte Räumlichkeit gehört, sondern auch eine angemessene Raumtemperatur, gilt die Bestandsschutzregelung auch mit Blick auf die Heizkosten (vgl. BSG, Urteil vom 19.09.2008 – B 14 AS 54/07 R – zitiert nach juris, Rn. 22).

Die Kostenentscheidung folgt aus einer analogen Anwendung des § 193 Abs. 1 SGG. Dabei erschien es trotz des letztlich nur teilweisen Obsiegens des Antragstellers angemessen, den Antragsgegner vollständig mit den Kosten zu belasten.

Im Hinblick auf den Kostenerstattungsanspruch des Antragstellers gegen den Antragsgegner hat sich der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren erledigt.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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