S 13 KR 296/11 ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
13
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 13 KR 296/11 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt. Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Antragstellerin (Ast.) begehrt von der Antragsgegnerin (Ag.) im Wege des vorläufigen Rechtschutzes die Übernahme der Kosten des Arzneimittels CellCept® (Wirkstoff: Mycophenolatmofetil), zumindest aber ab November 2011.

Die am 00.00.0000 geborene Antragstellerin leidet an einer generalisierten Myasthenia gravis. Sie wurde deshalb wiederholt mit Corticosteroiden therapiert. Um eine dauerhafte Steroidtherapie und insbesondere eine höhere Steroiddosis zu vermeiden, erhielt die Klägerin eine immunsuppressive Behandlung mit Azathioprin; diese musste jedoch aufgrund einer schweren, bis zur Intensivpflichtigkeit führenden Pankreatitis beendet werden.

Erstmals Anfang 2010 beantragte die Ast. die Übernahme der Kosten für eine medikamentöse Therapie mit CellCept®. Nach Einholung einer – befürwortenden – Stellungnahme des Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) erklärte sich die Ag. im Rahmen einer Einzelfallentscheidung bereit, die Kosten für die Therapie mit CellCept® befristet bis zum 30.09.2010 zu übernehmen.

Im Januar 2011 beantragte die Ast. die Fortsetzung der Therapie unter Vorlage eines Berichts der Neurologischen Klinik des Universitätsklinikum Düsseldorf vom 20.12.2010. Darin wird ausgeführt, dass es unter der Behandlung mit Mycophenolatmofetil zu einer guten Rückbildung der myasthenen Symptomatik und einer Stabilisierung des Befundes gekommen sei.

Hierzu befragt erklärte der MDK in einer Stellungnahme vom 11.02.2011, die medizinischen Voraussetzungen für eine Behandlung der Ast. mit CellCept® zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung seien nicht erfüllt, weil die Voraussetzungen für einen Off-Label-Gebrauch dieses Arzneimittels nicht vorlägen.

Gestützt hierauf lehnte die Beklagte den Kostenübernahmeantrag durch Bescheid vom 15.03.2011 ab. Den dagegen am 05.04.2011 eingelegten Widerspruch wies sie – gestützt auf eine weitere MDK-Stellungnahme – durch Widerspruchsbescheid vom 20.09.2011 zurück.

Dagegen hat die Ast. am 19.10.2011 Klage erhoben (S 13 KR 297/11).

Ebenfalls am 19.10.2011 hat die Ast. um vorläufigen Rechtschutz nachgesucht. Sie trägt vor, von ihrem Hausarzt auch "in den letzten Monaten" das Medikament auf Rezept erhalten zu haben; es sei stets von der Apotheke ausgegeben worden, ohne dass es irgendwelche Beanstandungen gegeben habe. Bei der letzten Verordnung habe der Hausarzt jedoch mitgeteilt, dass er das Medikament in Zukunft nicht mehr "auf Kassenrezept" verordnen könne. Die Ast. vermutet, der Hausarzt habe Angst vor einem Regress. Das Medikament sei ihr bereits ausgegangen. Sie habe es nun auf Privatrezept erhalten und selbst – unter Beteiligung ihrer drei Kinder – bezahlt. Das Medikament reiche jetzt einen Monat, sodass etwas Zeit gewonnen sei. Die Ast. meint, die Ag. habe die Kosten für das Medikament zumindest ab November 2011 zu übernehmen, weil der Arzt nicht mehr "auf Kasse" verschreibe, das Medikament jedoch bis auf Weiteres zwingend notwendig sei. Eine Umstellung der Medikation sei, wenn überhaupt, nur in einer Klinik unter dauernder Aufsicht möglich. Soweit eine schulmedizinische Therapie zur Verfügung stehe (Cyclophosphamid), wolle sich die Ast. dieser grundsätzlich nicht verschließen. Solange keine Neueinstellung mit einem anderen wirksamen Medikament erfolgt sei, habe die Ag. die Kosten für das Medikament weiterhin zu übernehmen.

Die Antragstellerin beantragt dem Sinne ihres schriftsätzlichen Vorbringens nach,

die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, auch für die Zeit nach dem 30.09.2010 weiterhin die Kosten des Arzneimittels CellCept® (Mycophenolatmofetil) zu übernehmen, hilfsweise, die Antragstellerin ab November 2011 mit dem Arzneimittel CellCept® zu versorgen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.

Sie ist der Auffassung, es bestehe bereits kein Anordnungsanspruch. Sie dürfe die Kosten nicht übernehmen, weil die Zulassung des Arzneimittels CellCept® nicht die Behandlung des bei der Ast. vorliegenden Krankheitsbildes umfasse und auch keine Ausnahmeindikation im Sinne der höchstrichterlichen Rechtsprechung vorliege. Es handele sich um einen Off-Label-Use. Eine besondere Ausnahme im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) hierzu sei nicht gegeben; im Rahmen der schulmedizinischen Versorgung seien andere Therapien verfügbar; bezüglich der beantragten Behandlung mit CellCept® liege keine ausreichend gesicherte Datenlage vor. Ergänzend verweist die Ag. darauf, dass für die Zeit nach dem 30.09.2010 vertragsärztliche Verordnungen vom 06.12.2010, 04.01.2011 und 04.04.2011 über CellCept® vorlägen, denen im Wege der Sachleistung auch entsprochen worden sei. Vertragsärztliche Verordnungen bedürften keiner Genehmigung der Krankenkasse und seien zudem auch nicht genehmigungsfähig. Ein Antragsverfahren sei insoweit nicht gesetzlich vorgesehen. Die (vertragsärztliche) Verordnung von Arzneimitteln liege allein in der Verantwortung des Vertragsarztes. Dass der Vertragsarzt im Falle einer unwirtschaftlichen Verordnung ggf. einen Regress befürchten müsse, betreffe nicht die Antragstellerin.

II.

Der Antrag auf Erlass einer einstweilgien Anordnung ist nicht begründet.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Der Ast. muss glaubhaft machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung - ZPO), dass ihm ein Anspruch auf die geltend gemachte Leistung zusteht (Anordnungsanspruch) und dass das Abwarten einer gerichtlichen Entscheidung in einem Hauptsacheverfahren für ihn mit unzumutbaren Nachteilen verbunden wäre (Anordnungsgrund). Einstweilige Anordnungen kommen grundsätzlich nur in Betracht, wenn die Beseitigung einer gegenwärtigen Notlage dringend geboten ist.

Unter Beachtung dieser Grundsätze fehlt es sowohl am Anordnungsanspruch als auch am Anordnungsgrund.

Nach § 27 Abs. 1 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Nach § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB V umfasst die Krankenbehandlung auch die Versorgung mit Arzneimitteln. Der Anspruch zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung ist allgemein auf apotheken- und verschreibungspflichtige Arzneimittel begrenzt (vgl. § 31 SGB V). Die Krankenkassen erbringen ihre Leistungen grundsätzlich als Sach- und Dienstleistung (§ 2 Abs. 2 Satz 1 SGB V); Kostenerstattung ist nur in den gesetzlichen Ausnahmefällen vorgesehen (§ 13 Abs. 1 SGB V). Die Versorgung der Versicherten mit Arzneimitteln erfolgt derart, dass ein Vertragsarzt ein arzneimittelrechtlich zugelassenes Arzneimittel auf einem dafür vorgesehen vertragsärztlichen Rezept verordnet und der Versicherte aufgrund dieser vertragsärztlichen Verordnung in der Apotheke das Arzneimittel erhält. Voraussetzung des Versorgungsanspruchs gegenüber der Krankenkasse ist also zunächst eine vertragsärztliche Verordnung.

Soweit die Ast. Kostenübernahme für die Zeit ab 30.09.2010 geltend macht, steht einem entsprechen Anspruch bis in die jüngere Vergangenheit bereits entgegen, dass der Ast. nach eigenen Angaben keine Kosten entstanden sind. Denn ihr Hausarzt hat ihr noch nach dem 30.09.2010 auf drei "Kassenrezepten" CellCept® vertragsärztlich verordnet, und die Ast. hat das Arzneimittel daraufhin auch unbeanstandet in der Apotheke erhalten. Kosten sind ihr dadurch nicht entstanden; diese hat die Ag. übernommen.

Erst nachdem die Medikamentenreserve aufgrund der letzten vertragsärztlichen Verordnung vom 04.04.2011 erschöpft waren, sind der Ast. Kosten dadurch entstanden sein, dass sie sich CellCept® auf Privatrezept – privatärztlich verordnet – selbst beschafft und die Kosten dafür bezahlt hat. Ob insoweit ein Kostenerstattungsanspruch, für den als Anspruchsgrundlage allein § 13 Abs. 3 SGB V in Betracht käme, besteht, braucht das Gericht im vorläufigen Rechtschutzverfahren nicht abschließend zu klären, da es insoweit jedenfalls am Anordnungsgrund fehlt. Die Ast. hat weder den genauen Zeitraum benannt, für die ihr in der Vergangenheit Kosten entstanden sind, noch die Höhe der Kosten selbst beziffert. Sie hat auch weder dargelegt noch glaubhaft gemacht, dass ihr schwere und nicht wiedergutzumachende Nachteile entstehen, wenn ihr diese Kosten aus der Vergangenheit nicht schon im vorläufigen Rechtschutzverfahren erstattet werden.

Soweit die Ast. hilfsweise die Versorgung mit CellCept® durch die Ag. für die Zukunft (im Wege der Naturalleistung) begehrt, fehlt es jedenfalls am Anordnungsgrund. Wenn eine vertragsärztliche Verordnung von CellCept® zulässig ist, steht einer solchen durch den Hausarzt oder einen anderen Vertragsarzt, z.B. die Ärzte der Neurologischen Klinik des Universitätsklinikums Düsseldorf, nichts im Wege. Eine Apotheke wird auf ein solches "Kassenrezept" das Arzneimittel zu Lasten der Ag. an die Ast. ausliefern. Hierfür bedarf es nicht des Erlasses einer einstweiligen Anordnung.

Dieser Sachleistungsweg kann nicht dadurch umgangen werden, dass sich ein Vertragsarzt aus – nicht näher dargelegten Gründen – weigert, eine vertragsärztliche Verordnung über CellCept® auszustellen. Es ist nicht zu verkennen, dass die Verordnung von CellCept® zur Behandlung der bei der Ast. bestehenden Myasthenia gravis einer besonderen Begründung bedarf. Denn das Arzneimittel ist zur Behandlung dieses Krankheitsbildes nicht zugelassen. Eine zulassungsüberschreitende Anwendung (sog. Off-Label-Use) zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung ist zwar nicht grundsätzlich ausgeschlossen, muss jedoch wegen des Vorrangs des Arzneimittelrechts auf Fälle beschränkt werden, in denen einerseits ein unabweisbarer und anders nicht zu befriedigender Bedarf an der Arzneitherapie besteht und andererseits die therapeutische Wirksamkeit und Unbedenklichkeit der Behandlung hinreichend belegt sind. Die Verordnung eines Medikaments in einem von der Zulassung nicht umfassten Anwendungsgebiet kommt deshalb nur in Betracht, wenn 1. es um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, 2. keine andere Therapie verfügbar ist und 3. aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann. Diese drei Ausnahmekriterien müssen kumulativ erfüllt sein (vgl. dazu BSG, Urteil vom 19.03.2002 – B 1 KR 37/00 R). Die Ärzte der Neurologischen Klinik des Universitätsklinikum Düsseldorf haben bereits in ihrer Stellungnahme vom 23.02.2010 die Auffassung vertreten, dass die drei erforderlichen Kriterien zur Off-Label-Therapie im Fall der Ast. erfüllt sind. Wenn dies zutrifft, ist nicht nachvollziehbar, warum die Ärzte CellCept® nicht weiter vertragsärztlich verordnen. Denn wenn die Voraussetzungen eines Off-Label-Use erfüllt sind, ist ein Arzneimittel auch zulassungsüberschreitend zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen verordnungsfähig. Für die vertragsärztliche Versorgung bestimmen § 29 Abs. 1 des Bundesmantelvertrag-Ärzte (BMV-Ä) und § 15 Abs. 1 des Bundesmantelvertrag-Ärzte/Ersatzkassen (EKV-Ä), dass die Verordnung von Arzneimitteln allein in der Verantwortung des Vertragsarztes liegt (Satz 1). Die Genehmigung von Arzneimittelverordnungen durch die Krankenkasse/Ersatzkasse ist unzulässig (Satz 2). Hält also der Vertragsarzt CellCept® – ggf. unter Bejahung der Off-Label-Use-Voraussetzungen – für verordnungsfähig und kann er dies medizinisch verantworten, so ist er gegenüber den Krankenkassen vertraglich verpflichtet, den entsprechenden Versorgungsanspruch des Versicherten zu erfüllen, indem er das betreffende Arzneimittel vertragsärztlich verordnet. Ist er allerdings der Auffassung, dass das Medikament nicht verordnungsfähig ist, etwa weil die Off-Label-Use-Voraussetzungen nicht kumulativ erfüllt sind, darf er das Arzneimittel nicht zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung vertragsärztlich verordnen. Dann besteht auch kein Anspruch des Versicherten aus der gesetzlichen Krankenversicherung auf Versorgung mit diesem Arzneimittel. Es ist nicht Aufgabe der Ag. und/oder des Sozialgerichts, die Entscheidung über die Verordnungsfähigkeit eines Arzneimittels nur deshalb zu übernehmen, weil sich ein Vertragsarzt weigert, dieses vertragsärztlich zu verordnen, weil er "einen Regress befürchtet", wie die Ast. vermutet. Wenn der Vertragsarzt die Voraussetzungen für einen zulässigen Off-Label-Use für gegeben hält und dies verantworten kann, braucht er aus seiner medizinisch verantwortlichen Sicht einen Arzneimittelregress nicht zu befürchten. Die verantwortliche Entscheidung, ob diese Voraussetzungen tatsächlich vorliegen, kann ihm das Gericht nicht abnehmen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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