L 4 P 4199/10

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 12 P 7365/08
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 4 P 4199/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 01. August 2010 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten auch des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Bezahlung von höherem Pflegegeld nach Pflegestufe II statt Pflegestufe I.

Die am 1936 geborene Klägerin ist versicherungspflichtiges Mitglied der Beklagten. Erstmals hatte sie im Sommer 2007 bei der Beklagten Pflegegeld beantragt. Das hierzu von der Beklagten beim Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) eingeholte Gutachten vom 12. Juni 2007 wies bei degenerativen Gelenksveränderungen im Bereich der Hüftgelenke bei Zustand nach Hüft-TEP links, Gonarthrose PHS und kompensierter Herzinsuffizienz einen Grundpflegebedarf von 25 Minuten aus. Im Widerspruchsverfahren hatte die Beklagte eine weitere Begutachtung der Klägerin beim MDK in Auftrag gegeben. Pflegefachkraft Br. berichtete in ihrem Gutachten vom 05. November 2007 vom Vorliegen degenerativer Gelenksveränderungen im Bereich der Hüftgelenke bei Zustand nach Hüft-TEP links, einer Gonarthrose und einer kompensierten Herzinsuffizienz als pflegebegründende Diagnosen. Die Klägerin könne sich mit Abstützen selbstständig erheben, hinsetzen und in ihrer Wohnung bewegen. Sie sei nicht inkontinent und besorge die Intimhygiene selbst. Ausgehend davon betrage der Grundpflegebedarf 26 Minuten am Tag, errechnet aus einem tagesdurchschnittlichen Bedarf für Körperpflege von neun Minuten, für Ernährung von drei Minuten und für Mobilität von 14 Minuten.

Noch im Verlauf des Widerspruchsverfahrens beantragte die Klägerin durch ihre Tochter am 19. Oktober 2007 unter Vorlage ärztlicher Unterlagen erneut Pflegegeld. Bei einem Sturz sei das künstliche Hüftgelenk beschädigt worden. Sie (die Klägerin) könne sich nicht mehr bücken und benötige einen Rollstuhl. Wegen einer Krebserkrankung mit Chemotherapie könne sie nicht allein gelassen werden. Sie dürfe nicht alleine aufstehen, die Toilette aufsuchen und wegen eines Aneurysmas müsse ständig der Blutdruck kontrolliert werden. Die Beklagte beauftragte daraufhin Pflegefachkraft K. vom MDK mit der Erstattung eines Gutachtens nach Untersuchung der Klägerin in häuslicher Umgebung. In ihrem Gutachten vom 13. Dezember 2007 führte Pflegefachkraft K. aus, mittlerweile lägen bei der Klägerin auch ein Zustand nach gedeckter Sigmaperforation nach Koloskopie und Polypektomie sowie Zustand nach zweimaliger Hüftluxation links und Weber-C-Fraktur am linken Sprunggelenk vor. Der Grundpflegebedarf betrage jetzt 60 (Körperpflege 30, Ernährung zehn, Mobilität 20) Minuten am Tag. Gestützt auf dieses Gutachten bewilligte die Beklagte der Klägerin mit Bescheid vom 18. Dezember 2007 ab dem 01. Oktober 2007 Pflegegeld nach Pflegestufe I in Höhe von EUR 205,00 monatlich.

Hiergegen legte die Klägerin am 17. Januar 2008 Widerspruch ein. Sie leide seit etwa einer Woche an massiven Schwindelanfällen und heftigem Erbrechen. Der Blutdruck sei erheblich gestiegen. Im Krankenhaus habe man eine massive Störung des Gleichgewichtsorgans festgestellt. Auch ohne diese zusätzlichen Diagnosen sei der bei ihr gegebene Hilfebedarf aber höher als bewilligt. Ihre Tochter helfe ihr bei zahlreichen Verrichtungen. Sie bedürfe der Hilfe beim Aufstehen, Waschen, Anziehen, bei der Durchführung von Arztbesuchen, beim Zubereiten der Ernährung sowie bei der gesamten Hauswirtschaft. Zur weiteren Begründung ihres Widerspruchs legte die Klägerin am 15. April 2008 das von ihrer Tochter geführte Pflegetagebuch für die Zeit vom 17. bis 24. Februar 2008 vor, das schwankenden Grundpflegebedarf von 92 bis 146 Minuten täglich auswies. Im Auftrag der Beklagten erstattete daraufhin Pflegefachkraft Br. über die Klägerin ihr Gutachten vom 27. Juni 2008. Die Gutachterin berichtete aufgrund einer Untersuchung der Klägerin in häuslicher Umgebung am 25. Juni 2008 von degenerativen Gelenkveränderungen der Hüften, Gonarthrose, Herzinsuffizienz, einem Aortenaneurysma und einem Malt-Lymphom des Magens. Auch bestehe Verdacht auf Lagerungsschwindel. Die Feinmotorik sei ausreichend, die Klägerin könne mit Löffel und Gabel umgehen, sie sei innerhalb der Wohnung mit Gehstock mobil, außerhalb der Wohnung je nach Tagesform mit Gehstock, Begleitung, Rollator oder Rollstuhl. Der Nackengriff sei rechts endgradig eingeschränkt, links nicht möglich. Auch Bücken sei nicht möglich. Es liege eine Blasendranginkontinenz vor, die Klägerin wechsle jedoch die Vorlagen und reinige den Intimbereich selbst. Es bestehe folglich ein Grundpflegebedarf von 47 Minuten tagesdurchschnittlich, errechnet aus einem tagesdurchschnittlichen Bedarf für Körperpflege von 24 Minuten, für Ernährung von drei Minuten und für Mobilität von 20 Minuten.

Mit Widerspruchsbescheid vom 02. Oktober 2008, der Klägerin am 07. Oktober 2008 zugestellt, wies der bei der Beklagten gebildete Widerspruchsausschuss den Widerspruch der Klägerin als unbegründet zurück.

Am 04. November 2008 erhob die Klägerin zum Sozialgericht Stuttgart (SG) Klage. Sie leide unter vielfältigen Gesundheitsstörungen, könne sich nicht selbst an- oder ausziehen, nicht alleine duschen oder baden, einen normalen Stuhl wegen ihrer Hüfterkrankung nicht benutzen, weder Treppensteigen noch Autofahren. Ihr stehe daher Pflegegeld nach Pflegestufe II zu.

Die Beklagte trat der Klage entgegen.

Das SG vernahm zunächst den behandelnden Hausarzt der Klägerin Dr. J. schriftlich als sachverständigen Zeugen. In seiner Auskunft vom 19. Januar 2009 berichtete dieser, die Klägerin leide an diversen Gesundheitsstörungen auf verschiedenen Fachgebieten. Sie brauche täglich Hilfe im Bereich der Körperpflege und Mobilität und sei auf fremde Hilfe angewiesen.

Im Auftrag des Gerichts erstattete sodann der Internist Dr. S. das Gutachten vom 02. Januar 2010 aufgrund einer Untersuchung der Klägerin in häuslicher Umgebung am 16. Dezember 2009. Als pflegebegründende Diagnosen benannte der Sachverständige ein Malt-Lymphom des Magens, Diabetes mellitus vom Typ II, einen Zustand nach Hüft-TEP links mit zweimaliger Luxation, einen Zustand nach Weber-C-Fraktur des linken Sprunggelenks, ein Aortenaneurysma und dissektion, einen Zustand nach Sigmaperforation nach Polypektomie, Osteoporose, ein chronisches Wirbelsäulensyndrom, arterielle Hypertonie, chronisch benignen paroxymalen Lagerungsschwindel und Heberden- und Rhizarthrose der Hände beidseits. Infolge erheblicher degenerativer Veränderungen im Bereich aller kleinen und großen Gelenke sei die Beweglichkeit dieser Gelenke schmerzhaft eingeschränkt, und die Klägerin brauche bei vielen Verrichtungen des täglichen Lebens Unterstützung bzw. deren teilweise Übernahme. Die Mobilität sei deutlich eingeschränkt. Die Alltagskompetenz sei erhalten. Der Sachverständige schätzte in seinem Gutachten den Gesamtpflegebedarf der Klägerin in der Grundpflege mit 50 Minuten pro Tag ein. Die Klägerin bedürfe teilweiser Übernahme bei der Ganzkörperpflege, die mit einem täglichen Aufwand von 20 Minuten zu berücksichtigen sei, sowie fast vollständiger Übernahme des Duschens zweimal in der Woche, was gerechnet auf den Tag mit einem durchschnittlichen Zeitaufwand von sechs Minuten zu berücksichtigen sei. Für das Kämmen sei ein Zeitaufwand von einer Minute täglich anzusetzen. Wasserlassen und Stuhlgang könne die Klägerin selbstständig verrichten. Entsprechendes gelte für das Richten der Kleider. Für die mundgerechte Zubereitung der Nahrung sei ein täglicher Zeitaufwand von sechs Minuten zu berücksichtigen. Hierbei gehe es im Wesentlichen um das Zerschneiden der Nahrung in kleine Stücke. Die Aufnahme der Nahrung erfolge selbstständig. Im Bereich der Mobilität erfolge das Aufstehen und Zubettgehen selbstständig. Für das An- und Auskleiden sei eine Teilübernahme notwendig, wobei der Zeitaufwand hierfür mit täglich sieben bzw. fünf Minuten angesetzt werde. Gehen und Stehen könne die Klägerin selbstständig verrichten. Für das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung ergebe sich ein täglich anzurechnender Zeitbedarf von fünf Minuten. Nachts bestehe ein zusätzlicher Hilfebedarf dann, wenn die Klägerin an starken Schwindelattacken mit Erbrechen leide. Gegenüber den Vorbegutachtungen bestünden nur graduelle Abweichungen. Insgesamt sei den Einschätzungen des MDK vollumfänglich zuzustimmen.

Mit Gerichtsbescheid vom 01. August 2010 wies das SG die Klage ab. Die Klägerin habe ab dem 01. Oktober 2007 keinen Anspruch auf Pflegegeld der Pflegestufe II. Ihr Bedarf an grundpflegerischer Hilfe am Tag erreiche nicht 120 Minuten, wie dies für Schwerpflegebedürftigkeit erforderlich sei. Diese Überzeugung stütze das Gericht vor allem auf das Gutachten des Sachverständigen Dr. S. vom 02. Januar 2010. Dieser habe nach einer Untersuchung und Begutachtung in häuslicher Umgebung festgestellt, dass die Klägerin trotz ihrer motorischen Defizite in wesentlichen Bereichen die Grundverrichtungen wieder selber durchführen könne. Vor diesem Hintergrund sei es nachvollziehbar, wenn Dr. S. Pflegebedarfe nur bei der Ganzkörperwäsche bzw. beim Duschen, beim Kämmen, bei der mundgerechten Zubereitung der Nahrung, beim An- und Auskleiden und beim Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung sowie zeitweise beim nächtlichen Begleiten zur Toilette festgestellt habe. Die Zeitwerte, die der Sachverständige angesetzt habe, seien anhand der Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit (BRi) ebenfalls nachvollziehbar. Die Zeitbedarfe summierten sich insgesamt auf 45 Minuten, sodass die Klägerin eigentlich nicht einmal die Voraussetzungen der Pflegestufe I erfülle. Die weiteren fünf Minuten für das Verlassen oder Wiederaufsuchen der Wohnung hätten nicht berücksichtigt werden können. Dieser Bedarf bestehe nach Abschnitt D Nr. 4.3/15 BRi nur, wenn der Versicherte mindestens einmal pro Woche und voraussichtlich für mindestens sechs Monate einen Arzt oder eine ärztlich verordnete Therapie aufsuchen müsse. Dies sei bei der Klägerin nicht der Fall. Den weiteren Bedarf von einer Minute für die nächtlichen Hilfestellungen habe bereits Dr. S. nicht mehr berücksichtigt, weil er nicht regelmäßig anfalle, sondern nur dann, wenn die Klägerin an Schwindelanfällen leide. Auch die weiteren Erkenntnisse aus diesem Verfahren stützten Dr. S.s Einschätzung. Bereits das MDK-Gutachten vom 27. Juni 2008 habe einen Grundpflegebedarf von 47 Minuten ergeben. Gegen einen Grundpflegebedarf von mindestens 120 Minuten bei der Klägerin spreche weiterhin auch das Pflegetagebuch für die Zeit vom 17. Februar bis 24. Februar 2008, weil es Grundpflegebedarfe von 82 (richtig 92) bis 146 Minuten ausweise, wobei sich der Bedarf von 146 Minuten jeweils unter Berücksichtigung von 40 Minuten für das Kämmen und Haareföhnen ergeben hätten. Für das Kämmen könne jedoch nach den BRi höchstens ein Zeitbedarf von drei Minuten täglich angesetzt werden. Berichtige man nur diesen Wert, so liege der Grundpflegebedarf der Klägerin schon nach ihrem eigenen Vortrag bei unter 120 Minuten täglich. Unabhängig davon seien auch einige andere Zeitwerte in dem Pflegetagebuch zu hoch angesetzt. Auf den Umfang der tatsächlich erbrachten Pflege komme es nicht an, lediglich auf den tatsächlichen Bedarf. Verrichtungen, die ein Pflegebedürftiger noch selbst besorgen könne, wenn auch mit Mühe, blieben unberücksichtigt. Dieses Ergebnis werde durch die Aussage des schriftlich vernommenen Hausarztes Dr. J. nicht erschüttert. Dieser habe lediglich pauschal angegeben, die Klägerin benötige Hilfe bei Körperpflege und Mobilität. Dass ein Grundpflegebedarf von mindestens 120 Minuten täglich vorliege, ergebe sich daraus nicht.

Gegen dieses ihr am 05. August 2010 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 06. September 2010 (einem Montag) Berufung eingelegt. Zu Unrecht habe das SG die Klage abgewiesen. Sie benötige bei Körperpflege, Ernährung und Mobilität mindestens dreimal täglich zu verschiedenen Tageszeiten Hilfe. Diese Hilfeleistung werde durch ihre Tochter erbracht, die als nicht ausgebildete Pflegekraft dafür wöchentlich im Tagesdurchschnitt mindestens drei Stunden benötige, wobei mehr als zwei Stunden auf die Grundpflege entfielen. Bei ihr liege eine erhebliche Multimorbidität vor, die vom gerichtlichen Sachverständigen Dr. S. nicht vollständig berücksichtigt worden sei. Das SG habe die Ausführungen des Sachverständigen unkritisch übernommen. Der bei ihr vorliegende starke Schwindel bestehe weit überwiegend und beherrsche somit ihr Leben und die körperliche Leistungsfähigkeit. Tatsächlich sei sie daher regelmäßig zur Fortbewegung auf den Rollstuhl angewiesen. Für die mit 20 Minuten angesetzte Ganzkörperwäsche sei anstelle dessen ein tatsächlicher Aufwand von etwa sechs Stunden täglich zu berücksichtigen. Dabei sei auch maßgeblich, dass sie aufgrund ihrer körperlichen Behinderung dazu neige, sich zu beschmutzen. Auch die Werte für das Haarekämmen, für die Ernährung, für das An- und Entkleiden, für die Darm- und Blasenentleerung sowie im Bereich der Mobilität seien unzureichend. Sie bedürfe praktisch rund um die Uhr der Hilfestellung.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 01. August 2010 sowie den Bescheid der Beklagten vom 18. Dezember 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02. Oktober 2008 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ihr ab 01. Oktober 2007 Pflegegeld nach Pflegestufe II statt I zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angegriffene Entscheidung für zutreffend. Der von der Klägerin geltend gemachte Aufwand sei nicht nachvollziehbar, so etwa derjenige für die Ganzkörperpflege von sechs Stunden täglich. Insgesamt entspreche der festgestellte Pflegebedarf des gerichtlichen Sachverständigen den BRi. Auch sei der Hilfebedarf im Bereich der Mobilität richtig beurteilt worden, da der MDK bei seinem Besuch am 25. Juni 2008 ähnliche Werte ermittelt habe.

Im Verlaufe des Berufungsverfahrens hat die Klägerin das von ihrer Tochter geführte Pflegetagebuch für die Zeit vom 20. Dezember bis 27. Dezember 2010 vorgelegt. Dieses weist für den 20. Dezember einen Grundpflegebedarf von 60 Minuten, für den 21. Dezember einen Grundpflegebedarf von 62 Minuten, für den 22. Dezember einen Grundpflegebedarf von 78 Minuten, für den 23. Dezember einen Grundpflegebedarf von 72 Minuten, für den 24. Dezember einen Grundpflegebedarf von 75 Minuten, für den 25. Dezember einen Grundpflegebedarf von 70 Minuten, für den 26. Dezember einen Grundpflegebedarf von 124 Minuten (bei 35 Minuten Pflegezeit für Haareschneiden und -einlegen), sowie für den 27. Dezember einen Grundpflegebedarf von 72 Minuten aus. Zudem hat die Klägerin eine Bescheinigung der Physiotherapiepraxis Schlimm vom 23. März 2011 vorgelegt, derzufolge sie im August 2008 jede Woche, im September, Oktober, November und Dezember 2008 sowie für Januar, Februar, März und April 2009 demgegenüber weniger regelmäßig therapiert wurde. Insgesamt ergeben sich daraus 48 Termine in einem Zeitraum von acht Monaten.

Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten sowie der Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten und die Gerichtsakten in beiden Instanzenzügen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin, über die der Senat im Einverständnis beider Beteiligten durch Urteil ohne mündliche Verhandlung nach § 153 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entscheidet, ist statthaft und zulässig. Sie wurde form-, aber insbesondere nach Maßgabe der §§ 151 Abs. 1, 64 Abs. 1 und Abs. 3 SGG auch fristgerecht eingelegt.

Die Berufung ist jedoch unbegründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 18. Dezember 2007, der allein hier streitig ist, nachdem er den vorangegangenen ablehnenden Bescheid vollständig ersetzt hat, in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02. Oktober 2008 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat ab 1. Oktober 2007 keinen Anspruch auf höheres Pflegegeld nach der Pflegestufe II statt I; ihre Berufung war daher zurückzuweisen.

Pflegebedürftige können anstelle der häuslichen Pflegehilfe ein Pflegegeld beantragen, § 37 Abs. 1 Satz 1 SGB XI. Pflegebedürftig sind nach § 14 Abs. 1 SGB XI Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens, die im Einzelnen in § 14 Abs. 4 SGB XI genannt sind, auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate in erheblichem oder höherem Maß (§ 15 SGB XI) der Hilfe bedürfen. Pflegebedürftige der Pflegestufe II (Schwerpflegebedürftige) sind nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB XI Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität mindestens dreimal täglich zu verschiedenen Tageszeiten der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen. Der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, muss wöchentlich im Tagesdurchschnitt in der Pflegestufe II mindestens drei Stunden betragen; hierbei müssen auf die Grundpflege mindestens zwei Stunden entfallen (§ 15 Abs. 3 Nr. 2 SGB XI). Die Grundpflege umfasst die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen aus den Bereichen der Körperpflege (§ 14 Abs. 4 Nr. 1 SGB XI), der Ernährung (§ 14 Abs. 4 Nr. 2 SGB XI) und der Mobilität (§ 14 Abs. 4 Nr. 3 SGB XI). Zur Grundpflege zählt ein Hilfebedarf im Bereich der Körperpflege beim Waschen, Duschen, Baden, der Zahnpflege, dem Kämmen, Rasieren, der Darm- und Blasenentleerung, im Bereich der Ernährung beim mundgerechten Zubereiten der Nahrung und der Aufnahme der Nahrung sowie im Bereich der Mobilität beim selbstständigen Aufstehen und Zu-Bett-Gehen, dem An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen und dem Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung.

Das Ausmaß des Pflegebedarfs ist nach einem objektiven ("abstrakten") Maßstab zu beurteilen. Denn § 14 SGB XI stellt allein auf den "Bedarf" an Pflege und nicht auf die unterschiedliche Art der Deckung dieses Bedarfs bzw. die tatsächlich erbrachte Pflege ab (vgl. Bundessozialgericht - BSG - Urteil vom 21. Februar 2002 - B 3 P 12/01 R - SozR 3-3300 § 14 Nr. 19). Bei der Bestimmung des erforderlichen Zeitbedarfs für die Grundpflege sind als Orientierungswerte die Zeitkorridore der BRi zu berücksichtigen. Diese Zeitwerte sind zwar keine verbindlichen Vorgaben; es handelt sich jedoch um Zeitkorridore mit Leitfunktion (Abschnitt F Nr. 1 BRi; vgl. dazu BSG SozR 4-3300 § 23 Nr. 3 m.w.N.). Dabei beruhen die Zeitkorridore auf der vollständigen Übernahme der Verrichtungen durch eine Laienpflegekraft. Die Zeiten für den Hilfebedarf bei den einzelnen Verrichtungen beruhen regelmäßig auf Schätzungen, denen eine gewisse und auf wenige Minuten beschränkte Unschärfe nicht abgesprochen werden kann und die dennoch hinzunehmen sind (vgl. BSG, Urteil vom 10. März 2010 - B 3 P 10/08 R -, veröffentlicht in juris).

Der mithin für einen Anspruch auf Pflegegeld nach Pflegestufe II vorausgesetzte Hilfebedarf der Grundpflege von täglich 120 Minuten ist für die Klägerin ab dem 01. Oktober 2007 zu keinem Zeitpunkt regelmäßig erreicht worden. Der Senat stützt seine Überzeugung davon - wie schon das SG - maßgeblich auf das Gutachten des Sachverständigen Dr. S. vom 02. Januar 2010. Dieser hat nach einer Untersuchung und Begutachtung der Klägerin in häuslicher Umgebung festgestellt, dass die Klägerin im Wesentlichen an inneren Krankheiten leidet, nämlich an einem Malt-Lymphom des Magens, an Diabetes mellitus vom Typ II, einem Aortenaneurysma mit dissektion, einem Zustand nach Sigmaperforation nach Polypektomie und an arterieller Hypertonie. Diese Erkrankungen haben keinen Einfluss auf die Bewegungsfähigkeit und die motorischen Fähigkeiten der Klägerin und können daher keinen Grundpflegebedarf bedingen. Auf orthopädischem Gebiet hat der Sachverständige einen Zustand nach Hüft-TEP links mit zweimaliger Luxation, einen Zustand nach Weber-C-Fraktur des linken Sprunggelenks und arthrotische Veränderungen der Hände festgestellt. Diese Erkrankungen haben Bewegungseinschränkungen und die von Dr. S. beschriebenen Kontrakturen der Sehnen der Hände zur Folge, die einen Pflegebedarf begründen. Das Gleiche gilt für den ebenfalls diagnostizierten chronischen Lagerungsschwindel; dieser kann dazu führen, dass die Klägerin nur mit Hilfe aufstehen kann oder sogar liegen bleiben muss.

Insgesamt jedoch bedingen die bei der Klägerin vorliegenden Gesundheitseinschränkungen keinen Hilfebedarf, der in den grundpflegerischen Verrichtungen 120 Minuten täglich überschreitet. Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt der Senat für die Auswirkungen der gesundheitlichen Einschränkungen der Klägerin auf Art und Umfang ihres Unterstützungs- und Hilfebedarfs bei der täglichen Durchführung und Bewältigung der in § 14 SGB XI aufgeführten Verrichtungen auf die ausführlichen und zutreffenden Darlegungen in den Entscheidungsgründen des Gerichtsbescheids des SG Bezug und schließt sich diesen vollumfänglich an (§ 153 Abs. 2 SGG). Das SG hat sich mit dem Gutachten des Dr. S. sowie den Verwaltungsgutachten des MDK, dem von der Klägerin im Verwaltungsverfahren vorgelegten Pflegetagebuch und der Auskunft des behandelnden Hausarztes Dr. J. umfassend und unter Heranziehung der Maßstäbe nach den BRi auseinandergesetzt und anhand dieser Unterlagen auch aus Sicht des Senats den Grundpflegebedarf der Klägerin zutreffend bewertet.

Anhaltspunkte für eine unzutreffende Bewertung von Art und Umfang des Pflegebedarfs der Klägerin haben sich auch in der Berufungsinstanz nicht ergeben. Das von der Klägerin vorgelegte neue Pflegetagebuch, das von ihrer Tochter in der Zeit vom 20. bis 27. Dezember 2010 geführt worden ist, und die Angaben der die Klägerin behandelnden Physiotherapiepraxis vermögen ihren Vortrag ebenfalls nicht zu stützen. Sie belegen vielmehr umgekehrt gerade das Gegenteil, dass nämlich nach wie vor der für Pflegeleistungen der Pflegestufe II erforderliche tagesdurchschnittliche Pflegebedarf in der Grundpflege keinesfalls erreicht wird. Das eingereichte Pflegetagebuch weist einen durchschnittlichen Tagesbedarf in der Grundpflege von 76 Minuten aus. In diesem Wert ist sogar auch der einmalige Aufwand für das Schneiden und Legen der Haare enthalten, welcher als seltener als einmal in der Woche anfallende Verrichtung der Sache nach ohnehin nicht berücksichtigt werden kann (vgl. dazu BSG, Urteil vom 29. April 1999 - B 3 P 12/98; vgl. hierzu auch Udsching, SGB XI, 3. Auflage, § 14 Rn. 24).

Auch der von der Klägerin vorgelegte Nachweis über durchgeführte Physiotherapien vom 23. März 2011 vermag eine rechtserhebliche Erhöhung des Grundpflegebedarfs nicht zu begründen. Aus Sicht des Senats ist insoweit schon zweifelhaft, ob die physiotherapeutischen Behandlungen überhaupt einen berücksichtigungsfähigen Pflegebedarf begründen. Wie schon angesprochen, können nur solche Verrichtungen berücksichtigt werden, die mit einer gewissen Regelmäßigkeit anfallen. Verrichtungen, die seltener als zumindest einmal pro Woche anfallen, bleiben daher auch dann außen vor, wenn sie einen hohen Zeitaufwand verursachen (vgl. BSG, aao). Die erforderliche Regelmäßigkeit ist bezogen auf die durchgeführte physiotherapeutische Behandlung jedenfalls zweifelhaft. Die von der Klägerin vorgelegte Therapiebescheinigung vom 23. März 2011 weist, mit Ausnahme des Monats Augst 2008, keine zuverlässig in jeder Woche wahrgenommenen Termine aus. Die Therapieerfordernisse bestehen daher mit einer gewissen Unregelmäßigkeit. Dies wird im Übrigen auch gestützt durch Angaben der Tochter der Klägerin im Pflegetagebuch betreffend den Zeitraum vom 20. bis 27. Dezember 2010, wonach die Klägerin zwar eigentlich regelmäßig Physiotherapie erhalte, im Monat Dezember jedoch gar nicht. Auch dies spricht eher gegen als für im Sinne der Rechtsprechung des BSG regelmäßig wahrzunehmende Termine. Selbst wenn man jedoch die von der Klägerin nachgewiesenen Termine berücksichtigte, fallen anhand der dortigen Angaben monatlich durchschnittlich 5,33 Termine an. Berechnet man für einen Termin großzügig 2 Stunden Zeitaufwand (wobei die Tochter der Klägerin in ihrem schon im Verwaltungsverfahren vorgelegten Pflegetagebuch insoweit jeweils einen Zeitaufwand von nur 30 Minuten pro Termin angegeben hat), so errechnet sich daraus ein tagesdurchschnittlicher Pflegebedarf von 21,14 Minuten. Auch unter Berücksichtigung dieses zusätzlichen Zeitaufwands ergäbe sich - bei Addition zu den oben aufgezeigten, von der Tochter der Klägerin selbst angegebenen 76 Minuten Grundpflegebedarf durchschnittlich am Tag - ein Wert von etwas mehr als 97 Minuten täglich, der noch immer weit von dem für Pflegestufe II erforderlichen tagesdurchschnittlichen Grundpflegebedarf von mehr als 120 Minuten täglich entfernt liegt. Unter keinem erdenklichen Gesichtspunkt ist daher der Argumentation der Klägerin zu folgen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Zur Zulassung der Revision bestand kein Anlass.
Rechtskraft
Aus
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