L 10 U 2822/10

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 4 U 4046/07
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 10 U 2822/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 22.03.2010 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Feststellung eines Arbeitsunfalls.

Die am 1968 geborene Klägerin, bei der auf Grund einer Genmutation eine erhöhte Thromboseanfälligkeit besteht (u.a. Arztbrief Dr. H. Bl. 83/1 VA, Gutachten Prof. Dr. B. Bl. 28 SG-Akte), war seit dem Jahr 1990 als Verwaltungsangestellte in der Medizinischen Universitätsklinik T. (UKT) beschäftigt. Ausgangspunkt des Verfahrens ist das Ereignis am 17.12.2003, bei dem - so die Angaben der Klägerin (Bl. 128, 137 VA) - plötzlich gegen 14.30 Uhr während eines in ihrem Büro bei halb geöffnetem Fenster geführten Telefonats mehrere Lärmquellen hinzutraten. Der Lärm ging im Einzelnen von einem auf dem in 100 m Luftlinie entfernt liegenden Dach der Klinik landenden (z.B. Bl. 99/2.1, 112/2 VA) oder startenden (Bl. 2 VA) Rettungshelikopter, einem am Büro im Abstand von 2 m vorbeifahrenden Lastkraftwagen und einer im Untergeschoss unter dem Büro im Rahmen einer Baumaßnahme eingesetzten Hilti-Schlagbohrmaschine aus (Angaben des Arbeitgebers, vgl. einschließlich Lageskizze Bl. 138 f. VA). Daraus ergab sich nach den Feststellungen des TAD für die geschätzte Dauer von einer halben Minute ein Gesamtlärmpegel von 82,8 dB(A) (Einzelpegel: Hubschrauber 70 dB(A), LKW 79 dB(A), Telefonat 67 dB(A), Baumaßnahmen 80 dB(A); Bl. 178 VA und 26 LSG-Akte).

Das Ereignis führte - so die weiteren Angaben der Klägerin - kurzzeitig dazu, dass sie nichts mehr hörte. Noch am Abend desselben Tages begab sich die Klägerin in die Behandlung des HNO-Arztes Dr. H. , dem sie nach seinen Dokumentationen von massivem Stress berichtete und auf den sie einen agitierten Eindruck machte. Er diagnostizierte eine Hochtoninnenohrschwerhörigkeit rechts. Am 18.12.2003 stellte sich die Klägerin in der HNO-UKT mit lauten Ohrgeräuschen und der Mitteilung, sie habe am Abend zuvor ein lautes Knallen im rechten Ohr verspürt, vor. Es wurde ein akuter dekompensierter Tinnitus aurium IV mit nächtlichen Schlafstörungen und reaktiver Depression diagnostiziert.

Die Hörstörung bildete sich im Wesentlichen zurück. Bei der Klägerin liegt noch ein leichter Hörverlust im hohen Frequenzbereich rechts vor. Links besteht ein altersentsprechendes Hörvermögen. Nach wie vor besteht ein beidseitiger Tinnitus, auf Grund dessen sich die Klägerin in ihrer Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit wesentlich eingeschränkt erlebt (s. u.a. Dr. J. Bl. 157 VA, Prof. Dr. P. Bl. 36 LSG-Akte).

Behandlungen erfolgten durch Dr. H. , dem die Klägerin erstmalig am 05.01.2004 von einem Zusammenhang ihrer Beschwerden mit einem Lärmereignis am 17.12.2003 berichtete (Arztbrief Blatt 83/1 VA), und ab dem 04.02.2004 durch die HNO-Ärztin Dr. H ... Dr. H. ging von einem dekompensierten Tinnitus bei einem Zustand nach Hörsturz, nach Lärmtrauma bzw. nach akustischem Unfall aus. Vom 07.05. bis 18.06.2004 erfolgte eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme in der Klinik am S. , Bad G ... Im Entlassungsbericht diagnostizierte Dr. K. neben dem Tinnitus eine Hyperakusis, als Differenzialdiagnose einen Verdacht auf eine Phonophobie, eine Insomnie, eine Reaktion auf eine schwere Belastung und ein HWS-Schmerzsyndrom. Es sei während des stationären Aufenthaltes nicht gelungen, eine Akzeptanz des Leidens durch die Klägerin zu erzielen. Die Klägerin sei bei Arzt-Kontakten durch kämpferisches forderndes Auftreten aufgefallen, es sei mehrmals zu Konfrontationen gekommen. Von ärztlicher Seite bestehe der Verdacht auf eine traumatische Belastungsstörung, die von der Klägerin nicht akzeptiert werde. Es habe lediglich die Akzeptanz bestanden, dass sie durch die Pflege und Versorgung ihrer Eltern derzeit am Limit ihrer Belastungssituation sei.

Die Beklagte holte das hno-ärztliche Gutachten des geschäftsführenden Direktors der HNO-Klinik im Universitätsklinikum H. Prof. Dr. P. ein. Dieser ging von einem initialen Hörsturz rechts mit beidseitigem Tinnitus und einer aktuell nur noch leichten Hochtonschwerhörigkeit rechts aus. Das Telefonläuten, der Hubschrauberlärm und das Lastwagengeräusch könne sicher nicht als Unfallereignis gesehen werden, das Bohrgeräusch auch eher nicht. Da die angegebenen Beschwerden im direkten Zusammenhang mit der Verkettung der Lärmereignisse stehe, liege die Vermutung eines direkten Zusammenhangs nahe. Der Tinnitus könne als Folge eines Traumas nur dann ausreichend wahrscheinlich gemacht werden, wenn gleichzeitig andere objektivierbare pathologische Befunde, insbesondere eine messbare Hörstörung, die bei der Klägerin initial bestanden habe, aufgetreten seien.

Mit Bescheid vom 02.02.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.09.2007 lehnte die Beklagte die Feststellung eines Arbeitsunfalles und die Gewährung einer Entschädigung aus Anlass des Ereignisses vom 17.12.2003 ab. Gestützt auf die im Widerspruchsverfahren zusätzlich eingeholte beratungsärztliche Stellungnahme des HNO-Arztes Dr. J. ging die Beklagte davon aus, dass die Klägerin einen so genannten idiopathischen Hörsturz erlitten habe, der zufällig während der beruflichen Tätigkeit und unter der beschriebenen Lärmeinwirkung aufgetreten sei. Die Beschwerden seien durch die Gesamtumstände möglicherweise ausgelöst, jedoch nicht rechtlich wesentlich verursacht worden. Ein Hörsturz verbunden mit Ohrgeräuschen entstehe bei akuten Durchblutungsstörungen durch Gefäßspasmen, Mikroembolien oder Änderungen der Fließeigenschaften des Blutes und durch virale Infekte. Mögliche Ursachen hierfür seien z.B. auch Stress, von dem Dr. H. berichtet habe. Ein akustisches Trauma mit einer sehr hohen Lärmintensität von 90 bis 120 dB könne ausgeschlossen werden.

Deswegen hat die Klägerin am 19.10.2007 beim Sozialgericht Reutlingen Klage erhoben.

Das Sozialgericht hat das hno-fachärztliche Gutachten der Leiterin der Sektion für Phoniatrie und Pädaudiologie des Universitäts-HNO-Klinikums U. , Prof. Dr. B. , eingeholt. Sie hat eine Lärmbelastung von 82,8 dB(A) nicht für geeignet erachtet, die bei der Klägerin bestehenden Beschwerden zu verursachen. Sehr viel wahrscheinlicher sei es, dass die Klägerin anlagebedingt eine zunächst beidseitige Hörminderung erlebte, die noch am selben Abend tonaudiometrisch als "Hörsturz rechts" bewertet worden sei und bis heute beidseitige Ohrgeräusche nach sich gezogen habe. Möglicherweise habe der genetische Defekt einer Thromboseanfälligkeit zu dieser Entwicklung beigetragen.

Mit Urteil vom 22.03.2010 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Gestützt auf die beratungsärztliche Stellungnahme von Dr. J. sowie das Gutachten von Prof. Dr. B. hat es die Lärmbelastung am 17.12.2003 nicht für geeignet erachtet, den noch am gleichen Tag festgestellten Hörsturz rechts zu verursachen. Gegen einen wahrscheinlichen Ursachenzusammenhang spreche auch, dass der Tinnitus nicht nur am erkrankten rechten Ohr bestehe, sondern in gleicher Höhe am Ohr links. Auf Grund des medizinischen Beweisergebnisses sei davon auszugehen, dass die Klägerin am 17.12.2003 einen akuten Hörsturz erlitten habe, der nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit durch den Lärm, sondern durch eine mehr oder weniger lang dauernde Versorgungsstörung eines Hörnerven entstanden sei. Diese könne durch verschiedene Ursachen in Gang gesetzt werden. Die Ausführungen von Prof. Dr. P. rechtfertigten keine andere Beurteilung, da er lediglich die Vermutung eines direkten Zusammenhangs zwischen der Lärmbelastung und der initialen Hörminderung mit Tinnitus geäußert habe. Dies reiche nicht aus, um einen wesentlichen ursächlichen Zusammenhang zu begründen.

Gegen das ihr am 19.05.2010 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 16.06.2010 Berufung eingelegt. Sie macht einen Arbeitsunfall durch ein Lärmtrauma mit der Folge eines Hörsturzes geltend und stellt das Gutachten von Prof. Dr. B. und die Berechnung der Lärmbelastung durch den TAD in Frage. Der Lärmpegel habe mindestens 100 dB(A) betragen. Es sei absolut nicht ungewöhnlich, dass bei einem einseitigen Hörsturz ein Tinnitus an beiden Ohren ausgelöst werde. Sie habe vor dem Ereignis am 17.12.2003 nie einen Tinnitus gehabt und frage sich, woher sonst dieser dann plötzlich herbeigeführt worden sein solle. In der mündlichen Verhandlung betont die Klägerin erneut, sie habe keinen Stress gehabt, auch keinen "überdimensionalen" Stress am besagten Tag, an dem im Übrigen, obwohl von Dr. H. nicht dokumentiert, bereits Ohrgeräusche aufgetreten seien.

Die Klägerin beantragt

unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Reutlingen vom 22.03.2010 sowie des Bescheides der Beklagten vom 02.02.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.09.2007 festzustellen, dass es sich bei dem Ereignis vom 17.12.2003 um einen Arbeitsunfall handelte.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte hält das Urteil des Sozialgerichts für zutreffend.

Der Senat hat Prof. Dr. P. mit der Erstellung eines ergänzenden Gutachtens nach Aktenlage beauftragt. Er hat ausgeführt, bleibende Ohrgeräusche könnten durch Lärm ausgelöst werden. Notwendiger Bestandteil der kausalen Verkettung sei eine verbleibende Hörminderung, die primär durch den Faktor Lärm ausgelöst worden sei und sekundär zur Entstehung des Tinnitus führe. Ein Tinnitus ohne Hörminderung sei selten und innerhalb der anerkannten Modelle schwer zu interpretieren. Weitere äußere Faktoren wie Stress und Schreck könnten die Entstehung von Tinnitus begünstigen, ihr alleiniges Vorliegen genüge aber nicht. Eine genetisch bedingte Gerinnungsstörung könne nach dem heutigen medizinischen Wissen nicht verantwortlich für einen Tinnitus gemacht werden. Insgesamt sei eine plötzlich auftretende Hörstörung nach gegenwärtiger Lehrmeinung ein multifaktoriell bedingtes, bis heute nicht im Einzelnen aufgeklärtes Ereignis. Ein beidseitiger Tinnitus bei einseitiger Hörminderung sei untypisch. Die Rückbildung der Hörminderung habe im Regelfall auch einen Rückgang der Ohrgeräusche zur Folge. Der Verbleib des Tinnitus nach Wiederherstellung des Hörvermögens sei untypisch. Das Lärmereignis liege mit einem Schallpegel von 83 dB(A) - auch unter Berücksichtigung der Gerinnungsanomalie - unterhalb des Grenzwertes für eine "chronische Exposition". Hinzu komme, dass im Allgemeinen nicht der Lärmpegel, sondern die als Produkt aus Intensität und Zeit definierte Lärmdosis für die schädigende Wirkung bestimmend sei. Es sei ausgeschlossen, dass das Ereignis einen bleibenden Lärmschaden des Innenohrs verursacht habe. Ein solcher sei auch audiometrisch nicht nachweisbar. Persistierende Ohrgeräusche könnten durch viele organische Ursachen ausgelöst werden. Neben einer Schädigung des Innenohrs, Anomalien oder einem raumfordernden Prozess sei praktisch bei jedem von Tinnitus Betroffenen eine psychische Komponente im Spiel. Auf dieser Grundlage ist Prof. Dr. P. zu dem Schluss gelangt, das Vorliegen einer kausalen Beziehung zwischen dem Unfallereignis und dem Tinnitus sei ebenso wenig beweisbar wie das Fehlen einer solchen Beziehung. Die Einschätzung der Klägerin, es hätten mindestens 100 dB(A) vorgelegen, könne nicht objektiviert werden. Dessen ungeachtet sei bei einem Lärmpegel von 100 dB(A) erst bei einer Expositionsdauer von mindestens 15 Minuten ein Hörschaden zu erwarten.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Verwaltungsakten der Beklagten sowie auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß den §§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Berufung ist unbegründet.

Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid der Beklagten vom 02.02.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25.09.2007, mit dem die Beklagte jedwede Entschädigung ablehnte, weil kein Versicherungsfall eingetreten sei. In einem solchen Fall kann die Klägerin eine Feststellungsklage nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG erheben. Dies hat sie ausweislich des in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat gestellten Antrages auch getan. Ihr in erster Instanz in der Klageschrift formuliertes Begehren auf Verurteilung der Beklagten zur Gewährung von Verletztenrente hat sie damit nicht aufrecht erhalten. Eine derartige Leistungsklage wäre auch nicht zulässig gewesen (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 07.09.2004, B 2 U 35/03 R in SozR 4-2700 § 8 Nr. 6).

Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Bei dem Ereignis vom 17.12.2003 handelte es sich nicht um einen Arbeitsunfall.

Arbeitsunfälle sind Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3, 6 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit; § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen (§ 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII). Für einen Arbeitsunfall ist danach in der Regel erforderlich (BSG, Urteil vom 09.05.2006, B 2 U 1/05 R in SozR 4-2700 § 8 Nr. 17), dass die Verrichtung des Versicherten zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer bzw. sachlicher Zusammenhang), dass diese Verrichtung zu dem zeitlich begrenzten von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis - dem Unfallereignis - geführt hat (Unfallkausalität) und dass das Unfallereignis einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten verursacht hat (haftungsbegründende Kausalität); das Entstehen von länger andauernden Unfallfolgen auf Grund des Gesundheitserstschadens (haftungsausfüllende Kausalität) ist keine Voraussetzung für die Anerkennung eines Arbeitsunfalls.

Für die haftungsbegründende Kausalität zwischen Unfallereignis und Gesundheitserstschaden gilt die Theorie der wesentlichen Bedingung (BSG, Urteil vom 12.04.2005, B 2 U 27/04 R in SozR 4-2700 § 8 Nr. 15, auch zum Nachfolgenden). Diese setzt zunächst einen naturwissenschaftlichen Ursachenzusammenhang zwischen dem Unfallereignis und dem Gesundheitsschaden voraus und in einem zweiten wertenden Schritt, dass das versicherte Unfallereignis für den Gesundheitsschaden wesentlich war. Für die Feststellung des Ursachenzusammenhangs genügt hinreichende Wahrscheinlichkeit. Diese liegt vor, wenn mehr für als gegen den Ursachenzusammenhang spricht und ernste Zweifel ausscheiden; die reine Möglichkeit genügt nicht (BSG, Urteil vom 09.05.2006, B 2 U 1/05 R in SozR 4-2700 § 8 Nr. 1).

Kann ein behaupteter Sachverhalt nicht nachgewiesen oder der ursächliche Zusammenhang nicht wahrscheinlich gemacht werden, so geht dies nach dem im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Grundsatz der objektiven Beweislast zu Lasten des Beteiligten, der aus diesem Sachverhalt Rechte herleitet, bei den anspruchsbegründenden Tatsachen also zu Lasten des jeweiligen Klägers (vgl. BSG, Urteil vom 27.06.1991, 2 RU 31/90 in SozR 3-2200 § 548 Nr. 11).

Dass die Klägerin am 17.12.2003 in Verrichtung ihrer bei der Beklagten versicherten Tätigkeit den von ihr angeschuldigten Lärmexpositionen ausgesetzt war und im zeitlichen Zusammenhang hiermit eine plötzliche Hörminderung auftrat, steht für den Senat fest. Dies ist zwischen den Beteiligten auch nicht streitig.

Als Gesundheitserstschaden kommt im vorliegenden Fall in erster Linie diese akute, von der Klägerin als beidseitig beschriebene, von Dr. H. allerdings nur rechtsseitig bestätigte Hörminderung in Betracht, die die Klägerin auf ein Lärmtrauma (so ausdrücklich in der Berufungsschrift) zurückführt.

Zuzugeben ist der Klägerin zwar, dass ein enger zeitlicher Zusammenhang zwischen den Lärmeinwirkungen und der Hörminderung besteht. Der ursächliche Zusammenhang im naturwissenschaftlichen Sinn kann jedoch nicht rein zeitlich begründet werden, sondern muss sachlich-inhaltlich nachvollziehbar sein. Dem entsprechend kann im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung auch nicht im Sinne eines Anscheinsbeweises aus dem Vorliegen einer bestimmten Einwirkung auf die berufliche Verursachung der Erkrankung geschlossen werden (BSG, Urteil vom 07.09.2004, B 2 U 34/03 R, juris).

Dabei ist zu beachten, dass der Ursachenzusammenhang zwischen Unfallereignis und Unfallfolgen positiv festgestellt werden muss (BSG, Urteil vom 09.05.2006, a.a.O.). Selbst wenn eine versicherte naturwissenschaftliche Ursache vorliegt, gibt es keine Beweisregel, dass diese bei fehlender Alternativursache und einem rein zeitlichen Zusammenhang automatisch auch eine wesentliche Ursache ist, weil dies bei komplexem Krankheitsgeschehen zu einer Beweislastumkehr führen würde (BSG, a.a.O.). Dies gilt auch und gerade für den Hörsturz bzw. die plötzlich auftretende Hörstörung, die - so Prof. Dr. P. im Zusammenhang mit dem Hinweis auf mögliche Faktoren Lärm, Stress und Schreck (Bl. 32 LSG-Akte) - ein multifaktoriell bedingtes bis heute nicht im einzelnen aufgeklärtes Ereignis darstellt. Davon ging auch Dr. J. , der zwischen dem akuten, idiopathischen (d.h. ohne erkennbare Ursache entstandenen - Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 261. Auflage) Hörsturz, der definitionsgemäß nicht durch Lärm verursacht werde, und einer Hörstörung als Folge eines akustischen Traumas (so wie von der Klägerin geltend gemacht) differenzierte, aus. Die Ursache für das Erleiden eines akuten Hörsturzes im Sinne einer mehr oder weniger langdauernden Versorgungsstörung eines Hörnerven ist nach den Ausführungen von Dr. J. oft nicht herauszufinden (Bl. 154 VA).

Hier vermag der Senat schon keinen naturwissenschaftlichen Zusammenhang zwischen der angeschuldigten Lärmexpositionen und der am 17.12.2003 aufgetretenen Hörminderung mit nachfolgendem Tinnitus zu bejahen. Insbesondere liegt - entgegen der Behauptung der Klägerin - kein Lärmtrauma vor, das als Ursache des Hörsturzes bzw. der Hörminderung (s. die eben aufgezeigte Differenzierung von Dr. J. ) in Betracht käme.

Der Senat geht davon aus, dass der am 17.12.2003 für die Dauer von ca. einer halben Minute aufgetretene Gesamtlärmpegel 82,8 dB(A) betrug. Er stützt sich dabei auf die Ausführungen des TAD, der hier entgegen der Ansicht der Klägerin keine bloße Schätzung vornahm, sondern den Wert unter sorgfältiger Berücksichtigung der Angaben der Klägerin und ihres Arbeitgebers und unter Rückgriff auf vorhandenes Datenmaterial zu den hier maßgeblichen Einzellärmpegeln in den Grenzen des im Nachhinein Möglichen ermittelte. Die Behauptung der Klägerin, es hätten mindestens 100 dB(A) vorgelegen ist - wie Prof. Dr. P. zu Recht bemerkt (Bl. 45 LSG-Akte) - nicht objektiviert.

Vom lärmbedingten Eintritt einer Hörminderung kann - wie schon vom Sozialgericht zutreffend ausgeführt - bei einem Gesamtlärmpegel von 82,8 dB(A) über eine Dauer von ca. einer halben Minute nicht ausgegangen werden. Der Senat stützt sich dabei auf die insoweit übereinstimmenden Auffassungen von Dr. J. , Prof. Dr. B. und Prof. Dr. P ... Prof. Dr. P. hat auf die unter den Experten bestehende Einigkeit darüber hingewiesen, dass mit lärmbedingten Schäden des Innenohres (erst) bei Dauerschallpegeln (acht Stunden täglich) von 85 dB(A) zu rechnen ist (Bl. 34 LSG-Akte). Ergänzend hat er ausgeführt, dass die bei der Klägerin bestehende hereditäre Gerinnungsanomalie daran nichts ändert (Bl. 37 LSG-Akte). Nach den Darstellungen von Dr. J. kann ein akustischer Unfall erst bei sehr hohen Lärmintensitäten von 90 bis 120 dB(A) entstehen (Bl. 155 VA). Auch in der unfallmedizinischen Literatur wird als Mindestwert für die Annahme eines akustischen Unfalls eine Lärmbelastung von wenigstens 90 dB(A) angegeben (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Auflage, Seite 325). Selbst bei dem von der Klägerin behaupteten, in keiner Weise nachgewiesenen (s.o.), Lärmpegel von 100 dB(A) wäre nach den Erfahrungswerten nicht an eine Lärmschädigung zu denken. Denn dazu hätte es - so Prof. Dr. P. (Bl. 45 LSG-Akte) - einer hier nicht vorliegenden Einwirkungsdauer von 15 Minuten bedurft.

Vor diesem Hintergrund reicht das zeitliche Zusammenfallen der Lärmbelastung mit dem Auftreten der Hörminderung für die Annahme einer wahrscheinlichen naturwissenschaftlichen Ursachenzusammenhang nicht aus. Zutreffend hat das Sozialgericht die Auffassung vertreten, dass die von Prof. Dr. P. im Verwaltungsverfahren geäußerte Vermutung eines direkten Zusammenhangs zwischen der am 17.12.2003 aufgetretenen Lärmbelastung und der initialen Hörminderung (Bl. 112, S. 22 VA) nicht genügt, um einen wesentlichen ursächlichen Zusammenhang zu begründen. Soweit Prof. Dr. P. im Berufungsverfahren weiter ausgeführt hat, das Vorliegen einer kausalen Beziehung zwischen dem Unfallereignis sei ebenso wenig beweisbar wie das Fehlen einer solchen Beziehung, erfüllt auch dies nicht die Kriterien, die für die Annahme eines wahrscheinlichen Zusammenhangs erfüllt sein müssen. Denn Prof. Dr. P. hat damit lediglich zum Ausdruck gebracht, einen Zusammenhang ebenso für möglich zu erachten wie dessen Fehlen, mithin hat er nicht angenommen, dass mehr für als gegen einen Zusammenhang spricht. Somit bleibt für den Senat als mindestens gleichwertige Alternative im Raum, dass es sich bei der plötzlich aufgetretenen Hörminderung (und dem nachfolgenden Tinnitus) um einen anlagebedingten (so Prof. Dr. B. , Bl. 35 SG-Akte) bzw. schicksalhaften (so Dr. J. , Bl. 154 VA) Hörsturz handelte. Soweit Prof. Dr. B. neben ihrer allgemeinen Annahme eines anlagebedingten Hörsturzes von einem möglichen Ursachenbeitrag durch die Gerinnungsanomalie ausgegangen ist, hat zwar Prof. Dr. P. unter Hinweis auf den derzeitigen medizinischen Wissensstand Zurückhaltung empfohlen, hinsichtlich des Tinnitus sogar klar widersprochen. Jedoch hat er dennoch - wie bereits ausgeführt - eine wahrscheinliche Verursachung der plötzlichen Hörminderung durch die Lärmeinwirkung im Ergebnis nicht angenommen.

Auch Dr. H. ging im Übrigen von keinem wahrscheinlichen Zusammenhang zwischen der Lärmbelastung und den aufgetretenen Gesundheitsstörungen aus. Er bat die Beklagte lediglich um Überprüfung des Sachverhalts unter Miteinbeziehung der Möglichkeit eines akustischen Unfalls. Er selbst sah jedoch einen Kausalzusammenhang zwischen der psychischen Gesamtkonstellation, nächtlichem Knirschen und Pressen mit nachfolgender Kiefergelenksmyoarthropathie und daraus resultierender Innenohrproblematik (Bl. 83/1 VA). Dies bestätigt die Auffassung von Prof. Dr. P. , dass es sich bei plötzlich - ohne ausreichende Lärmbelastung (s.o.) - auftretenden Hörstörungen mit Tinnitus um multifaktorielle Ereignisse handelt, bei denen praktisch immer eine psychische Komponente im Spiel ist.

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die Klägerin gegenüber Dr. H. zu dessen großem Erstaunen erst am 05.01.2004 auf einen angeblichen Zusammenhang der Hörminderung mit einer beruflich bedingten Lärmbelastung hinwies (Bl. 83/1 VA) und auch in der "Kurzen Krankheitsauskunft" der HNO-UKT vom 30.06.2004 im Zusammenhang mit der erstmaligen Vorsprache der Klägerin am 18.12.2003 nur von einem lauten Knallen im rechten Ohr am Abend zuvor, nicht aber von einer beruflichen Lärmbelastung am Nachmittag die Rede ist (Bl. 28 VA). Dies legt nahe, dass die Klägerin selbst ursprünglich der Lärmbelastung keine wesentliche Bedeutung beimaß, vielmehr erst später als Erklärungsmodell für die eingetretene Hörminderung heranzog.

Als Ursache der Hörminderung kommt auch keine durch die Lärmexposition hervorgerufene - und grundsätzlich als Faktor bei der Entstehung eines Hörsturzes in Betracht zu ziehende - außergewöhnliche Stressbelastung in Frage. Denn die Klägerin hat zu keinem Zeitpunkt von einer derartigen Stressbelastung im Zusammenhang mit der Lärmexposition berichtet, sondern eine besondere, über das übliche Maß hinausgehende Stressbelastung im zeitlichen Zusammenhang mit dem streitgegenständlichen Ereignis ausdrücklich sowohl gegenüber dem Sozialgericht (Bl. 8 SG-Akte) als auch erneut in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat verneint. Auf die im Rehabilitationsentlassungsbericht von Dr. K. erwähnte Belastung der Klägerin durch die Pflege der Eltern (" derzeit am Limit", Bl. 51/7 VA) ist hier als (möglicher) außerberuflicher Stressfaktor nicht näher einzugehen, da sich daraus kein Versicherungsschutz herleiten ließe.

Als Gesundheitserstschaden kommt grundsätzlich auch der Tinnitus beidseits in Betracht, der im Vordergrund des Leidens der Klägerin steht. Insoweit ist indessen in erster Linie - so auch Prof. Dr. B. und Prof. Dr. P. - an einen ursächlichen Zusammenhang mit dem ursprünglichen Hörminderung zu denken. Steht aber - wie ausgeführt - die Hörminderung nicht in einem naturwissenschaftlichen Zusammenhang mit der Lärmexposition gilt Gleiches für den mit der Hörminderung in ursächlichem Zusammenhang stehenden Tinnitus. Auf die nachvollziehbaren Hinweise von Prof. Dr. P. , dass sowohl ein beidseitiger Tinnitus in Folge einer nur einseitigen Hörminderung als auch ein verbleibender Tinnitus trotz Rückbildung der Hörminderung untypisch sind, muss daher nicht näher eingegangen werden.

Andere Ursachenzusammenhänge - unabhängig von der Hörminderung - zwischen dem Tinnitus und der angeschuldigten Lärmexposition sind für den Senat nicht erkennbar und auch von Prof. Dr. B. , Dr. J. und Prof. Dr. P. nicht konkret dargelegt worden. Ob - wie von Prof. Dr. P. aufgezeigt - eine anatomische Anomalie oder ein raumfordernder Prozess Ursache des Tinnitus sein könnte, ist hier nicht weiter aufzuklären, da deren Nachweis zu keinem für die Klägerin günstigeren Ergebnis führen würde.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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