L 1 AS 4895/11 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
1
1. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 1 AS 4895/11 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Der Antragsgegner wird verpflichtet, dem Antragsteller und seiner mit ihm in Bedarfsgemeinschaft lebenden Ehefrau ab 8. September 2011 vorläufig monatlich 1.327,26 EUR bis längstens 28. Februar 2012 zu gewähren. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Der Antragsgegner trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Den Antragstellern wird für das Beschwerdeverfahren L 1 AS 4895/11 ER-B Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin R., K., gewährt.

Gründe:

I.

Der Antragsteller zu 1. ) (Ast.) wendet sich gegen den Versagungsbescheid vom 4. Oktober 2011 bezüglich Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II); in der Sache begehrt er für sich und seine Ehefrau jedenfalls vorläufige Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ab 1. September 2011.

Der 1952 geborene Ast. lebt mit seiner Ehefrau, geboren 1951, und dem 1987 geborenen Sohn M. sowie einer Tochter, die über eigenes Einkommen verfügt, in einem gemieteten Mehrfamilienhaus. Der Sohn wohnt in einer Einliegerwohnung im Untergeschoss des Hauses, die Tochter in einer anderen Wohneinheit. Der Sohn des Ast. M. betreibt nach der Gewerbeanmeldung vom 23. September 2008 einen Einzelhandel mit Waren aller Art, überwiegend über elektronische Medien (Internet). Für den Bewilligungszeitraum bis 31. August 2011 hatte der Ast. für sich, seine Ehefrau und M. Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) beantragt und bezogen. M. hatte in der Anlage EKS, zuletzt vom 13. Juni 2011, für die Monate März bis September 2011 einen durchschnittlichen monatlichen Gewinn aus selbständiger Tätigkeit von 900,- EUR angegeben. Auf dieser Grundlage bewilligte der Antragsgegner (Ag.) zuletzt mit Bescheid vom 27. Juni 2011 vorläufig für die Zeit vom 1. Juni bis 30. Juni 2011 monatlich 1.768,82 EUR unter Anrechnung eines monatlichen Einkommens von M. in Höhe von 900,- EUR abzüglich eines Freibetrags von 250,- EUR (Leistung zur Sicherung des Lebensunterhalts für den Ast. und seine Ehefrau je 328,- EUR; Kosten der Unterkunft für den Ast. und seine Ehefrau je 501,54 EUR; für M. 142,54 EUR). Aufgrund von Sanktionen wurden bei der Ehefrau des Ast. 32,80 EUR in Abzug gebracht. Für die Zeit vom 1. Juli bis 31. August 2001 wurden monatlich 1.736,02 EUR ausgezahlt, wobei sich der Auszahlungsbetrag lediglich infolge eines höheren Sanktionsbetrags für die Ehefrau des Ast. in Höhe von 65,60 EUR monatlich verringerte.

Am 2. August 2011 beantragte der Ast. für sich und seine Ehefrau die Fortzahlung der Leistungen nach dem SGB II. M. wurde im Antrag nicht mehr aufgeführt.

Am 8. September 2011 hat der Ast. Antrag auf Eilrechtsschutz beim Sozialgericht Heilbronn (SG) gestellt "wegen Vermögenslosigkeit und drohender Obdachlosigkeit". Zu seinem Weiterbewilligungsantrag sei noch kein Bescheid oder eine wenigstens vorläufige finanzielle Hilfe ergangen. Für seinen Sohn M. habe er keinen Antrag gestellt, denn er sei nicht mehr nach § 7 Abs. 3 Nr. 4 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) Teil der Bedarfsgemeinschaft. Er sei dringend darauf angewiesen, die Mietkosten vom Ag. zu erhalten, da ihm ansonsten die Kündigung durch den Vermieter drohe. Man lebe mit dem Sohn in einem Mehrfamilienhaus, jedoch räumlich getrennt. Auch versorge sich M. weitgehend selbständig. Dass früher eine Bedarfsgemeinschaft angenommen worden sei, habe nur auf der Fehleinschätzung eines Außendienstmitarbeiters des Ag. beruht. Es sei doch völlig normal, dass ein Kind, das im gleichen Haus wohne, gelegentlich bei den Eltern mitesse. Eine Bedarfsgemeinschaft sei aber damit noch nicht begründet.

Mit Schreiben vom 8. September 2011 hat der Ag. den Ast. unter Verweis auf die Mitwirkungsobliegenheiten nach §§ 60 ff Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) unter Fristsetzung bis 26. September 2011 aufgefordert, u.a. lückenlose Girokontoauszüge von den privaten und geschäftlichen Konten von M. für März bis August 2011 in Kopie vorzulegen. Darüber hinaus hat er dreimal die Anlage EK übersandt mit der Aufforderung, dass der Ast., seine Ehefrau und M. diese ausfüllen sollten. Weiter ist ausgeführt, dass M. eine selbständige Tätigkeit ausübe und für die Weiterbewilligung eine vollständig ausgefüllte Anlage EKS als Prognose für die Zeit von September 2011 bis Februar 2012 von ihm benötigt werde. Darüber hinaus solle M. für März bis August 2011 eine Anlage mit den abschließenden Angaben zum Einkommen aus selbständiger Tätigkeit ausfüllen. Auch solle eine Gesamtübersicht aller Bankanlagen u.a. von M. vorgelegt werden.

Mit Schreiben vom 11. September 2011 hat der Ast. dem Ag. u.a. mitgeteilt, da sein Sohn nicht Teil der Bedarfsgemeinschaft sei, bestehe auch kein Anlass, seine privaten Kontoauszüge vorzulegen. Er hat Angaben zu seinem Einkommen und Vermögen sowie zu dem seiner Frau gemacht.

Der Ag. hat im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes unter dem 15. September 2011 erwidert. Der Sohn sei "bis zur Vollendung" Mitglied der Bedarfsgemeinschaft. Der Ast. habe sich an die Vorgaben des SGB II zu halten. Daraufhin hat der Ast. erneut Stellung genommen und ausgeführt, sein Sohn könne mit seinem Einkommen aus selbständiger Tätigkeit seinen eigenen Lebensunterhalt bestreiten, er benötige keine Unterstützung und sei deshalb auch nicht Teil der Bedarfsgemeinschaft.

Mit Versagungsbescheid vom 4. Oktober 2011 hat der Ag. gegenüber allen Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft Leistungen in vollem Umfang versagt. Die fehlenden Unterlagen/Nachweise – Girokontoauszüge, Sozialversicherungsnummer, Anlage EK, Anlage EKS und abschließenden Angaben aus selbständiger Tätigkeit von M. – seien trotz Belehrung über die Rechtsfolgen nicht vollständig vorgelegt worden. Der Ast. sei daher seinen Mitwirkungspflichten nicht nachgekommen. Die Behörde sei verpflichtet, wirtschaftlich zu handeln. Es seien keine Ermessensgesichtspunkte erkennbar oder vorgetragen, die im Rahmen der getroffenen Ermessensentscheidung zu Gunsten des Ast. hätten berücksichtigt werden können.

Mit Beschluss vom 12. Oktober 2011 hat das SG den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt, da dafür ein Rechtsschutzbedürfnis nicht bestehe. Der Ag. habe zu Recht keine Leistungen gewährt, da der Ast. seiner Mitwirkungspflicht nicht nachgekommen sei. Denn er habe keine Unterlagen zu den Einkünften des 1987 geborenen M. vorgelegt. Hierzu sei der Ast. aber verpflichtet, da M. nach § 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II zur Bedarfsgemeinschaft gehöre, denn er habe das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet. Es sei bei der im einstweiligen Rechtsschutz gebotenen summarischen Prüfung nicht erkennbar, weshalb der Sohn des Ast. nicht Teil der Bedarfsgemeinschaft sein soll. Um Einkommen und Vermögen ermitteln zu können, habe der Ast. die geforderten Unterlagen vorzulegen.

Gegen den dem Ast. durch Postzustellungsurkunde vom 14. Oktober 2011 zugestellten Beschluss hat dieser am 4. November 2011 durch seine Bevollmächtigte Beschwerde zum LSG eingelegt und zugleich die Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) für das Beschwerdeverfahren beantragt. Zur Begründung wird ausgeführt, der Sohn M. habe infolge seiner selbständigen Tätigkeit inzwischen so hohe Einnahmen, dass er sich selbst unterhalten könne und aus der Bedarfsgemeinschaft herausfalle. Daher habe der Ast. den Weiterbewilligungsantrag auch nur für sich und seine Ehefrau gestellt. Eine Entscheidung über die dem Ast. und seiner Frau zustehenden Leistungen wäre in jedem Fall möglich, da alle Unterlagen vorlägen. Der Ast. habe keine Möglichkeit, Auskunft über das Einkommen seines volljährigen Sohnes zu erteilen, wenn dieser keine Ansprüche geltend mache. Dafür gebe es keine Rechtsgrundlage. Sein Sohn sei nicht bereit und nicht in der Lage, den Ast. und seine Ehefrau zu unterstützen. Die entsprechende Erklärung des Sohnes vom 31. Oktober 2011 ist dem Gericht vorgelegt worden. Der Ast. sei in erheblicher wirtschaftlicher Not, da er ohne Einkünfte dastehe und auch seine Miete nicht bezahlen könne. Auch habe er eine Arbeit in Aussicht, allerdings nur, wenn dem Arbeitgeber ein Eingliederungszuschuss bezahlt werde. Dies lehne der Ag. derzeit ab, da er nicht im Leistungsbezug stehe.

Der Ast. beantragt, sinngemäß gefasst,

den Versagungsbescheid vom 4. Oktober 2011 aufzuheben und ihm und seiner Ehefrau ab 1. September 2011 vorläufig Leistungen nach dem SGB II zu gewähren

Der Ag. beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Zur Begründung führt er aus, der Sohn gehöre der Bedarfsgemeinschaft der Eltern an, auch wenn er keine Leistungen beantrage. Die Angaben zur Höhe des Einkommens des Sohnes würden zur Berechnung benötigt, ob und in welcher Höhe sein Kindergeld zur Bestreitung des Lebensunterhalts benötigt werde bzw. ob dies bei den Eltern zu berücksichtigen sei. Auch seien die Angaben zur Prüfung der Unterhaltsvermutung nach § 9 Abs. 5 SGB II erforderlich.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Verwaltungs- und Gerichtsakten beider Instanzen Bezug genommen.

II.

Die Beschwerde des Ast. gegen den Beschluss des SG ist zulässig und im Wesentlichen begründet. Der Ag. hat zu Unrecht - vorläufige - Leistungen versagt.

Vorläufiger Rechtsschutz ist im Wege der Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 SGG zu gewähren, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (§ 86 b Abs. 2 SGG). Dies ist hier der Fall.

In der Hauptsache wäre grundsätzlich allein die isolierte Anfechtungsklage ( § 54 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. SGG; vgl. BSG SozR 1200 § 66 Nr. 13; SozR 4-1200 § 66 Nr. 1; BSG, Urteil vom 1. Juli 2009 - B 4 AS 78/08 R) die zulässige Klageart. Diese Klage hat nach inzwischen einhelliger Auffassung nach § 86a Abs. 1 Satz 1 SGG aufschiebende Wirkung, weil keiner der Ausnahmefälle des § 86a Abs. 2 SGG gegeben ist. Nach § 39 Nr. 1 SGB II (in der ab 1. Januar 2009 geltenden Fassung des Gesetzes zur Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente vom 21. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2917)) haben Widerspruch und Anfechtungsklage lediglich gegen Verwaltungsakte, die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende aufheben, zurücknehmen, widerrufen oder herabsetzen oder Leistungen zur Eingliederung in Arbeit oder Pflichten des erwerbsfähigen Hilfebedürftigen bei der Eingliederung in Arbeit regeln, keine aufschiebende Wirkung. Die vollständige Versagung von Leistungen nach § 66 SGB I wird von den in § 39 Nr. 1 SGB II hinsichtlich einer Leistungsverweigerung abschließend aufgeführten Fallvarianten nach dem eindeutigen Wortlaut der Norm nicht erfasst (LSG Saarland vom. 2. Mai 2011 - L 9 AS 9/11 B ER; LSG Baden-Württemberg vom 8. April 2010 - L 7 AS 304/10 ER-B; Groth in GK-SGB II, § 39 Rdnr. 25; Hengelhaupt in Hauck/Noftz, SGB II, K § 39 Rdnr. 75). Denn die Leistungsversagung nach § 66 SGB I ist gerade nicht auf die Kassation einer früheren Leistungsbewilligung oder auf eine Leistungsherabsetzung gerichtet.

Werden auf der Grundlage des § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende versagt, kann im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes die bloße Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsmittels jedoch keine effektive Rechtsschutzgewährleistung bewirken. Das Gebot effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) verlangt daher die Rechtsschutzgewährleistung nach § 86b Abs. 2 SGG im Wege der einstweiligen Anordnung (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen vom 11.01.2008 – L 7 AS 772/07 ER; sich anschließend LSG Berlin-Brandenburg vom 6. Mai 2008 - 5 B 125/08 AS ER; Hessisches LSG vom 22. Juni 2011 - L 7 AS 700/10 B ER; LSG Saarland, vom 02. Mai 2011 - L 9 AS 9/11 B ER; LSG Baden-Württemberg vom 8. April 2010 - L 7 AS 304/10 ER-B und vom 2. Juli 2004 - L 13 RJ 2467/04 ER-B; für Sozialhilfe: Hessisches LSG vom 22. Dezember 2008 - L 7 SO 80/08 B ER; aA LSG Niedersachsen-Bremen vom 8. März 2010 - L 13 AS 34/10 B ER). Denn allein mit dem Erlass einer einstweiligen Anordnung ist für den Ast. die Möglichkeit eröffnet, vor einer Entscheidung in der Hauptsache über die Anfechtungsklage gegen den Versagungsbescheid auch hinsichtlich des dahinter stehenden Leistungsbegehrens selbst den einstweiligen Rechtsschutz zu erreichen.

Der Erlass einer derartigen Regelungsanordnung setzt voraus, dass nach materiellem Recht ein Anspruch auf die begehrten Leistungen besteht (Anordnungsanspruch) und dass die Regelungsanordnung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig ist (Anordnungsgrund). Dabei stehen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund nicht isoliert nebeneinander, es besteht vielmehr eine Wechselbeziehung der Art, als die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils (dem Anordnungsgrund) zu verringern sind und umgekehrt.

Ist die Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist der Antrag auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Ist die Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so vermindern sich die Anforderungen an den Anordnungsgrund. In der Regel ist dann dem Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung stattzugeben, auch wenn in diesem Fall nicht gänzlich auf einen Anordnungsgrund verzichtet werden kann (vgl. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum SGG, 9. Auflage 2008 § 86b Rn. 29 mwN). Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, wenn etwa eine vollständige Aufklärung der Sach- oder Rechtslage im einstweiligen Rechtsschutz nicht möglich ist, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden, welchem Beteiligten ein Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache eher zuzumuten ist. Dabei sind grundrechtliche Belange des Antragstellers umfassend in der Abwägung zu berücksichtigen. Insbesondere bei Ansprüchen, die darauf gerichtet sind, als Ausfluss der grundrechtlich geschützten Menschenwürde das soziokulturelle Existenzminimum zu sichern ist ein nur möglicherweise bestehender Anordnungsanspruch, vor allem wenn er eine für die soziokulturelle Teilhabe unverzichtbare Leistungshöhe erreicht und für einen nicht nur kurzfristigen Zeitraum zu gewähren ist, in der Regel vorläufig zu befriedigen, wenn sich die Sach- oder Rechtslage im Eilverfahren nicht vollständig klären lässt (BVerfG vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 - info also 2005, 166 unter Hinweis auf BVerfGE 82, 60, 80). Denn im Rahmen der gebotenen Folgeabwägung hat dann regelmäßig das Interesse des Leistungsträgers, ungerechtfertigte Leistungen zu vermeiden, gegenüber der Sicherstellung des ausschließlich gegenwärtig für den Antragsteller verwirklichbaren soziokulturellen Existenzminimums zurückzutreten (vgl. insoweit Hessisches LSG vom 27. Juli 2005 – L 7 AS 18/05 ER).

Der Anordnungsanspruch ist hinreichend glaubhaft. Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II haben gem. § 7 SGB II Personen, die das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht haben, erwerbsfähig sind, hilfebedürftig sind und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben. Streitig ist vorliegend allein, ob der Ast. und seine Ehefrau hilfebedürftig sind. Nach § 9 Abs. 1 SGB II ist hilfebedürftig, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen erhält.

Die Hilfebedürftigkeit kann nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Prüfung weder aufgrund des Einkommens des Sohnes noch aus anderen Gründen verneint werden; insbesondere liegen keine Umstände vor, die die Versagung der Leistungen gegenüber dem Ast. und seiner Ehefrau rechtfertigen würden. Der Ag. ist daher verpflichtet, dem Ast. und seiner Ehefrau ab 1. September 2011 gemäß § 40 Abs. 1 Nr. 1a SGB II i.V.m. § 328 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III) vorläufig Leistungen - mit einem Abschlag versehen - zu erbringen, denn der Ast. dürfte seiner Mitwirkungspflicht hinreichend nachgekommen sein. Der Ag. ist gemäß § 60 Abs. 2 SGB II verpflichtet, die zur endgültigen Prüfung der Hilfebedürftigkeit des Ast. und seiner Ehefrau erforderlichen Informationen über das Einkommen des Sohnes M. direkt von diesem anzufordern.

Die Grenzen der Mitwirkungspflichten nach den §§ 60 ff SGB I sind überschritten, wenn der Träger der Grundsicherungsleistungen dem Ast. aufgibt, Urkunden von einem privaten Dritten zu beschaffen und vorzulegen, der nicht oder jedenfalls nicht zweifelsfrei und ohne weitere Feststellungen des Ag. am Sozialleistungsverhältnis beteiligt ist. Auskunftspflichten, die Dritte betreffen, erstrecken sich allenfalls auf Tatsachen, die dem Leistungsempfänger selbst bekannt sind. Grundsätzlich besteht keine Ermittlungspflicht des Leistungsempfängers gegenüber Dritten. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Dritte es abgelehnt hat, entsprechende Angaben zu machen oder preiszugeben. Entsprechendes gilt für das Verlangen, mit einem Dritten eine gemeinsame Antragstellung vorzunehmen.

M. ist jedenfalls nach der summarischen Prüfung, die im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes geboten ist, Dritter im Sinne des § 60 Abs. 2 SGB II, denn er ist mangels eigener Antragstellung oder Antragstellung des Ast. auch für ihn (§ 38 SGB II) nicht von vornherein als am Sozialleistungsverhältnis Beteiligter anzusehen. M. hat sich auch gegenüber dem Ast. geweigert, Angaben über sein Einkommen aus selbständiger Tätigkeit zu machen. Der Ast. selbst ist durch die Angabe, sein Sohn verdiene so viel, dass er sich selbst unterhalten könne, ohne dass ihm Einzelheiten zum monatlichen Umsatz oder Gewinn bekannt seien, seiner Mitwirkungspflicht insoweit hinreichend nachgekommen.

Der Ag. hat sich daher unmittelbar an M. zu wenden, wenn er Angaben über dessen Einkommen aus selbständiger Tätigkeit benötigt. In diesem Verhältnis könnte M. dem Ag. durchaus als Dritter zur Auskunft verpflichtet sein. Die bestehende Auskunftspflicht von M. rechtfertigt aber nicht die Versagung von Leistungen gegenüber dem Ast. und seiner Ehefrau.

Gemäß § 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II gehören zur Bedarfsgemeinschaft grundsätzlich auch die dem Haushalt angehörenden unverheirateten Kinder des erwerbsfähigen Hilfebedürftigen (§ 7 Abs. 3 Nr. 1 SGB II), wenn sie - wie M. - das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, soweit sie die Leistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts nicht aus eigenem Einkommen oder Vermögen beschaffen können. Dies wird vom Ast. und M. zwar behauptet. Doch ist entgegen der Auffassung des Ast. und seines Sohnes jedoch allein aufgrund dieser Aussage eine Berücksichtigung des Einkommens von M. bei der Prüfung der Hilfebedürftigkeit noch nicht völlig ausgeschlossen. Denn M. könnte mit seinen Eltern in einer Haushaltsgemeinschaft im Sinne des § 9 Abs. 5 SGB II leben - was aber durch die Ag. zunächst noch zu ermitteln wäre -, so dass dann die Vermutungsregelung des § 9 Abs. 5 SGB II greifen könnte. Leben danach Hilfebedürftige, nämlich der Ast. und seine Frau, in Haushaltsgemeinschaft mit Verwandten - M. -, so wird vermutet, dass sie von ihnen Leistungen erhalten, soweit dies nach ihrem Einkommen und Vermögen erwartet werden kann. Entsprechende Ermittlungen hat der Ag. aber erst noch durchzuführen.

Die Ast. selbst hat nicht gegen seine Pflichten aus § 60 Abs. 1 Satz 1 SGB I verstoßen. Dies wird vom Ag. zuletzt auch nicht mehr behauptet, da die Versagung nur darauf gestützt worden ist, dass keine Auskünfte über das Einkommen des Sohnes M. - sei es als Teil der von dem Ag. weiterhin vermuteten Bedarfsgemeinschaft oder als Teil der alternativ behaupteten Haushaltsgemeinschaft - erteilt worden seien. Dies kann der Ag. jedoch nicht dadurch ahnden, dass er dem Ast. und dessen Ehefrau alle Leistungen versagt. Vielmehr ist der Ag. gehalten, die von ihm insoweit für entscheidungserheblich gehaltenen Auskünfte nach § 60 Abs. 2 SGB II unmittelbar von M. zu beschaffen. Diese Vorschrift normiert eine eigenständige öffentlich-rechtliche Auskunftspflicht des Dritten, die bußgeldbewehrt ist und bei deren Verletzung der Auskunftspflichtige schadensersatzpflichtig werden kann (vgl. §§ 63 Abs. 1 Nr. 4, 62 SGB II).

Der Ag. hat sich jedoch bislang nicht an M. gewandt, um von diesem direkt Auskünfte zu erlangen. So kann auch die Weigerung von M. (vgl. Schreiben vom 31. Oktober 2011), unter Hinweis auf die angeblich nicht bestehende Bedarfsgemeinschaft, Auskünfte zu erteilen, keine Konsequenzen nach sich ziehen. Erst nach Ausschöpfung der gesetzlich vorgesehenen Ermittlungsmöglichkeiten kann der Grundsicherungsträger über das Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen des Leistungsanspruchs, also insbesondere über die Hilfebedürftigkeit des Ast., entscheiden. Bevor der Träger der Grundsicherung keine Anstrengung unternommen hat, seinen Auskunftsanspruch nach § 60 Abs. 2 SGB II durchzusetzen, dürfte eine Versagung gegenüber dem Ast. nicht statthaft sein (vgl. dazu auch BSG vom 1. Juli 2009 – B 4 AS 78/08 R = SozR 4-1200 § 66 Nr. 5). Daher hat der Senat - abweichend von den Ausführungen des SG im angefochtenen Beschluss - keine Bedenken, ein hinreichendes Rechtsschutzbedürfnis für die Geltendmachung von Ansprüchen im Eilrechtsschutz zu bejahen.

Angesichts der Mietkosten des Ast. von bislang anerkannten je 501,54 EUR für den Ast. und seine Ehefrau (M. dürfte nach dem Vorbringen zu seinem Einkommen aus selbständiger Tätigkeit in der Lage sein, seinen Mietanteil selbst zu tragen) sowie unter Berücksichtigung der Tatsache, dass noch völlig unklar ist, ob und inwieweit Einkommen von M. auf die Grundsicherungsleistungen des Ast. und seiner Ehefrau anzurechnen ist, des Vortrags, dass M. jedenfalls mehr als die bislang angegebenen 900,- EUR monatlichen Gewinn erzielt, und vor dem Hintergrund des nach § 1 Abs. 2 der Verordnung zur Berechnung von Einkommen sowie zur Nichtberücksichtigung von Einkommen und Vermögen beim Arbeitslosengeld II/Sozialgeld (Alg II-V) erhöhten Freibetrags für das Einkommen von M. im Fall der Annahme eines Haushaltsgemeinschaft erachtet der Senat eine vorläufige Leistungsgewährung jedenfalls im Umfang der bislang gewährten Leistungen von monatlich 1.659,08 EUR (2 x 501,54 EUR Kosten der Unterkunft; 2 x 328,- EUR Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts) abzüglich eines Sicherheitsabschlags (der der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nur möglichen summarischen Prüfung der Anspruchshöhe und einer möglichen Anrechnung höheren Einkommens von M. als Teil der Bedarfsgemeinschaft oder Mitglied der Haushaltsgemeinschaft Rechnung trägt) von 20% ab dem Zeitpunkt der Antragstellung im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, dem 8. September 2011 für die Dauer von 6 Monaten (vgl. § 41 Abs. 1 Satz 4 SGB II) für den Ast. und seine Ehefrau für angemessen, aber auch ausreichend, um den Lebensunterhalt vorläufig bis zur endgültigen Feststellung der Leistungsfähigkeit von M. und dessen – rechtlicher – Zuordnung zur Bedarfsgemeinschaft oder Haushaltsgemeinschaft mit dem Ast. und seiner Ehefrau zu sichern. Soweit der Ast. geltend gemacht hat, bereits ab 1. September 2011 Leistungen zu erhalten, war die Beschwerde zurückzuweisen.

Es besteht auch ein Anordnungsgrund, eine besondere Eilbedürftigkeit. Der Ast. und seine Ehefrau sind nicht in der Lage, ihren Lebensunterhalt aus eigenen Mitteln zu bestreiten. Nicht zuletzt begründet auch die an eine Leistungsgewährung geknüpfte Möglichkeit der Gewährung eines Eingliederungszuschusses zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit durch den Ast. eine besondere Eilbedürftigkeit für eine gerichtliche Entscheidung, die ein Zuwarten auf die Entscheidung in der Hauptsache nicht erlaubt.

Dem Ast. war für das Beschwerdeverfahren deshalb auch Prozesskostenhilfe zu gewähren, § 73a SGG i.V.m. §§ 114 ff Zivilprozessordnung.

Nur ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass die Anforderung von Unterlagen von M., für die Zeit, in der dieser Teil der Bedarfsgemeinschaft mit dem Ast. und seiner Ehefrau gewesen war, vom Ag. zu Recht verlangt worden ist, da M. insoweit nicht als Dritter im Sinne des § 60 Abs. 2 SGB II angesehen werden kann.

Ebenso ist darauf hinzuweisen, dass mit diesem Beschluss keine Aussage über die Angemessenheit der Kosten der Unterkunft über den Zeitraum Februar 2012 hinaus getroffen werden soll.

Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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