Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
16
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 13 KR 25/10
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 16 KR 668/10 KL
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Bescheid vom 15.11.2010 wird insoweit aufgehoben, als die Beklagte den Erlass der Säumniszuschläge abgelehnt hat. Insoweit wird die Beklagte verurteilt, über den Antrag des Klägers erneut unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu entscheiden. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Der Streitwert wird auf 6.044,- EUR festgesetzt.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über den Erlass von Säumniszuschlägen.
Der Kläger ist ein zugelassener kommunaler Träger (§ 6a Zweites Buch Sozialgesetzbuch ( SGB II )) der Leistungen nach dem SGB II. Er hat daher für die von ihm betreuten Be¬zieher der Leistungen von Arbeitslosengeld II die Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung an den Gesundheitsfonds abzuführen (§ 252 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit §§ 252 Abs. 1 Satz 2, 251 Abs. 4, Fünftes Buch Sozialgesetzbuch ( SGB V ), § 60 Abs. 3 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch ( SGB IX ) in Verbindung mit § 252 Abs. 1 S. 1 SGB V). Die an die Klägerin zu zahlenden Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung für den Monat Juli 2010, die am 08.08.2010 fällig waren (§ 23 Abs. 2 S. 1 Viertes Buch Sozialgesetzbuch ( SGB IV ), wurden erst am 13.08.2010 gezahlt.
Mit Schreiben vom 13.09.2010 hörte die Beklagte den Kläger zur beabsichtigten Festsetzung von Säumniszuschlägen für die Zeit vom 10. - 12.08.2010 an. In seiner Stellungnahme vom 29.10.2010 machte der Kläger geltend, die Verhängung von Säumniszuschlägen sei unverhältnismäßig, weil die Zahlung nur um drei Tage zu spät erfolgt sei. Er habe die Beiträge in der Vergangenheit immer pünktlich gezahlt, so dass entsprechend der Gemeinsamen Verlautbarungen der Spitzenorganisationen der Sozialversicherung vom 09.11.1994 zur Erhebung von Säumniszuschlägen die Säumniszuschläge zu erlassen seien. In der genannten Verlautbarung (Nr. 7) heißt es, ein Erlass von Säumniszuschlägen wegen Unbilligkeit könne insbesondere in folgenden Fällen in Betracht kommen:
a) ( ...)
b) bisher pünktlicher Beitragszahler:
Bei einem bisher pünktlichen Beitragszahler kann die Einziehung von Säumniszuschlägen unbillig sein, wenn dem Zahlungspflichtigen ein offenbares Versehen unterlaufen ist, die Beiträge bis zum Ablauf des Fälligkeitstages nicht zu zahlen (z.B. falsche Einschätzung der Überweisungslaufzeit).
( ...)
Mit Bescheid vom 15.11.2010 setzte die Beklagte Säumniszuschläge in Höhe von insgesamt 6044,- EUR (5.283,50 EUR auf Krankenversicherungsbeiträge, 760,50 EUR auf Pflegeversicherungsbeiträge) fest. Den Erlass der Säumniszuschläge nach § 76 Abs. 2 Nr. 3 SGB IV wegen Unbilligkeit lehnte sie ab. Wirtschaftliche Unbilligkeit liege nicht vor, da sich der Kläger durch die Zahlung der Säumniszuschläge nicht in einer dauerhaften wirtschaftlichen Notlage befinde. Auch Sachunbilligkeit liege nicht vor. Die Gemeinsamen Verlautbarungen stellten für das Bundesversicherungsamt (BVA) keine bindende gesetzliche Grundlage dar, auf deren Grundlage ein Erlass in Betracht komme. Die bisher stets pünktliche Beitragszahlung allein erfülle nicht den Tatbestand der sachlichen Unbilligkeit, Gründe für die verspätete Beitragszahlung, die von dem Kläger nicht zu vertreten sei, sei nicht vorgetragen worden.
Die Deutsche Rentenversicherung Bund hat dem Kläger mit Bescheid vom 03.11.2010 die Säumniszuschläge für die ebenfalls verspätet gezahlten Rentenversicherungsbeiträge erlassen.
Der Kläger hat am 17.12.2010 Klage erhoben, zu deren Begründung er im Wesentlichen seinen Vortrag aus dem Verwaltungsverfahren wiederholt. Ergänzend trägt er vor, zur verspäteten Überweisung sei es deshalb gekommen, weil die für die Überweisung zuständige Mitarbeiterin sich im Urlaub befunden habe. Der Urlaubsvertreter habe die Überweisung für August 2010 zunächst schlichtweg übersehen und dann erst am 11.08.2010 veranlasst. Es sei offensichtlich, dass die verspätete Überweisung unbeabsichtigt und nicht willentlich erfolgt sei. Weder die Druckmittelfunktion noch die Schadensausgleichsfunktion rechtfertigten hier die Erhebung von Säumniszuschlägen, denn die Beiträge seien unverzüglich überwiesen worden, nachdem der Zahlungstermin aufgefallen sei. Daher habe die verspätete Zahlung auch zu keinem erhöhten Verwaltungsaufwand bei der Beklagten geführt. Ferner weist der Kläger darauf hin, der Begriff der Unbilligkeit sei ein unbestimmter Rechtsbegriff, der mit einer Ermessensentscheidung gekoppelt sei. Von daher sei eine Abwägung der Interessen der Allgemeinheit mit denen des Anspruchsgegners erforderlich, die in dem angefochtenen Bescheid nicht stattgefunden habe.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid vom 15.11.2010 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, über den Antrag auf Erlass vom 29.09.2010 erneut unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu entscheiden.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie weist darauf hin, hier seien zwingend Säumniszuschläge festzusetzen gewesen. Ein Erlass dieser Säumniszuschläge nach § 76 Abs. 2 SGB IV komme nicht in Betracht. Da nach § 220 SGB V die Einnahme von Beiträgen und damit die Funktionsfähigkeit des Gesundheitsfonds im Mittelpunkt stehe, sei von der Möglichkeit des Erlasses nur restriktiv Gebrauch zu machen. Soweit sich der Kläger auf die Gemeinsamen Verlautbarungen berufe, sei zweifelhaft, ob diese angesichts des Zeitablaufs noch Gültigkeit besäßen. Zudem sei die verspätete Zahlung nicht unvermeidbar gewesen, denn die Ursache für die Säumnis habe nach der Darstellung des Klägers in einem behördlichen Organisationsversehen gelegen (unzureichende Organisation der Urlaubsvertretung). Auch die Funktion der Säumniszuschläge stehe einem Erlass entgegen. Durch die Säumniszuschläge solle zum einen ein standardisierter Mindestschadensausgleich gewährleistet werden, andererseits dienten sie dazu, Druck auf den Beitragsschuldner auszuüben, damit Beiträge rechtzeitig entrichtet würden. Diese Druckmittelfunktion sei jedenfalls gefährdet, wenn regelmäßig bei erstmaliger Säumnis die Säumniszuschläge erlassen würden, weil dadurch die Gefahr bestünde, dass zahlreiche Beitragsschuldner zumindest einmal verspätet die Beiträge zahlen würden. Zudem ergebe sich aus § 271 a SGB V der Wille des Gesetzgebers, die Finanzierung des Gesundheitsfonds sicherzustellen. Der mit dieser Norm erfolgte Zweck, Liquiditätsengpässe des Gesundheitsfonds zu vermeiden, müsse auch bei der Geltendmachung von Säumniszuschläge gegenüber dem Direktzahler nach § 252 Abs. 1 Satz 2 SGB V berücksichtigt werden. Unabhängig von der Frage, ob ein erhöhter Verwaltungsaufwand entstanden sei, sei auch ein Schaden durch entgangene Zinsen entstanden. Unerheblich sei, dass die DRV Bund die Säumniszuschläge erlassen habe, weil deren Entscheidung für das BVA nicht vorgreiflich sei. Mangels Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzung Unbilligkeit stelle sich damit nicht die auf der Rechtsfolgenseite zu beantwortende Frage, ob das eingeräumte Ermessen ordnungsgemäß ausgeübt worden sei. Zutreffend seien daher im Bescheid vom 16.11.2010 keine Ermessenserwägungen angestellt worden.
Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der Verwaltungsakten der Beteiligten verwiesen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage, für die die erstinstanzliche Zuständigkeit des Senats besteht (§ 29 Abs. 3 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz ( SGG )) ist begründet, denn der Bescheid ist rechtswidrig, soweit der Erlass der Säumniszuschläge abgelehnt worden ist.
I. Gegenstand des Verfahrens ist nur die Ablehnung des Erlasses der Säumniszuschläge. Die Beklagte hat in dem Bescheid vom 15.11.2010 zum einen Säumniszuschläge in Höhe von insgesamt 6044,- EUR festgesetzt, zum anderen den Erlass dieser Säumniszuschläge nach § 76 Abs. 2 Nr. 3 SGB IV abgelehnt. Dass sich die Ablehnung des Erlasses erst unter "II. Gründe" des Bescheides findet und dieser Verfügungssatz nicht wie die Festsetzung der Säumniszuschläge unter "I." des Bescheides aufgenommen worden ist, ist unschädlich, da ein Verfügungssatz auch in der Begründung enthalten sein kann (vgl. KassKomm-Krasney, § 31 SGB X Rdnr. 11). Gegen den ersten Verfügungssatz, wonach Säumniszuschläge nach § 24 Abs. 1 SGB IV in der festgesetzten Höhe angefallen sind, wendet sich der Kläger nicht; dieser Teil des Bescheides ist damit bestandskräftig. Sein Ziel des Erlasses der Säumniszuschläge verfolgt der Kläger zutreffend mit einer kombinierten Anfechtungs- und Bescheidungsklage.
II. 1. Nach § 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB IV darf ein Versicherungsträger Ansprüche nur erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre; diese Norm gilt nach § 220 Abs. 3 Satz 1 SGB V auch für die Verwaltung des Gesundheitsfonds durch das BVA. Diese Vorschrift entspricht § 227 Abgabenordnung (AO), zu deren Vorgängervorschrift (§ 131 AO) der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes BVerwGE 39, 355) entschieden hatte, dass der Begriff der Unbilligkeit nicht losgelöst vom Ermessen der Behörde zu beurteilen sei. Die unlösbare Verzahnung zwinge zur Annahme einer nur einheitlich zu treffenden Ermessensentscheidung. Der Begriff "unbillig" ragt somit in den Ermessensbereich hinein und bestimmt zugleich Inhalt und Grenzen der pflichtgemäßen Ermessensausübung. Die Entscheidung über den Erlass ist also eine Ermessensentscheidung, bei der Inhalt und Grenzen des Ermessens durch den Begriff der Unbilligkeit bestimmt werden (vgl. BFH, Urteil vom 03.02.2010 - II R 25/08; FG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 09.08.2011 - 1 K 1369/07). Entsprechend dieser finanzgerichtlichen Rechtsprechung ist auch im Rahmen des § 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB IV (nur) eine sich am Begriff der Unbilligkeit orientierenden Ermessensentscheidung zu treffen (vgl. BSGE 83, 292; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 16.12.2005 - L 8 AL 4537/04) und nicht zunächst der unbestimmte Rechtsbegriff der Unbilligkeit zu bestimmen und dann in einem zweiten Schritt das Ermessen hinsichtlich des Erlasses auszuüben (so allerdings wohl von Boetticher in jurisPK - SGB IV, § 76 Rdnr. 31).
2. Von dieser aber unzutreffenden Auffassung ist die Beklagte in ihrem Bescheid ausgegangen. Sie hat nur die Frage der Unbilligkeit geprüft und dazu Ausführungen gemacht. Vor allem hat sie im Verfahren selbst vorgetragen, da schon Unbilligkeit nicht gegeben gewesen sei, seien in dem Bescheid auch keine Ermessenserwägungen anzustellen gewesen. Damit hat sie deutlich gemacht, dass ihr das Erfordernis einer umfassend alle Aspekte zu berücksichtigenden Ermessensentscheidung nicht bewusst war und es somit an der von § 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB IV geforderten Ermessensbetätigung in dem Bescheid fehlt.
Dieses Ermessensdefizit ist auch nicht durch den Vortrag im Klageverfahren geheilt worden. Zwar könnten die ausführlichen Darlegungen der Beklagten zum Verschulden der Klägerin an der verspäteten Zahlung und der Funktion der Säumniszuschläge, die einem Erlass entgegenstünden, eine Ermessensentscheidung tragen. Eine Heilung scheidet jedoch aus, weil der Klagevortrag über die bloße (zulässige) Ergänzung von Ermessenserwägungen hinausgeht, so dass es sich um die erstmalige Betätigung des Ermessens handelt (vgl. FG Berlin-Brandenburg, a.a.O.).
3. Da der Kläger nur einen Antrag auf Neubescheidung gestellt hat, hat der Senat nicht über eine mögliche Schrumpfung des Ermessens auf Null zu entscheiden. Im Hinblick auf den Vortrag des Klägers merkt er in diesem Zusammenhang aber an, dass selbstverständlich die vom Kläger angeführten Gemeinsamen Verlautbarungen der Spitzenorganisationen der Sozialversicherung für die Beklagte nicht verbindlich sind. Das gilt um so mehr, als sie mit durchaus beachtlichen Argumenten für die Verwaltung des Gesundheitsfonds Besonderheiten sieht und es daher hinzunehmen ist, wenn sie eigene Maßstäbe für den Erlass anwendet. Ohnehin erscheint es auch durchaus zweifelhaft, ob tatsächlich die Voraussetzungen für den Erlass nach den Gemeinsamen Verlautbarungen vorgelegen haben, denn das von dem Kläger eingeräumte organisatorische Verschulden ist eigentlich eher ein typischer Fall für den Anfall von Säumniszuschlägen und - insbesondere unter Berücksichtigung des in Nr. 7b der Verlautbarungen genannten Beispielsfalles - kein "offenbares Versehen".
Da die Beklagte ermessensfehlerhaft über den Antrag auf Erlass der Säumniszuschläge entschieden hat, war der Bescheid insoweit aufzuheben und die Beklagte zur Neubescheidung zu verurteilen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 197a Abs. 1 SGG in Verbindung mit § 154 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über den Erlass von Säumniszuschlägen.
Der Kläger ist ein zugelassener kommunaler Träger (§ 6a Zweites Buch Sozialgesetzbuch ( SGB II )) der Leistungen nach dem SGB II. Er hat daher für die von ihm betreuten Be¬zieher der Leistungen von Arbeitslosengeld II die Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung an den Gesundheitsfonds abzuführen (§ 252 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit §§ 252 Abs. 1 Satz 2, 251 Abs. 4, Fünftes Buch Sozialgesetzbuch ( SGB V ), § 60 Abs. 3 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch ( SGB IX ) in Verbindung mit § 252 Abs. 1 S. 1 SGB V). Die an die Klägerin zu zahlenden Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung für den Monat Juli 2010, die am 08.08.2010 fällig waren (§ 23 Abs. 2 S. 1 Viertes Buch Sozialgesetzbuch ( SGB IV ), wurden erst am 13.08.2010 gezahlt.
Mit Schreiben vom 13.09.2010 hörte die Beklagte den Kläger zur beabsichtigten Festsetzung von Säumniszuschlägen für die Zeit vom 10. - 12.08.2010 an. In seiner Stellungnahme vom 29.10.2010 machte der Kläger geltend, die Verhängung von Säumniszuschlägen sei unverhältnismäßig, weil die Zahlung nur um drei Tage zu spät erfolgt sei. Er habe die Beiträge in der Vergangenheit immer pünktlich gezahlt, so dass entsprechend der Gemeinsamen Verlautbarungen der Spitzenorganisationen der Sozialversicherung vom 09.11.1994 zur Erhebung von Säumniszuschlägen die Säumniszuschläge zu erlassen seien. In der genannten Verlautbarung (Nr. 7) heißt es, ein Erlass von Säumniszuschlägen wegen Unbilligkeit könne insbesondere in folgenden Fällen in Betracht kommen:
a) ( ...)
b) bisher pünktlicher Beitragszahler:
Bei einem bisher pünktlichen Beitragszahler kann die Einziehung von Säumniszuschlägen unbillig sein, wenn dem Zahlungspflichtigen ein offenbares Versehen unterlaufen ist, die Beiträge bis zum Ablauf des Fälligkeitstages nicht zu zahlen (z.B. falsche Einschätzung der Überweisungslaufzeit).
( ...)
Mit Bescheid vom 15.11.2010 setzte die Beklagte Säumniszuschläge in Höhe von insgesamt 6044,- EUR (5.283,50 EUR auf Krankenversicherungsbeiträge, 760,50 EUR auf Pflegeversicherungsbeiträge) fest. Den Erlass der Säumniszuschläge nach § 76 Abs. 2 Nr. 3 SGB IV wegen Unbilligkeit lehnte sie ab. Wirtschaftliche Unbilligkeit liege nicht vor, da sich der Kläger durch die Zahlung der Säumniszuschläge nicht in einer dauerhaften wirtschaftlichen Notlage befinde. Auch Sachunbilligkeit liege nicht vor. Die Gemeinsamen Verlautbarungen stellten für das Bundesversicherungsamt (BVA) keine bindende gesetzliche Grundlage dar, auf deren Grundlage ein Erlass in Betracht komme. Die bisher stets pünktliche Beitragszahlung allein erfülle nicht den Tatbestand der sachlichen Unbilligkeit, Gründe für die verspätete Beitragszahlung, die von dem Kläger nicht zu vertreten sei, sei nicht vorgetragen worden.
Die Deutsche Rentenversicherung Bund hat dem Kläger mit Bescheid vom 03.11.2010 die Säumniszuschläge für die ebenfalls verspätet gezahlten Rentenversicherungsbeiträge erlassen.
Der Kläger hat am 17.12.2010 Klage erhoben, zu deren Begründung er im Wesentlichen seinen Vortrag aus dem Verwaltungsverfahren wiederholt. Ergänzend trägt er vor, zur verspäteten Überweisung sei es deshalb gekommen, weil die für die Überweisung zuständige Mitarbeiterin sich im Urlaub befunden habe. Der Urlaubsvertreter habe die Überweisung für August 2010 zunächst schlichtweg übersehen und dann erst am 11.08.2010 veranlasst. Es sei offensichtlich, dass die verspätete Überweisung unbeabsichtigt und nicht willentlich erfolgt sei. Weder die Druckmittelfunktion noch die Schadensausgleichsfunktion rechtfertigten hier die Erhebung von Säumniszuschlägen, denn die Beiträge seien unverzüglich überwiesen worden, nachdem der Zahlungstermin aufgefallen sei. Daher habe die verspätete Zahlung auch zu keinem erhöhten Verwaltungsaufwand bei der Beklagten geführt. Ferner weist der Kläger darauf hin, der Begriff der Unbilligkeit sei ein unbestimmter Rechtsbegriff, der mit einer Ermessensentscheidung gekoppelt sei. Von daher sei eine Abwägung der Interessen der Allgemeinheit mit denen des Anspruchsgegners erforderlich, die in dem angefochtenen Bescheid nicht stattgefunden habe.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid vom 15.11.2010 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, über den Antrag auf Erlass vom 29.09.2010 erneut unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu entscheiden.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie weist darauf hin, hier seien zwingend Säumniszuschläge festzusetzen gewesen. Ein Erlass dieser Säumniszuschläge nach § 76 Abs. 2 SGB IV komme nicht in Betracht. Da nach § 220 SGB V die Einnahme von Beiträgen und damit die Funktionsfähigkeit des Gesundheitsfonds im Mittelpunkt stehe, sei von der Möglichkeit des Erlasses nur restriktiv Gebrauch zu machen. Soweit sich der Kläger auf die Gemeinsamen Verlautbarungen berufe, sei zweifelhaft, ob diese angesichts des Zeitablaufs noch Gültigkeit besäßen. Zudem sei die verspätete Zahlung nicht unvermeidbar gewesen, denn die Ursache für die Säumnis habe nach der Darstellung des Klägers in einem behördlichen Organisationsversehen gelegen (unzureichende Organisation der Urlaubsvertretung). Auch die Funktion der Säumniszuschläge stehe einem Erlass entgegen. Durch die Säumniszuschläge solle zum einen ein standardisierter Mindestschadensausgleich gewährleistet werden, andererseits dienten sie dazu, Druck auf den Beitragsschuldner auszuüben, damit Beiträge rechtzeitig entrichtet würden. Diese Druckmittelfunktion sei jedenfalls gefährdet, wenn regelmäßig bei erstmaliger Säumnis die Säumniszuschläge erlassen würden, weil dadurch die Gefahr bestünde, dass zahlreiche Beitragsschuldner zumindest einmal verspätet die Beiträge zahlen würden. Zudem ergebe sich aus § 271 a SGB V der Wille des Gesetzgebers, die Finanzierung des Gesundheitsfonds sicherzustellen. Der mit dieser Norm erfolgte Zweck, Liquiditätsengpässe des Gesundheitsfonds zu vermeiden, müsse auch bei der Geltendmachung von Säumniszuschläge gegenüber dem Direktzahler nach § 252 Abs. 1 Satz 2 SGB V berücksichtigt werden. Unabhängig von der Frage, ob ein erhöhter Verwaltungsaufwand entstanden sei, sei auch ein Schaden durch entgangene Zinsen entstanden. Unerheblich sei, dass die DRV Bund die Säumniszuschläge erlassen habe, weil deren Entscheidung für das BVA nicht vorgreiflich sei. Mangels Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzung Unbilligkeit stelle sich damit nicht die auf der Rechtsfolgenseite zu beantwortende Frage, ob das eingeräumte Ermessen ordnungsgemäß ausgeübt worden sei. Zutreffend seien daher im Bescheid vom 16.11.2010 keine Ermessenserwägungen angestellt worden.
Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der Verwaltungsakten der Beteiligten verwiesen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage, für die die erstinstanzliche Zuständigkeit des Senats besteht (§ 29 Abs. 3 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz ( SGG )) ist begründet, denn der Bescheid ist rechtswidrig, soweit der Erlass der Säumniszuschläge abgelehnt worden ist.
I. Gegenstand des Verfahrens ist nur die Ablehnung des Erlasses der Säumniszuschläge. Die Beklagte hat in dem Bescheid vom 15.11.2010 zum einen Säumniszuschläge in Höhe von insgesamt 6044,- EUR festgesetzt, zum anderen den Erlass dieser Säumniszuschläge nach § 76 Abs. 2 Nr. 3 SGB IV abgelehnt. Dass sich die Ablehnung des Erlasses erst unter "II. Gründe" des Bescheides findet und dieser Verfügungssatz nicht wie die Festsetzung der Säumniszuschläge unter "I." des Bescheides aufgenommen worden ist, ist unschädlich, da ein Verfügungssatz auch in der Begründung enthalten sein kann (vgl. KassKomm-Krasney, § 31 SGB X Rdnr. 11). Gegen den ersten Verfügungssatz, wonach Säumniszuschläge nach § 24 Abs. 1 SGB IV in der festgesetzten Höhe angefallen sind, wendet sich der Kläger nicht; dieser Teil des Bescheides ist damit bestandskräftig. Sein Ziel des Erlasses der Säumniszuschläge verfolgt der Kläger zutreffend mit einer kombinierten Anfechtungs- und Bescheidungsklage.
II. 1. Nach § 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB IV darf ein Versicherungsträger Ansprüche nur erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre; diese Norm gilt nach § 220 Abs. 3 Satz 1 SGB V auch für die Verwaltung des Gesundheitsfonds durch das BVA. Diese Vorschrift entspricht § 227 Abgabenordnung (AO), zu deren Vorgängervorschrift (§ 131 AO) der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes BVerwGE 39, 355) entschieden hatte, dass der Begriff der Unbilligkeit nicht losgelöst vom Ermessen der Behörde zu beurteilen sei. Die unlösbare Verzahnung zwinge zur Annahme einer nur einheitlich zu treffenden Ermessensentscheidung. Der Begriff "unbillig" ragt somit in den Ermessensbereich hinein und bestimmt zugleich Inhalt und Grenzen der pflichtgemäßen Ermessensausübung. Die Entscheidung über den Erlass ist also eine Ermessensentscheidung, bei der Inhalt und Grenzen des Ermessens durch den Begriff der Unbilligkeit bestimmt werden (vgl. BFH, Urteil vom 03.02.2010 - II R 25/08; FG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 09.08.2011 - 1 K 1369/07). Entsprechend dieser finanzgerichtlichen Rechtsprechung ist auch im Rahmen des § 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB IV (nur) eine sich am Begriff der Unbilligkeit orientierenden Ermessensentscheidung zu treffen (vgl. BSGE 83, 292; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 16.12.2005 - L 8 AL 4537/04) und nicht zunächst der unbestimmte Rechtsbegriff der Unbilligkeit zu bestimmen und dann in einem zweiten Schritt das Ermessen hinsichtlich des Erlasses auszuüben (so allerdings wohl von Boetticher in jurisPK - SGB IV, § 76 Rdnr. 31).
2. Von dieser aber unzutreffenden Auffassung ist die Beklagte in ihrem Bescheid ausgegangen. Sie hat nur die Frage der Unbilligkeit geprüft und dazu Ausführungen gemacht. Vor allem hat sie im Verfahren selbst vorgetragen, da schon Unbilligkeit nicht gegeben gewesen sei, seien in dem Bescheid auch keine Ermessenserwägungen anzustellen gewesen. Damit hat sie deutlich gemacht, dass ihr das Erfordernis einer umfassend alle Aspekte zu berücksichtigenden Ermessensentscheidung nicht bewusst war und es somit an der von § 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB IV geforderten Ermessensbetätigung in dem Bescheid fehlt.
Dieses Ermessensdefizit ist auch nicht durch den Vortrag im Klageverfahren geheilt worden. Zwar könnten die ausführlichen Darlegungen der Beklagten zum Verschulden der Klägerin an der verspäteten Zahlung und der Funktion der Säumniszuschläge, die einem Erlass entgegenstünden, eine Ermessensentscheidung tragen. Eine Heilung scheidet jedoch aus, weil der Klagevortrag über die bloße (zulässige) Ergänzung von Ermessenserwägungen hinausgeht, so dass es sich um die erstmalige Betätigung des Ermessens handelt (vgl. FG Berlin-Brandenburg, a.a.O.).
3. Da der Kläger nur einen Antrag auf Neubescheidung gestellt hat, hat der Senat nicht über eine mögliche Schrumpfung des Ermessens auf Null zu entscheiden. Im Hinblick auf den Vortrag des Klägers merkt er in diesem Zusammenhang aber an, dass selbstverständlich die vom Kläger angeführten Gemeinsamen Verlautbarungen der Spitzenorganisationen der Sozialversicherung für die Beklagte nicht verbindlich sind. Das gilt um so mehr, als sie mit durchaus beachtlichen Argumenten für die Verwaltung des Gesundheitsfonds Besonderheiten sieht und es daher hinzunehmen ist, wenn sie eigene Maßstäbe für den Erlass anwendet. Ohnehin erscheint es auch durchaus zweifelhaft, ob tatsächlich die Voraussetzungen für den Erlass nach den Gemeinsamen Verlautbarungen vorgelegen haben, denn das von dem Kläger eingeräumte organisatorische Verschulden ist eigentlich eher ein typischer Fall für den Anfall von Säumniszuschlägen und - insbesondere unter Berücksichtigung des in Nr. 7b der Verlautbarungen genannten Beispielsfalles - kein "offenbares Versehen".
Da die Beklagte ermessensfehlerhaft über den Antrag auf Erlass der Säumniszuschläge entschieden hat, war der Bescheid insoweit aufzuheben und die Beklagte zur Neubescheidung zu verurteilen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 197a Abs. 1 SGG in Verbindung mit § 154 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
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