Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
6.
1. Instanz
SG Dessau-Roßlau (SAN)
Aktenzeichen
S 3 U 1/08
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 6 U 30/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob eine Kehlkopfkrebserkrankung des Klägers eine Berufskrankheit nach Nummer 4110 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BK 4110) ist.
Die Funktionsvorgängerin der Beklagten – im Folgenden einheitlich Beklagte – erhielt eine unter dem 20. Februar 2006 erstellte ärztliche Berufskrankheitenanzeige von dem Facharzt für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde Dr. P ... Danach hielt dieser die genannte Berufskrankheit für möglich, weil der bereits nachgewiesene Kehlkopfkrebs beim Kläger durch Dämpfe von Heizöl, Teeröl, Phenolöl, Ammoniakwasser, Rohbenzol und anderes verursacht sein könne. Der Kläger habe zwischen 1964 und 2000 im Zusammenhang des früheren Kombinates "Schwarze Pumpe" zuletzt im Sekundärrohstoff-Verwertungszentrum Schwarze Pumpe gearbeitet. Dort sei er Maschinist im Tanklager und mit dem Be- und Entladen von Kesselwagen befasst gewesen. Erste Hinweise auf die Erkrankung in Form von Heiserkeit seien im Oktober 2005 aufgefallen.
Im Rahmen einer persönlichen Befragung während des Verwaltungsverfahrens teilte der Kläger mit, er sei von September 1958 bis Februar 1960 als Maurer tätig gewesen und habe dabei keinen Umgang mit Teerstoffen gehabt. Von März 1960 bis Januar 1964 sei er in einem Glaswerk tätig gewesen. Seit dem 17. Februar 1964 habe er die maßgebliche Tätigkeit aufgenommen. Als Verlader habe er im Tanklager Kesselwagen mit Flüssigprodukten beladen. Dies seien vorwiegend Heizöl, Phenolleichtöl, Rohbenzol, Ammoniakwasser, Leichtöldestillat, Phenolsulfatextrakt, aber auch weitere Stoffe gewesen. Die Stoffe seien über ein Rohrleitungssystem in die Kesselwagen eingelassen worden. Mit der Hand seien die Pumpen eingelegt und wieder entfernt worden. Die Substanzen seien bei der Bedienung der Deckel der Wagen eingeatmet worden, die von Hand erfolgt sei. Er habe auch Kesselwagen vorwiegend von den Substanzen Butylacetat sowie Methanol entladen. Zu seinen Aufgaben habe schließlich die Reinigung von Kesselwagen vor dem Beladen gehört. Pro Tag seien etwa 30 Kesselwagen zu be- und entladen gewesen. Die Reinigung der Kesselwagen sei vorwiegend mit Besen und Schippe oder auch einer Hacke erfolgt, um Rückstände abzutragen. Später sei er als Vorarbeiter und Schichtleitervertretung tätig gewesen. Dabei habe er auch tägliche Reparaturarbeiten an den Maschinen und Rohrleitungen ausführen müssen, weiterhin Pumpen ausgewechselt und instand gesetzt. Er habe auch Proben aus den Rohrleitungen entnommen, um prüfen zu können, ob an den Rohrleitungen geschweißt werden durfte. Bei dieser bis 1996 ausgeführten Tätigkeit habe er täglich Dämpfe von Teerprodukten eingeatmet. Das Tanklager bestehe noch. Danach habe er bis zum Jahr 2000 Abwässer aus der Produktion aufbereitet. Dabei sei vorwiegend Ruß verarbeitet worden. Die Anlage habe er beim Zugeben einer Mischung öffnen müssen, die das Absetzen des Rußes bewirkt habe. Dabei habe er entstehende Dämpfe und Ruß eingeatmet. Bei der Mischung habe es sich um Praestol gehandelt. Auch beim Säubern der Schläuche habe direkter Kontakt mit Rußpartikeln bestanden.
Nach einer ärztlichen Bescheinigung über eine arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchung vom 12. Juli 1993 bestand unter dem Gesichtspunkt des Umgangs mit Benzol, Phenolen und Ölen kein Einwand gegen die Weiterbeschäftigung.
Die Beklagte zog weitere medizinische Unterlagen bei, wonach es sich bei der Krebserkrankung des Klägers um ein mikroinvasives, gering verhornendes und mäßig differenziertes Plattenepithelkarzinom der Stimmlippen handelte.
Nach einem Gefahrstofferfassungsbogen vom 30. Juni 1991 war der Kläger bei seiner Tätigkeit der Kontrolle über die Apparate, des Fahrens des Tanklagers und der Produktkontrolle seit dem 1. Juli 1976 gegenüber Benzol exponiert. Als Schutzmaßnahme war Atemschutz vorgesehen.
Nach einem Bericht der Berufsgenossenschaft der keramischen und Glasindustrie vom 3. August 2006 konnte für die von 1960 bis 1964 ausgeübte Tätigkeit im Glaswerk eine Exposition gegenüber Gefahrstoffen im Sinne der Berufskrankheit nach Nummer 4110, nämlich gegenüber Benzoapyren, nicht ermittelt werden. Aus einer weiteren arbeitstechnischen Stellungnahme vom 30. August 2006 geht hervor, dass während der Tätigkeit als Maurer ebenfalls kein Umgang mit Heißteer bestand. Benzoapyren-Jahre seien nicht angefallen. Für die Beklagte vermerkte der technische Aufsichtsbeamte unter dem 11. Oktober 2006, als Maschinist im Tanklager habe der Kläger ausschließlich an Flüssigprodukten gearbeitet. Den dabei entstehenden Dämpfen sei er permanent ausgesetzt gewesen. Eine Einwirkung von Kokereirohgasen könne indessen ausgeschlossen werden. In der seit 1996 ausgeübten Tätigkeit als Maschinist in der CO-Konvertierung sei er ebenfalls keinen Kokereirohgasen ausgesetzt gewesen.
Dementsprechend schlug die Gewerbeärztin in ihrer Stellungnahme vom 22. Januar 2007 vor, eine BK 4110 wegen der fehlenden arbeitstechnischen Voraussetzungen nicht anzuerkennen.
Mit Bescheid vom 23. Februar 2007 lehnte die Beklagte die Anerkennung einer Berufskrankheit nach Nr. 4110 der Berufskrankheiten-Liste ab. Auf damit im Zusammenhang stehende Leistungen bestehe kein Anspruch. Zur Begründung führte die Beklagte aus, nach den Feststellungen der zuständigen technischen Aufsichtsbeamten sei der Kläger in allen Beschäftigungsverhältnissen keiner Einwirkung von Kokereirohgasen "in relevantem Ausmaß" ausgesetzt gewesen.
Gegen den Bescheid legte der Kläger mit Eingangsdatum vom 15. März 2007 Widerspruch ein und bezog sich auf seine Angaben zum Umgang mit chemischen Stoffen aus dem Verwaltungsverfahren.
Mit Widerspruchsbescheid vom 28. November 2007 wies der Widerspruchsausschuss der Beklagten den Widerspruch zurück. Er verwies darauf, die geltend gemachte Berufskrankheit setze in arbeitstechnischer Hinsicht den Umgang mit Kokereirohgasen voraus. Nach den entsprechenden Merkblättern ergäben sich Gefährdungen für das am Ofenblock und in seiner unmittelbaren Umgebung eingesetzte Personal. Dazu gehörten bestimmte, aufgeführte Tätigkeiten, unter denen sich diejenige als Maschinist im Tanklager nicht befinde. Bereits der Umgang mit Flüssigprodukten schließe die Einwirkung von Kokereirohgasen aus. Auch der Umgang mit rußhaltigem Wasser in der CO-Konvertierung lasse keine Einwirkung von Kokereirohgasen zu. Der Widerspruchsbescheid ist dem Kläger auf dem Postweg zugestellt worden.
Mit der am 2. Januar 2008 beim Sozialgericht Dessau-Roßlau eingegangenen Klage hat der Kläger sein Anliegen weiterverfolgt.
Das Gericht hat mit Beweisanordnung vom 23. Juni 2008 ein Gutachten der Arbeitsmedizinerin Dr. B. von der Medizinischen Fakultät der Martin-Luther-Universität H. in Auftrag gegeben.
Die Sachverständige hat zunächst mit Datum vom 12. August 2008 um Nachermittlungen zur Exposition des Klägers gegenüber polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffen aus Teeröl, ggf. um Berechnung der Benzoapyren-Jahre, gebeten. Sie hat dazu mitgeteilt, im Betrieb Schwarze Pumpe seien aus Kohle mittels Kokerei verschiedenste Produkte hergestellt worden. Teeröl sei der bei der Verkokung anfallende Teer, der noch eine Reihe von Kohlenwasserstoffen enthalte, auch krebserzeugende im Sinne einer Berufskrankheit 4110. Solche dürften aus dem flüssigen Teerprodukt, das eine Temperatur von bis 80 Grad gehabt habe, mit Sicherheit ausgegast seien. Wegen der krebserzeugenden Wirkung sei die Verwendung von Teer in den letzten Jahren erheblich eingeschränkt worden.
Der technische Aufsichtsbeamte der Beklagten hat dazu mit Datum vom 9. Oktober 2008 seine Stellungnahme abgegeben, wegen deren Inhalt im Einzelnen auf Bl. 7 - 19 d. A. verwiesen wird. Im Wesentlichen hat er ausgeführt, der Kläger habe im Zeitraum von Februar 1964 bis Dezember 1994 als Verlader im Tanklager und Maschinist in der Gaserzeugung keinen Kontakt zu Teerölen gehabt. Bei Messungen von etwa 1990 bis 1994 seien polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe nur in kaum nachweisbaren Konzentrationen erfasst worden. Bei den Arbeiten habe aber eine Exposition gegenüber Benzol-, Toluol- und Xylol-Dämpfen bestanden.
In ihrem Gutachten vom 4. Februar 2009 ist die Sachverständige zu dem Ergebnis gelangt, eine BK 4110 komme beim Kläger nicht in Betracht, weil er nicht in einer Kokerei tätig und deshalb gegenüber Kokereirohgasen exponiert gewesen sei. Ein bei der Verkokung von Kohle anfallender Stoff, der noch eine Reihe von polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffen enthalten könne, sei Teeröl. Eine solche Exposition sei nunmehr durch die Berufskrankheit "Lungenkrebs durch polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe bei Nachweis einer kumulativen Dosis von mindestens 100 Benzoapyren-Jahren" erfasst.
Mit Urteil vom 13. Mai 2009 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es auf die nach seiner Auffassung zutreffende Darlegung der Beklagten verwiesen, die arbeitstechnischen Voraussetzungen lägen nicht vor.
Das Urteil ist dem Kläger am 20. Mai 2009 zugestellt worden; er hat dagegen am 16. Juni 2009 Berufung eingelegt. Das Gericht hat den hier vorliegenden Streitgegenstand mit Beschluss vom 27. April 2010 abgetrennt. Der Kläger verharrt bei seinem Vortrag, er sei bei den fraglichen Tätigkeiten mit verschiedensten chemischen Schadstoffen in Kontakt gekommen und bietet dazu Zeugenbeweis an. Die Konzentration und Zusammensetzung von Kokereirohgasen an den einzelnen Arbeitsplätzen sei Schwankungen unterworfen. Diese seien von der Art der Gase, Witterungseinflüssen und baulichen Bedingungen abhängig. Gemische von polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffen seien über einen näher dargestellten Zusammenhang wesentliche Ursache für Krebs der tieferen Atemwege und der Lungen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 13. Mai 2009 und den Bescheid der Beklagten vom 23. Februar 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. November 2007 aufzuheben, soweit mit diesen die Anerkennung einer Berufskrankheit nach Nr. 4110 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung abgelehnt worden ist und diese Berufskrankheit in Form einer Kehlkopfkrebserkrankung mit Wirkung vom 11. Januar 2006 festzustellen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie schließt sich dem Urteil des Sozialgerichts an und verweist darauf, eine Exposition gegenüber polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffen könne nicht belegt werden.
Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.
Bei der Entscheidung hat die Akte der Beklagten – Az.: – vorgelegen.
Entscheidungsgründe:
Die gem. § 143 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthafte Berufung hat keinen Erfolg.
Der Bescheid der Beklagten vom 23. Februar 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. November 2007 beschwert den Kläger nicht im Sinne von §§ 157, 54 Abs. 1 S. 2 SGG, weil er rechtmäßig ist.
Der Kläger hat nicht den Anspruch auf eine gem. § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG zu treffende Feststellung der geltend gemachten Berufskrankheit nach Nr. 4110 der Anl. 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV – in der Fassung der Änderung durch VO v. 11.6. 2009), weil eine solche Berufskrankheit beim Kläger nicht vorliegt. Denn der Kläger war vor Ausbruch seiner Erkrankung keinen Kokereirohgasen ausgesetzt, wie der Wortlaut der Vorschrift aber voraussetzt.
Schon dem Begriff der Kokereirohgase ist zu entnehmen, dass es sich um mehrere Gase handelt, die im Kokereiprozess anfallen und nicht weiter verarbeitet sind. Die weitere KIärung des Begriffs der Kokereirohgase ergibt sich aus Abschnitt I. des Merkblattes zur Berufskrankheit (in der Form der Bekanntmachung v. 11.10.1989, Bundesarbeitsblatt 2/90). Danach geht es um die Entwicklung verschiedener Gase im Prozess der Kohleerhitzung zur Kohleverkokung selbst. Mit der Gasentwicklung im Kohleverkokungsprozess oder Rückständen dieser Gase je in Berührung gekommen zu sein, behauptet der Kläger selbst nicht. Die spätere Ausgasung von – hier wohl flüssigen – Produkten, auch wenn sie möglicherweise als Verkokungsrückstände angefallen sein sollten, ist von dem Begriff nicht erfasst. Sie steht auch in einem allenfalls zufälligen Zusammenhang mit den Gefahrenmomenten durch die unter Hochtemperaturen entstehenden Gasgemische, deren Entstehung als Kokereirohgase das Merkblatt beschreibt.
In der Bezugnahme des Verordnungsgebers auf den Entstehungsort und prozess des Gefahrstoffs anstatt einer Benennung konkreter chemischer Wirkstoffe ist nämlich kein Zufall zu sehen. Sie ist Ausdruck der jetzt in § 9 Abs. 1 S. 2 des Siebten Buches des Sozialgesetzbuches geregelten Aufgabe des Verordnungsgebers, durch die Berufskrankheitentatbestände bestimmte Personengruppen zu erfassen, die bei ihrer Arbeit in erheblich höherem Maße als die übrige Bevölkerung besonderen Einwirkungen ausgesetzt sind. Diese Situation hat der Verordnungsgeber offensichtlich in der Einwirkung an den Kokereianlagen und nicht in Bezug auf bestimmte, benennbare Stoffe vorgefunden.
Insbesondere änderte es nicht den Tatbestand der Berufskrankheit, wenn unterdessen die polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffe als wesentliche Gefahrstoffe (auch) des Verkokungsprozesses ausgemacht worden sein sollten. Eine allgemeine Gefährdung durch diese Stoffe ist gleichwohl nicht Gegenstand dieses Berufskrankheitentatbestandes. Auch hat die Beklagte sie nicht anderweitig zum Gegenstand ihres angefochtenen Bescheides gemacht.
Die Kostenentscheidung folgt auch § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1, 2 SGG liegen nicht vor.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob eine Kehlkopfkrebserkrankung des Klägers eine Berufskrankheit nach Nummer 4110 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BK 4110) ist.
Die Funktionsvorgängerin der Beklagten – im Folgenden einheitlich Beklagte – erhielt eine unter dem 20. Februar 2006 erstellte ärztliche Berufskrankheitenanzeige von dem Facharzt für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde Dr. P ... Danach hielt dieser die genannte Berufskrankheit für möglich, weil der bereits nachgewiesene Kehlkopfkrebs beim Kläger durch Dämpfe von Heizöl, Teeröl, Phenolöl, Ammoniakwasser, Rohbenzol und anderes verursacht sein könne. Der Kläger habe zwischen 1964 und 2000 im Zusammenhang des früheren Kombinates "Schwarze Pumpe" zuletzt im Sekundärrohstoff-Verwertungszentrum Schwarze Pumpe gearbeitet. Dort sei er Maschinist im Tanklager und mit dem Be- und Entladen von Kesselwagen befasst gewesen. Erste Hinweise auf die Erkrankung in Form von Heiserkeit seien im Oktober 2005 aufgefallen.
Im Rahmen einer persönlichen Befragung während des Verwaltungsverfahrens teilte der Kläger mit, er sei von September 1958 bis Februar 1960 als Maurer tätig gewesen und habe dabei keinen Umgang mit Teerstoffen gehabt. Von März 1960 bis Januar 1964 sei er in einem Glaswerk tätig gewesen. Seit dem 17. Februar 1964 habe er die maßgebliche Tätigkeit aufgenommen. Als Verlader habe er im Tanklager Kesselwagen mit Flüssigprodukten beladen. Dies seien vorwiegend Heizöl, Phenolleichtöl, Rohbenzol, Ammoniakwasser, Leichtöldestillat, Phenolsulfatextrakt, aber auch weitere Stoffe gewesen. Die Stoffe seien über ein Rohrleitungssystem in die Kesselwagen eingelassen worden. Mit der Hand seien die Pumpen eingelegt und wieder entfernt worden. Die Substanzen seien bei der Bedienung der Deckel der Wagen eingeatmet worden, die von Hand erfolgt sei. Er habe auch Kesselwagen vorwiegend von den Substanzen Butylacetat sowie Methanol entladen. Zu seinen Aufgaben habe schließlich die Reinigung von Kesselwagen vor dem Beladen gehört. Pro Tag seien etwa 30 Kesselwagen zu be- und entladen gewesen. Die Reinigung der Kesselwagen sei vorwiegend mit Besen und Schippe oder auch einer Hacke erfolgt, um Rückstände abzutragen. Später sei er als Vorarbeiter und Schichtleitervertretung tätig gewesen. Dabei habe er auch tägliche Reparaturarbeiten an den Maschinen und Rohrleitungen ausführen müssen, weiterhin Pumpen ausgewechselt und instand gesetzt. Er habe auch Proben aus den Rohrleitungen entnommen, um prüfen zu können, ob an den Rohrleitungen geschweißt werden durfte. Bei dieser bis 1996 ausgeführten Tätigkeit habe er täglich Dämpfe von Teerprodukten eingeatmet. Das Tanklager bestehe noch. Danach habe er bis zum Jahr 2000 Abwässer aus der Produktion aufbereitet. Dabei sei vorwiegend Ruß verarbeitet worden. Die Anlage habe er beim Zugeben einer Mischung öffnen müssen, die das Absetzen des Rußes bewirkt habe. Dabei habe er entstehende Dämpfe und Ruß eingeatmet. Bei der Mischung habe es sich um Praestol gehandelt. Auch beim Säubern der Schläuche habe direkter Kontakt mit Rußpartikeln bestanden.
Nach einer ärztlichen Bescheinigung über eine arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchung vom 12. Juli 1993 bestand unter dem Gesichtspunkt des Umgangs mit Benzol, Phenolen und Ölen kein Einwand gegen die Weiterbeschäftigung.
Die Beklagte zog weitere medizinische Unterlagen bei, wonach es sich bei der Krebserkrankung des Klägers um ein mikroinvasives, gering verhornendes und mäßig differenziertes Plattenepithelkarzinom der Stimmlippen handelte.
Nach einem Gefahrstofferfassungsbogen vom 30. Juni 1991 war der Kläger bei seiner Tätigkeit der Kontrolle über die Apparate, des Fahrens des Tanklagers und der Produktkontrolle seit dem 1. Juli 1976 gegenüber Benzol exponiert. Als Schutzmaßnahme war Atemschutz vorgesehen.
Nach einem Bericht der Berufsgenossenschaft der keramischen und Glasindustrie vom 3. August 2006 konnte für die von 1960 bis 1964 ausgeübte Tätigkeit im Glaswerk eine Exposition gegenüber Gefahrstoffen im Sinne der Berufskrankheit nach Nummer 4110, nämlich gegenüber Benzoapyren, nicht ermittelt werden. Aus einer weiteren arbeitstechnischen Stellungnahme vom 30. August 2006 geht hervor, dass während der Tätigkeit als Maurer ebenfalls kein Umgang mit Heißteer bestand. Benzoapyren-Jahre seien nicht angefallen. Für die Beklagte vermerkte der technische Aufsichtsbeamte unter dem 11. Oktober 2006, als Maschinist im Tanklager habe der Kläger ausschließlich an Flüssigprodukten gearbeitet. Den dabei entstehenden Dämpfen sei er permanent ausgesetzt gewesen. Eine Einwirkung von Kokereirohgasen könne indessen ausgeschlossen werden. In der seit 1996 ausgeübten Tätigkeit als Maschinist in der CO-Konvertierung sei er ebenfalls keinen Kokereirohgasen ausgesetzt gewesen.
Dementsprechend schlug die Gewerbeärztin in ihrer Stellungnahme vom 22. Januar 2007 vor, eine BK 4110 wegen der fehlenden arbeitstechnischen Voraussetzungen nicht anzuerkennen.
Mit Bescheid vom 23. Februar 2007 lehnte die Beklagte die Anerkennung einer Berufskrankheit nach Nr. 4110 der Berufskrankheiten-Liste ab. Auf damit im Zusammenhang stehende Leistungen bestehe kein Anspruch. Zur Begründung führte die Beklagte aus, nach den Feststellungen der zuständigen technischen Aufsichtsbeamten sei der Kläger in allen Beschäftigungsverhältnissen keiner Einwirkung von Kokereirohgasen "in relevantem Ausmaß" ausgesetzt gewesen.
Gegen den Bescheid legte der Kläger mit Eingangsdatum vom 15. März 2007 Widerspruch ein und bezog sich auf seine Angaben zum Umgang mit chemischen Stoffen aus dem Verwaltungsverfahren.
Mit Widerspruchsbescheid vom 28. November 2007 wies der Widerspruchsausschuss der Beklagten den Widerspruch zurück. Er verwies darauf, die geltend gemachte Berufskrankheit setze in arbeitstechnischer Hinsicht den Umgang mit Kokereirohgasen voraus. Nach den entsprechenden Merkblättern ergäben sich Gefährdungen für das am Ofenblock und in seiner unmittelbaren Umgebung eingesetzte Personal. Dazu gehörten bestimmte, aufgeführte Tätigkeiten, unter denen sich diejenige als Maschinist im Tanklager nicht befinde. Bereits der Umgang mit Flüssigprodukten schließe die Einwirkung von Kokereirohgasen aus. Auch der Umgang mit rußhaltigem Wasser in der CO-Konvertierung lasse keine Einwirkung von Kokereirohgasen zu. Der Widerspruchsbescheid ist dem Kläger auf dem Postweg zugestellt worden.
Mit der am 2. Januar 2008 beim Sozialgericht Dessau-Roßlau eingegangenen Klage hat der Kläger sein Anliegen weiterverfolgt.
Das Gericht hat mit Beweisanordnung vom 23. Juni 2008 ein Gutachten der Arbeitsmedizinerin Dr. B. von der Medizinischen Fakultät der Martin-Luther-Universität H. in Auftrag gegeben.
Die Sachverständige hat zunächst mit Datum vom 12. August 2008 um Nachermittlungen zur Exposition des Klägers gegenüber polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffen aus Teeröl, ggf. um Berechnung der Benzoapyren-Jahre, gebeten. Sie hat dazu mitgeteilt, im Betrieb Schwarze Pumpe seien aus Kohle mittels Kokerei verschiedenste Produkte hergestellt worden. Teeröl sei der bei der Verkokung anfallende Teer, der noch eine Reihe von Kohlenwasserstoffen enthalte, auch krebserzeugende im Sinne einer Berufskrankheit 4110. Solche dürften aus dem flüssigen Teerprodukt, das eine Temperatur von bis 80 Grad gehabt habe, mit Sicherheit ausgegast seien. Wegen der krebserzeugenden Wirkung sei die Verwendung von Teer in den letzten Jahren erheblich eingeschränkt worden.
Der technische Aufsichtsbeamte der Beklagten hat dazu mit Datum vom 9. Oktober 2008 seine Stellungnahme abgegeben, wegen deren Inhalt im Einzelnen auf Bl. 7 - 19 d. A. verwiesen wird. Im Wesentlichen hat er ausgeführt, der Kläger habe im Zeitraum von Februar 1964 bis Dezember 1994 als Verlader im Tanklager und Maschinist in der Gaserzeugung keinen Kontakt zu Teerölen gehabt. Bei Messungen von etwa 1990 bis 1994 seien polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe nur in kaum nachweisbaren Konzentrationen erfasst worden. Bei den Arbeiten habe aber eine Exposition gegenüber Benzol-, Toluol- und Xylol-Dämpfen bestanden.
In ihrem Gutachten vom 4. Februar 2009 ist die Sachverständige zu dem Ergebnis gelangt, eine BK 4110 komme beim Kläger nicht in Betracht, weil er nicht in einer Kokerei tätig und deshalb gegenüber Kokereirohgasen exponiert gewesen sei. Ein bei der Verkokung von Kohle anfallender Stoff, der noch eine Reihe von polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffen enthalten könne, sei Teeröl. Eine solche Exposition sei nunmehr durch die Berufskrankheit "Lungenkrebs durch polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe bei Nachweis einer kumulativen Dosis von mindestens 100 Benzoapyren-Jahren" erfasst.
Mit Urteil vom 13. Mai 2009 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es auf die nach seiner Auffassung zutreffende Darlegung der Beklagten verwiesen, die arbeitstechnischen Voraussetzungen lägen nicht vor.
Das Urteil ist dem Kläger am 20. Mai 2009 zugestellt worden; er hat dagegen am 16. Juni 2009 Berufung eingelegt. Das Gericht hat den hier vorliegenden Streitgegenstand mit Beschluss vom 27. April 2010 abgetrennt. Der Kläger verharrt bei seinem Vortrag, er sei bei den fraglichen Tätigkeiten mit verschiedensten chemischen Schadstoffen in Kontakt gekommen und bietet dazu Zeugenbeweis an. Die Konzentration und Zusammensetzung von Kokereirohgasen an den einzelnen Arbeitsplätzen sei Schwankungen unterworfen. Diese seien von der Art der Gase, Witterungseinflüssen und baulichen Bedingungen abhängig. Gemische von polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffen seien über einen näher dargestellten Zusammenhang wesentliche Ursache für Krebs der tieferen Atemwege und der Lungen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 13. Mai 2009 und den Bescheid der Beklagten vom 23. Februar 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. November 2007 aufzuheben, soweit mit diesen die Anerkennung einer Berufskrankheit nach Nr. 4110 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung abgelehnt worden ist und diese Berufskrankheit in Form einer Kehlkopfkrebserkrankung mit Wirkung vom 11. Januar 2006 festzustellen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie schließt sich dem Urteil des Sozialgerichts an und verweist darauf, eine Exposition gegenüber polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffen könne nicht belegt werden.
Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.
Bei der Entscheidung hat die Akte der Beklagten – Az.: – vorgelegen.
Entscheidungsgründe:
Die gem. § 143 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthafte Berufung hat keinen Erfolg.
Der Bescheid der Beklagten vom 23. Februar 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. November 2007 beschwert den Kläger nicht im Sinne von §§ 157, 54 Abs. 1 S. 2 SGG, weil er rechtmäßig ist.
Der Kläger hat nicht den Anspruch auf eine gem. § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG zu treffende Feststellung der geltend gemachten Berufskrankheit nach Nr. 4110 der Anl. 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV – in der Fassung der Änderung durch VO v. 11.6. 2009), weil eine solche Berufskrankheit beim Kläger nicht vorliegt. Denn der Kläger war vor Ausbruch seiner Erkrankung keinen Kokereirohgasen ausgesetzt, wie der Wortlaut der Vorschrift aber voraussetzt.
Schon dem Begriff der Kokereirohgase ist zu entnehmen, dass es sich um mehrere Gase handelt, die im Kokereiprozess anfallen und nicht weiter verarbeitet sind. Die weitere KIärung des Begriffs der Kokereirohgase ergibt sich aus Abschnitt I. des Merkblattes zur Berufskrankheit (in der Form der Bekanntmachung v. 11.10.1989, Bundesarbeitsblatt 2/90). Danach geht es um die Entwicklung verschiedener Gase im Prozess der Kohleerhitzung zur Kohleverkokung selbst. Mit der Gasentwicklung im Kohleverkokungsprozess oder Rückständen dieser Gase je in Berührung gekommen zu sein, behauptet der Kläger selbst nicht. Die spätere Ausgasung von – hier wohl flüssigen – Produkten, auch wenn sie möglicherweise als Verkokungsrückstände angefallen sein sollten, ist von dem Begriff nicht erfasst. Sie steht auch in einem allenfalls zufälligen Zusammenhang mit den Gefahrenmomenten durch die unter Hochtemperaturen entstehenden Gasgemische, deren Entstehung als Kokereirohgase das Merkblatt beschreibt.
In der Bezugnahme des Verordnungsgebers auf den Entstehungsort und prozess des Gefahrstoffs anstatt einer Benennung konkreter chemischer Wirkstoffe ist nämlich kein Zufall zu sehen. Sie ist Ausdruck der jetzt in § 9 Abs. 1 S. 2 des Siebten Buches des Sozialgesetzbuches geregelten Aufgabe des Verordnungsgebers, durch die Berufskrankheitentatbestände bestimmte Personengruppen zu erfassen, die bei ihrer Arbeit in erheblich höherem Maße als die übrige Bevölkerung besonderen Einwirkungen ausgesetzt sind. Diese Situation hat der Verordnungsgeber offensichtlich in der Einwirkung an den Kokereianlagen und nicht in Bezug auf bestimmte, benennbare Stoffe vorgefunden.
Insbesondere änderte es nicht den Tatbestand der Berufskrankheit, wenn unterdessen die polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffe als wesentliche Gefahrstoffe (auch) des Verkokungsprozesses ausgemacht worden sein sollten. Eine allgemeine Gefährdung durch diese Stoffe ist gleichwohl nicht Gegenstand dieses Berufskrankheitentatbestandes. Auch hat die Beklagte sie nicht anderweitig zum Gegenstand ihres angefochtenen Bescheides gemacht.
Die Kostenentscheidung folgt auch § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1, 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
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