S 112 KR 766/09

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
112
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 112 KR 766/09
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist ein Anspruch auf Versorgung mit einer individuell gefertigten Unterkieferprotrusionsschiene (UKPS). Dabei handelt es sich um ein im Ober- und Unterkiefer zahnärztlich angepasstes, einstellbares Schienensystem zur Behandlung von schlafbezogenen Atmungsstörungen (SBAS), durch das Unterkiefer, Zunge und weitere Strukturen nach vorne verlagert werden, um die Atemwege im Schlaf mechanisch offen zu halten. Die Produktart orofaciale Gebißschienen war 2005 auf der Grundlage eines Grundsatzgutachtens des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen e. V. (MDS) ersatzlos aus dem Hilfsmittelverzeichnis (HMV) gestrichen worden.

Die 1963 geborene Klägerin ist bei der Beklagten krankenversichert. Sie leidet an einer SBAS mit vorübergehendem Atemstillstand durch totale Verlegung der oberen Luftwege (obstruktive Schlafapnoe - OSA).

Im Rahmen einer dreitägigen stationären Betreuung im Schlafmedizinischen Zentrum der C (16. bis 18. Juni 2008) wurde die Klägerin über Therapiemöglichkeiten bei OSA informiert. Empfohlen wurde die Anpassung einer UKPS. Auf die übrigen Angaben im Entlassungsbericht vom 19. Juni 2008 wird verwiesen. Im Juli 2008 beantragte die Klägerin unter Beifügung eines Heil- und Kostenplans des Fachzahnarztes für Kieferorthopädie W die Übernahme der Kosten für die Anfertigung einer UKPS. Die Beklagte lehnte den Antrag mit der Begründung ab, Gebissschienen gehörten nicht mehr zum Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung (Bescheid vom 22. Juli 2008).

Die Klägerin widersprach: Die gesetzlichen Voraussetzungen für die begehrte Versorgung seien in ihrem Fall allesamt erfüllt. Die Streichung aus dem Hilfsmittelverzeichnis stehe dem Anspruch nicht entgegen. Die Beklagte wies den Rechtsbehelf durch Widerspruchsbescheid vom 7. April 2009 zurück. Sie dürfe die Kosten für die Protrusionstherapie nicht übernehmen, weil der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) für diese Methode noch keine Empfehlung ausgesprochen habe. Der medizinische Nutzen der UKPS sei nicht nachgewiesen. Als etablierte Behandlungsmöglichkeit stehe ein Schlaf-Apnoe-Gerät zur Verfügung.

Mit der Klage begehrt die Klägerin, sie mit einer UKPS als Sachleistung zu versorgen. Der schlafmedizinisch besonders kompetente behandelnde Arzt Dr. B habe nach gründlicher Untersuchung nur eine leichte Schlafstörung diagnostiziert. Seine Diagnose stimme mit ihrer Selbsteinschätzung absolut überein. Diese leichte Form der Schlafstörung sei besonders gut mit der UKPS zu behandeln. Die Protrusionstherapie greife weniger massiv in die Lebensqualität ein als das Tragen der Nasenmaske bei der Behandlung durch nasale kontinuierliche Positivdruckatmung (nCPAP). Der vom Gerichtsgutachter ohne jegliche Untersuchung angenommene Schweregrad der Schlafstörung sei nicht nachvollziehbar. Der Apnoe-Hypopnoe-Index (AHI) habe noch im März 2008 bei lediglich 6.0/Stunde gelegen. Ggf. müsse zur abschließenden Klärung des Schweregrades eine erneute Untersuchung durchgeführt werden

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 22. Juli 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. April 2009 zu verurteilen, sie (die Klägerin) mit einer UKPS zu versorgen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie nimmt auf die Begründung des Widerspruchsbescheides Bezug. Eine vom MDS im Mai 2008 abgenommene Methodenbewertung habe ergeben, dass die Therapie der OSA durch nCPAP einer Therapie mit UKPS in jeder Konstellation überlegen ist. Der erhobene Anspruch sei auch weder unter dem Gesichtspunkt des Systemversagens noch nach Maßgabe einer grundrechtsorientierten Auslegung des Leistungsrechts gegeben.

Das Gericht hat Befundberichte beim Schlafmediziner Dr. B , beim Kieferorthopäden W und bei der Hausärztin, M -F , eingeholt, auf die verwiesen wird. Mit Beweisanordnung vom 29. April 2010 hat es den Chefarzt der Klinik für Innere Medizin der Kliniken B M und Leiter des dortigen Schlafmedizinischen Zentrums, Prof. Dr. D , zum Sachverständigen ernannt. Auf dessen nach Aktenlage erstelltes Gutachten vom 31. Mai 2010 wird ebenfalls verwiesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Beteiligtenvorbringens und zur Ergänzung des Sachverhalts wird schließlich Bezug genommen auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und der die Klägerin betreffenden Verwaltungsakte der Beklagten, die vorgelegen hat und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist unbegründet.

Die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Versorgung mit einer UKPS.

Rechtsgrundlage des erhobenen Anspruchs ist § 33 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch – Gesetzliche Krankenversicherung – (SGB V) in der ab 1. April 2007 geltenden Fassung von Art. 1 Nr. 17 Buchst. a des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes vom 26. März 2007 (BGBl. I, S. 378). Danach haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, wenn sie nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder durch Rechtsverordnung nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen und im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen. Die Grundvoraussetzungen des Versorgungsanspruchs sind erfüllt: Bei der UKPS handelt es sich unzweifelhaft um ein Hilfsmittel und nicht um einen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens. In der Rechtsverordnung nach § 34 Abs. 4 Satz 1 SGB V ist sie nicht als ein Hilfsmittel bestimmt worden, dessen Kosten die Krankenkasse nicht übernimmt. Die UKPS dient der Behandlung von SBAS und damit dem von § 33 Abs. 1 Satz 1 Regelung 1 SGB V vorausgesetzten Zweck der Sicherung des Erfolges einer Krankenbehandlung.

Die UKPS zur Therapie der OSA ist gleichwohl kein von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) umfasstes Hilfsmittel. Denn es fehlt an einem positiven Votum des G-BA zum therapeutischen Nutzen dieses Nicht-Beatmungsverfahrens.

In der GKV ist der Anspruch auf Krankenbehandlung nach den allgemeinen Bestimmungen der §§ 2 Abs. 1 Satz 3, 12 Abs. 1 SGB V auf solche Leistungen beschränkt, die nach Maßgabe des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse die Gewähr für Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit bieten. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) muss es dazu "grundsätzlich zuverlässige wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen in dem Sinne geben, dass der Erfolg der Behandlungsmethode in einer für die sichere Beurteilung ausreichenden Anzahl von Behandlungsfällen belegt ist (vgl. zuletzt BSGE 93, 1 f = SozR 4-2500 § 31 Nr. 1, jeweils RdNr 7 m. w. N.). Diese Feststellung obliegt im Bereich ärztlicher Behandlungen grundsätzlich dem G-BA im Verfahren nach § 135 Abs. 1 SGB V. Hiernach ist eine Therapie bei neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden nur dann von der Leistungspflicht der GKV umfasst, wenn der G-BA in Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 SGB V bereits eine positive Empfehlung über den diagnostischen und therapeutischen Nutzen der Methode und die notwendige Qualifikation der Ärzte sowie die dabei zu beachtenden apparativen Anforderungen abgegeben hat (ständige Rechtsprechung; vgl. BSGE 81, 54, 59 ff = SozR 3-2500 § 135 Nr. 4, S. 14 ff; BSGE 86, 54, 56 = SozR 3-2500 § 135 Nr. 14, S. 61 f m. w. N.; BSG SozR 3-2500 § 92 Nr. 12, S. 69; BSG SozR 4-2500 § 135 Nr. 1, RdNr 7; BSGE 94, 221 = SozR 4-2400 § 89 Nr. 3, jeweils RdNr 23 m. w. N.) Voraussetzung dafür ist der Beleg von Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit der Behandlungsmethoden anhand sog. randomisierter, doppelblind durchgeführter und placebokontrollierter Studien" (BSG, Urteil vom 12. August 2009 – B 3 KR 10/07 R = SozR 4-2500 § 139 Nr. 4, RdNr. 17 = BSGE 104, 95 ff.). Die Sperrwirkung des in § 135 Abs. 1 Satz 1 SGB V begründeten Leistungsverbots mit Erlaubnisvorbehalt erfasst jegliche Maßnahme im Rahmen einer bei einem bestimmten Krankheitsbild systematisch angewandten Methode. Im Bereich der Hilfsmittel betrifft dies diejenigen, die im Rahmen der Krankenbehandlung nach § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 Regelung 4 SGB V eingesetzt werden und deren Erfolg sichern sollen (BSG, a. a. O., RdNr. 18).

Letzteres trifft – abweichend von dem mit Richterbrief vom 20. Oktober 2009 gegebenen Hinweis – auf die UKPS zu. Bei der Schienentherapie handelt es sich um eine bei SBAS systematisch angewandte Methode (vgl. das Positionspapier der Deutschen Gesellschaft Zahnärztliche Schlafmedizin (DGZS) e. V. vom 1. September 2006 mit Leitlinien-Empfehlungen). Sie wird bei OSA eingesetzt, um deren Verschlimmerung zu verhüten und Krankheitsbeschwerden zu lindern.

Hiervon ausgehend ist die Therapie der OSA durch UKPS keine nach den Kriterien von Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit vom G-BA in die Leistungspflicht der GKV einbezogene Behandlungsmethode, weil eine positive Empfehlung des G-BA über den therapeutischen Nutzen der Methode nicht vorliegt.

Der therapeutische Nutzens des Hilfsmittels ist nicht dadurch nachgewiesen, dass das HMV bis 2005 die Produktart orofaciale Gebißschienen enthielt. Die Eintragung im HMV ersetzt bei Hilfsmitteln, die der Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung dienen, nicht die Bewertung der Behandlungsmethode durch den G-BA (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 16. Juni 2010 – L 5 KR 4929/07 = juris, RdNr. 50 ff.).

Die Beklagte hat die Klägerin auch nicht ausnahmsweise ohne positive Empfehlung des G-BA mit einer UKPS zu versorgen. In der Rechtsprechung des BSG ist anerkannt, dass die Sperrwirkung einer fehlenden positiven Empfehlung des G-BA unter besonders gelagerten Voraussetzungen unbeachtlich sein kann (vgl. zusammenfassend nochmals BSG, Urteil vom 12. August 2009 – B 3 KR 10/07 R = SozR 4-2500 § 139 Nr. 4, RdNr. 20). Das kann jedoch nur in Betracht gezogen werden bei einer im Sinne der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 6. Dezember 2005 (BVerfGE 115, 25 = SozR 4-2500 § 27 Nr. 5) notstandsähnlichen (Krankheits-)Situation mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Krankheit oder einer zumindest wertungsmäßig damit vergleichbaren Erkrankung (vgl. BSGE 96, 153 = SozR 4-2500 § 27 Nr. 7 - jeweils RdNr. 31; BSG SozR 4-2500 § 31 Nr. 8, RdNr. 17; BSG SozR 4-2500 § 27 Nr. 10, RdNr. 34), für die eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht. Eine Leistungspflicht ohne G-BA-Votum kommt ferner in Betracht bei einem sog. Seltenheitsfall, der sich einer systematischen Erforschung entzieht (vgl. etwa BSGE 93, 236 = SozR 4-2500 § 27 Nr. 1 m. w. N; BSGE 100, 104 = SozR 4-2500 § 31 Nr. 9 - jeweils RdNr. 30) und schließlich für den Fall, dass der G-BA dem in § 135 Abs. 1 SGB V vorausgesetzten Auftrag nicht gerecht geworden ist, selbst für eine Aktualisierung der Richtlinien Sorge zu tragen (vgl. BSGE 97, 190 = SozR 4-2500 § 27 Nr. 12 - jeweils RdNr. 17 ff m. w. N.). Keine dieser Fallgruppen ist vorliegend gegeben: Bei der Klägerin liegt schon keine notstandsähnliche Krankheitssituation vor. Zudem steht mit der nCPAP eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung zur Verfügung. Die OSA ist keine seltene, sondern eine häufige Erkrankung des Erwachsenenalters. Eine rechtswidrige Verfahrensverzögerung durch den G-BA kann nicht festgestellt werden, zumal ein Verfahren beim G-BA zur Einbeziehung der in Rede stehenden Methode bisher nicht eingeleitet worden ist.

Da der erhobene Sachleistungsanspruch aus Rechtsgründen nicht besteht brauchte der Sachverhalt in medizinischer Hinsicht nicht weiter aufgeklärt werden. Die Klägerin wird jedoch darauf hingewiesen, dass nach dem Positionspapier der DGZS die Verwendung von Protrusionsschienen als initiale Therapie nur bei einem AHI bis ca. 25/Stunde empfohlen wird. Nach dem Ergebnis der polysomnographischen Untersuchung im Sommer 2008 lag der AHI bei 30,5/Stunde, in Rückenlage sogar bei 54,4/Stunde. Unter Berücksichtigung auch der damaligen klinischen Symptomatik ist die Einschätzung des Gerichtsgutachters schlüssig, dass von einer schweren Form einer Atemregulationsstörung auszugehen ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Die Berufung ist im Hinblick auf die vom Kieferorthopäden geschätzten Gesamtkosten von 1.017,38 EUR nach § 143 SGG unbeschränkt statthaft.
Rechtskraft
Aus
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