L 11 AS 931/11 B PKH

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
11
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 17 AS 1340/11 ER
Datum
-
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 11 AS 931/11 B PKH
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
wegen Prozesskostenhilfe
Bei einer vorläufigen Leistungsbewilligung müssen die tatsächlich bekannten Tatsachen berücksichtigt werden.
Auf die Beschwerde wird der Beschluss des Sozialgerichts Nürnberg vom 02.11.2011 aufgehoben. Der Klägerin wird für das Verfahren vor dem SG Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung bewilligt und Rechtsanwalt N., A-Stadt, beigeordnet.



Gründe:


I.
Streitig ist die Höhe der vorläufig zu erbringenden Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes (Arbeitslosengeld II - Alg II -) nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Zeit ab 06.10.2011 im Rahmen eines einstweiligen Rechtsschutzverfahrens.
Nach der Kündigung des Arbeitsverhältnisses vom 05.08.2011 zum 15.09.2011 (Freistellung ab 15.08.2011) beantragte die Antragstellerin (ASt) unter Vorlage der Kündigung Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes am 15.08.2011. Mit Schreiben vom 19.08.2011 und erneut vom 19.09.2011 forderte der Antragsgegner (Ag) die Ast u.a. auf,
Lohnabrechnungen für August bis spätestens 20.09.2011 und für September bis spätestens 20.10.2011 sowie das Kündigungsschreiben vorzulegen.
Mit Bescheid vom 05.09.2011 bewilligte der Ag Alg II für die Zeit 01.08.2011 bis 31.01.2012 vorläufig unter Anrechnung von Einkommen aus der gekündigten Tätigkeit entsprechend des im August ausgezahlten Verdienstes aus Juli 2011 sowie eines weiteren Einkommens aus einer Putztätigkeit in Höhe von 110,00 EUR monatlich. Die Leistungen seien vorläufig zu bewilligen und die Verdienstabrechnungen ab August 2011 seien vorzulegen. Diese vorläufige Leistungsbewilligung hob der Antragsgegner mit Änderungsbescheid vom 19.09.2011 in Höhe von 8,00 EUR monatlich wegen veränderter Leistungen für die Heizkosten teilweise auf. Gegen diese teilweise Aufhebung legte die ASt am 06.10.2011 Widerspruch ein und begehrte Leistungen ab Oktober 2011 ohne Anrechnung des Einkommen aus der gekündigten Tätigkeit.
Nach Vorlage der Lohnabrechnung für August 2011 vom 13.09.2011 am 04.10.2011 und Hinweis der ASt "September keine Lohnabrechnung" auf dem erneut übersandten Kündigungsschreiben bewilligte der Ag mit Bescheid vom 12.10.2011 vorläufig Leistungen ab 01.10.2011 bis 31.01.2012 lediglich unter Anrechnung von ungefähr der Hälfte des Einkommens für September 2011 aus der gekündigten Tätigkeit, das im Oktober zufließen werde, und eines weiteren Einkommens in Höhe von 110,00 EUR monatlich aus der Putztätigkeit. Mit Bescheid vom 21.10.2011 bewilligt der Ag die Leistungen für Oktober 2011 endgültig nach Vorlage der Lohnabrechnung für September 2011 und half damit seiner Auffassung nach den Widerspruch gegen den Bescheid vom 19.09.2011 in vollem Umfange ab (Schreiben vom 14.11.2011).
Bereits am 06.10.2011 hat die ASt einstweiligen Rechtschutz beim Sozialgericht Nürnberg (SG) dahingehend begehrt, dass ab Zugang des Antrages Alg II unter Zugrundelegung der tatsächlichen Verhältnisse in gesetzlicher Höhe zumindest vorläufig zu bewilligen sei. Einkommen aus der gekündigten Tätigkeit - das Kündigungsschreiben sei dem Ag bereits am 15.08.2011 vorgelegt worden - sei nicht mehr in Höhe von 1.222,46 EUR anzurechnen. Zudem hat die ASt die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das einstweilige Rechtsschutzverfahren begehrt. Nach Erlass des vorläufigen Bewilligungsbescheides vom 12.10.2011 hat die ASt den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung für erledigt erklärt.
Mit Beschluss vom 02.11.2011 hat das SG den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt. Bereits bei Antragstellung habe kein Rechtsschutzbedürfnis für den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung vorgelegen. Die ASt hätte sich zunächst an den Ag wenden müssen. Widerspruch gegen die vorläufige Leistungsbewilligung habe sie nicht eingelegt.
Dagegen hat die ASt Beschwerde zum Bayer. Landessozialgericht eingelegt. Sie habe Widerspruch gegen den Bescheid vom 19.09.2011 erhoben. Die Kündigung zum 15.09.2011 sei dem Ag bekannt gewesen. Mit Bescheid vom 12.10.2011 habe der Ag auch ohne Vorlage der Lohnabrechnung für September die Berücksichtigung von Einkommen vorläufig korrigiert.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die beigezogene Akte der Beklagten sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.

II.
Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde (§§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) ist zulässig und auch begründet. Der Beschluss des SG ist aufzuheben und der ASt ist für das Verfahren vor dem SG Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung zu bewilligen.
Aus verfassungsrechtlichen Gründen dürfen die Anforderungen an die Erfolgsaussicht nicht überspannt werden. Es reicht für die Prüfung der Erfolgsaussicht aus, dass der Erfolg eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich hat (vgl. BSG, Urteil vom 17.02.1998 - B 13 RJ 83/97 R (Rn.26) - SozR 3-1500 § 62 Nr.19). Diese gewisse Wahrscheinlichkeit (vgl. Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl. § 73a Rn.7) ist in aller Regel dann anzunehmen, wenn das Gericht den Rechtsstandpunkt des Beteiligten aufgrund der Sachverhaltsschilderung und der vorgelegten Unterlagen für zutreffend oder zumindest für vertretbar hält und in tatsächlicher Hinsicht die Möglichkeit des Obsiegens des PKH- Beantragenden ebenso wahrscheinlich ist wie sein Unterliegen. Schwierige, bislang ungeklärte Rechts- und Tatfragen sind nicht im PKH-Verfahren zu entscheiden, sondern müssen auch von Unbemittelten einer prozessualen Klärung zugeführt werden können (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14.07.1993 - 1 BvR 1523/92 (Rn.21) - NJW 1994, 241f). PKH muss jedoch nicht schon dann gewährt werden, wenn die entscheidungserhebliche Rechtsfrage zwar noch nicht höchstrichterlich geklärt ist, ihre Beantwortung aber im Hinblick auf die einschlägige gesetzliche Regelung oder die durch die bereits vorliegende Rechtsprechung gewährten Auslegungshilfen nicht in dem genannten Sinne als "schwierig" erscheint (vgl. BVerfG, Beschluss vom 13.03.1990 - 2 BvR 94/88 (Rn. 29) - BVerfGE 81, 347ff). Ist dies dagegen nicht der Fall und steht eine höchstrichterliche Klärung noch aus, so ist es mit dem Gebot der Rechtsschutzgleichheit nicht zu vereinbaren, der unbemittelten Partei wegen der fehlenden Erfolgsaussichten ihres Begehrens Prozesskostenhilfe vorzuenthalten (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19.02.2008 - 1 BvR 1807/07 (Rn. 23) - NJW 2008, 1060ff).

Maßgeblicher Zeitpunkt für die Prüfung der Erfolgsaussicht ist der Zeitpunkt der Entscheidung durch das Gericht. Ein früherer Zeitpunkt kommt allenfalls dann in Betracht, wenn sich die Entscheidung über den Antrag verzögert hat und eine Änderung zum Nachteil der ASt eingetreten ist (vgl. Leitherer: in Meyer-Ladewig/ Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl., § 73a Rn 7d; vgl. dazu auch Beschluss des Senats vom 30.10.2008 - L 11 B 741/08 AS PKH). Vorliegend hat das SG erst nach Abschluss des Verfahrens entschieden. Die Entscheidung im Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe war jedoch zu einem früheren Zeitpunkt, nämlich bei Vorlage der Akten durch den Ag am 19.10.2011 bereits möglich gewesen. Mit dem Erlass des Bescheides vom 12.10.2011 ist eine Veränderung in der Sach- und Rechtslage zu Ungunsten der ASt eingetreten. Es ist daher auf den Zeitpunkt der frühestmöglichen Entscheidung des SG über Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe abzustellen. Ob am 19.10.2011 der Bescheid vom 12.10.2011 bereits erlassen und der ASt bekannt gegeben worden ist - eine Bekanntgabe an den Bevollmächtigten musste, auch wenn er im Rahmen des Widerspruchsverfahrens bereits Vollmacht vorgelegt haben sollte, nicht erfolgen (§ 37 Abs 1 Satz 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - SGB X) - ,war und ist nicht bekannt. Ein Vermerk über eine Aufgabe dieses Bescheides zur Post findet sich nicht. Eine tatsächliche Bekanntgabe (allerdings an den Bevollmächtigten) kann erst aufgrund des gerichtlichen Schreibens des SG vom 21.10.2011 nachgewiesen werden. Im Zeitpunkt der frühestmöglichen Entscheidung des SG über den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe war damit nicht nachgewiesen, dass der Bescheid vom 12.10.2011 bereits erlassen bzw. bekannt gegeben worden war. Damit aber ist - auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass der Ag nach Widerspruchseinlegung und Stellung des Antrages auf einstweiligen Rechtsschutz erst noch weitere Ermittlungen vornahm (vgl. Anschreiben an das SG vom 10.10.2011 und deshalb nicht Vorlage der Akten) - zu diesem Zeitpunkt eine hinreichende Erfolgsaussicht anzunehmen gewesen, denn der Ag ist - obwohl die Kündigung ihm bereits seit 15.08.2011 vorlag - im Rahmen der vorläufigen Leistungsbewilligung nicht darauf eingegangen, dass die ASt im Oktober nur noch das Gehalt beziehen werde, das ihr bis 15.09.2011 zusteht. Der Ag hatte daher mit Bescheid vom 05.09.2011 berücksichtigen können und müssen, dass - wie er es im Bescheid vom 12.10.2011 dann auch getan hat, ohne dass die Abrechnung für September vorgelegen hätte - nur etwa die Hälfte des monatlichen Einkommens und ab November nur das Einkommen aus Putztätigkeit zu berücksichtigen sei. Dabei ist auch zu beachten, dass für die Zeit ab November 2011 ein Anlass für eine vorläufige Regelung gemäß § 40 Abs 1 Nr 1a SGB II iVm § 328 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) nicht bestand.

Aufgrund der Vielzahl der bis zur Stellung des Antrages auf einstweiligen Rechtsschutz vom Ag erlassenen (vorläufigen) Bewilligungsbescheide und Aufforderungen zur Mitwirkung (u.a. erneute Vorlage des Kündigungsschreibens) war nicht zu erwarten, dass der Ag auf eine bloße Anfrage oder einen Hinweis umgehend reagieren werde. Das Rechtschutzbedürfnis im Zeitpunkt der frühestmöglichen Entscheidung des SG über den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe war daher nicht zu verneinen gewesen, denn zur Prüfung von Anordnungsanspruch und vor allem Anordnungsgrund hätten weitere Ermittlungen erfolgen müssen bzw. die begehrte Anordnung hätte zumindest teilweise erfolgen müssen, nachdem existenzsichernde Leistungen streitig waren, die der ASt im Oktober und auch November nur teilweise zur Verfügung stehen sollten und auf die sie - wie sich aus dem Bescheid vom 21.10.2011 ergibt - zumindest für Oktober 2011 einen Rechtsanspruch hatte.

Nach alledem war auf die Beschwerde hin der Beschluss des SG aufzuheben und der Klägerin Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung zu bewilligen. Die persönlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung lagen vor.

Dieser Beschluss ergeht kostenfrei und ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
Saved