Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
Abteilung
71
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 71 KA 161/11
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Bescheid des Beklagten vom 30. November 2010, ausgefertigt am 18. Februar 2011, wird aufgehoben. Der Beklagte wird verpflichtet, gegen den Beigeladenen eine Ersatzverpflichtung in Höhe von 6.990,82 Euro wegen der Verordnung von Tilidin plus und Trancopal Dolo Kapseln für die Versicherte K in den Quartalen II/2007 bis II/2008 festzusetzen. Die Gerichtskosten des Verfahrens und die außergerichtlichen Kosten der Klägerin werden dem Beklagten und dem Beigeladenen je zur Hälfte als Gesamtschuldner auferlegt. Im Übrigen tragen die Beteiligten ihre Kosten selbst.
Tatbestand:
Streitig zwischen den Beteiligten ist eine Verpflichtung des beklagten Beschwerdeausschusses zur Festsetzung eines Einzelverordnungs-Regresses.
Der Beigeladene ist Allgemeinmediziner und zur vertragsärztlichen Versorgung in B zugelassen. Seiner bei der Klägerin versicherten Patientin R K verordnete er in den Quartalen II/2007 bis II/2008 die Präparate Tilidin plus Tropfen und Trancopal Dolo Kaps. Der Umfang der Verordnungen der beiden vorgenannten Präparate zugunsten der Versicherten K stellte sich in den streitgegenständlichen Quartalen wie folgt dar:
Quartal Verordnung Packungen Tilidin plus (à 100 ml) Verordnung Packungen Trancopal Dolo Kapseln (à 50 Stück) II/2007 31 19 III/2007 31 16 IV/2007 59 25 I/2008 50 11 II/2008 56 27
Tilidin-ratiopharm-Plus besitzt gemäß Fachinformation die arzneimittelrechtliche Zulassung zur Behandlung von starken und sehr starken Schmerzen. Die durchschnittliche Tageshöchstdosis für Erwachsene beträgt 400 mg Tilidin-Hydrochlorid und 32 mg Naloxon-Hydrochlorid. Zur Art und Dauer der Anwendung heißt es in der Fachinformation: "Grundsätzlich sollte die kleinste analgetisch wirksame Dosis gewählt werden. Bei der Therapie chronischer Schmerzen ist der Dosierung nach einem festen Zeitplan der Vorzug zu geben. Die empfohlene Tagesdosis kann dabei auf bis zu 600 mg Tilidinhydrochlorid gesteigert werden."
Trancopal Dolo Kaps besitzt gemäß Fachinformation die arzneimittelrechtliche Zulassung zur Behandlung von akuten und chronischen Schmerzen wie schmerzhafte Muskelverspannungen der Halte- und Bewegungsmuskulatur, Spannungskopfschmerzen, Tumorschmerzen, Dysmenorrhoe und Schmerzen nach traumatologischen/orthopädischen Operationen und Verletzungen. Eine Tagesdosis von 600 mg Flupirtinmaleat (entsprechend 6 Hartkapseln) solle nicht überschritten werden. Zur Dauer der Anwendung heißt es, diese werde individuell nach ärztlicher Verordnung festgelegt.
Vor dem Hintergrund dieser Verordnungen beantragte die Klägerin für die betreffenden Quartale den Ersatz der zu viel verordneten Verpackungen, den sie – unter Berücksichtigung der jeweiligen Tagesmaximaldosis – wie folgt errechnete:
Quartal Verordnung Packungen Tilidin plus (à 100 ml) über der jeweiligen Tagesmaximaldosis Verordnung Packungen Trancopal Dolo Kapseln (à 50 Stück) über der jeweiligen Tagesmaximaldosis II/2007 23 8 III/2007 23 5 IV/2007 52 15 I/2008 42 2 II/2008 48 16
Zu den Prüfanträgen der Klägerin angehört, äußerte sich der Beigeladene dahingehend, dass sich die Verordnungen der beiden Präparate für die Versicherte R K durch folgende Besonderheiten erklärten: die Versicherte werde durch ihn insbesondere wegen eines chronischen Schmerzsyndroms hausärztlich betreut. Der mitbehandelnde Schmerztherapeut Dr. P habe schmerzmedizinisch keine weitere Therapiekorrektur angeraten und vorgenommen. Zu einer Vorstellung beim sozialpsychiatrischen Dienst sei es nicht gekommen, da die Patientin am 18. August 2009 im Alter von 56 Jahren zu Hause verstorben sei. Die Patientin sei nur durch Hausbesuche betreut worden. Er habe die Therapie mit den genannten Medikamenten wegen der schweren Schmerzsituation weiterführen müssen, da andere Schmerzmedikamente von der Patientin nicht vertragen worden seien. Auf neu verordnete Medikamente habe die Versicherte mit schwerer Übelkeit, Magenschmerzen, Schwindelgefühl und anhaltendem Erbrechen reagiert. Aufgrund dieser Situation habe er jedes Mal wieder zu der schmerzlindernden Medikation Tilidin-ratiopharm-Plus und Trancopal Dolo Kaps zurückkehren müssen. Ferner habe die Klägerin in ihren Berechnungen nicht das erhebliche Übergewicht der Versicherten berücksichtigt.
Die Prüfungsstelle wies alle Anträge auf Festsetzung von Maßnahmen mit Bescheiden vom 25. September 2009 gemäß §§ 24, 26 der Prüfvereinbarung vom 14. Februar 2008 zurück. Aufgrund der in diesem speziellen Einzelfall vorliegenden Situation könne sie die Argumentation des Arztes bezüglich der Verordnungen von Tilidin plus-Tropfen und Trancopal Dolo Kapseln für die Patientin K nachvollziehen.
Hiergegen legte die Klägerin jeweils Widerspruch ein. Auch unter Berücksichtigung der durch den Beigeladenen beschriebenen vielfältigen Erkrankungsbilder und des überdurchschnittlichen Gewichts der Patientin rechtfertige sich kein Abweichen von der laut Fachinformation zulässigen Maximaldosierung. Dosisanpassungen an ein bestimmtes Körpergewicht seien in der Zulassung nicht beschrieben. Zulassungsüberschreitende Verordnungen seien nur in begründeten Fällen eines sogenannten Off-Label-Use von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung umfasst.
Die Widersprüche der Klägerin zu den Beschlüssen der Prüfungsstelle bezüglich der Quartale II/2007 bis II/2008 verband der Beklagte durch Beschluss vom 30. November 2010 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung miteinander und wies sie zurück (Ausfertigung des Beschlusses am 18. Februar 2011). Den vorliegenden Verordnungen sei zu entnehmen, dass die Patientin R K an schweren Grunderkrankungen sowie an einem chronischen Schmerzsyndrom gelitten habe. Aufgrund ihres Übergewichtes sei es ihr seit Jahren nicht mehr möglich gewesen, die Wohnung zu verlassen. Auch mit Hilfe von Krankenpflegern des Krankentransportes sei es nicht möglich gewesen, die Patientin aus ihrer Wohnung zu transportieren, so dass ein bestehender Termin bei einem Schmerztherapeuten nicht habe eingehalten werden können. Bei den vom Hausarzt in Hausbesuchen neu verordneten Medikamenten habe die Patientin mit schwerer Übelkeit, Magenschmerzen, Schwindelgefühl und anhaltendem Erbrechen reagiert. Der mitbehandelnde Schmerztherapeut, Dr. P , habe schmerzmedizinisch keine weitere Therapiekorrektur angeraten und vorgenommen. Zu der Vorstellung beim sozialpsychiatrischen Dienst sei es wegen des zwischenzeitlichen Todes der Versicherten nicht mehr gekommen. Die in der Fachinformation angegebene Dosierungsanweisung beziehe sich auf den Durchschnittspatienten und sei aufgrund der Schwere der Erkrankung anzupassen gewesen. Die Entscheidungsgründe des Beigeladenen könnten nachvollzogen werden; die Verordnungen von Tilidin plus Tropfen und Trancopal Dolo Kaps seien gerechtfertigt.
Hiergegen erhob die Klägerin am 21. März 2011 Klage vor dem Sozialgericht Berlin. Die Tageshöchstdosen für beide Medikamente seien in einem extremen Maß überschritten worden. Mit der Klage werde die Differenz zur maximalen Tageshöchstdosis gemäß der arzneimittelrechtlichen Zulassung geltend gemacht. Diese belaufe sich im Quartal II/2007 auf 994,56 Euro, im Quartal III/2007 auf 927,95 Euro, im Quartal IV/2007 auf 2.137,19 Euro, im Quartal I/2008 auf 1.067,12 Euro und im Quartal II/2008 auf 1.864,00 Euro. Die Verordnungen seien zulassungsüberschreitend und somit im Off-Label-Use erfolgt. Dabei seien die vom Bundessozialgericht für einen begründeten Off-Label-Use aufgestellten drei maßgeblichen Kriterien nicht erfüllt worden. Auch ein Seltenheitsfall sei nicht zu erkennen. Eine Änderung der Dosierung infolge eines Bemühens um ein Ausschleichen aus der übermäßigen und gesundheitsschädlichen Dosis etwa in Form einer Psychotherapie – ggf. im Hausbesuch – sei nicht erfolgt. Ein Hinweis der Zulassungsbehörde auf die Notwendigkeit der Anpassung an das Körpergewicht bei Erwachsenen und Jugendlichen ab 14 Jahren sei nicht gegeben, so dass das tatsächliche Gewicht therapeutisch irrelevant sei. Auch die Leitlinien der WHO zur Behandlung chronischer Schmerzzustände ließen keinen Rückschluss darauf zu, dass auf Grund des Körpergewichts die Notwendigkeit einer höheren Dosierung der Schmerzmedikamente bestehen würde.
Die Klägerin beantragt, den Bescheid des Beklagten vom 30. November 2010, ausgefertigt am 18. Februar 2011, aufzuheben und
die Beklagte zu verpflichten, gegen den Beigeladenen eine Ersatzverpflichtung in Höhe von 6.990, 82 Euro wegen der Verordnung von Tilidin plus und Trancopal Dolo Kapseln für die Versicherte K in den Quartalen II/2007 bis II/2008 festzusetzen.
Der Beklagte und der Beigeladene beantragen jeweils,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung bezieht sich der Beklagte im Wesentlichen auf seine Ausführungen in dem angefochtenen Bescheid. Ergänzend führt er aus, bei der Versicherten K habe es sich um eine schwergewichtige, multimorbide Patientin mit schwerem chronischen Schmerzsyndrom bei generalisierter hochgradiger Arthrose im Bereich der Halswirbelsäule, Brustwirbelsäule und Lendenwirbelsäule bei hochgradiger beidseitiger Gonarthrose, chronischen Lymphödemen und Lipödemen beider Beine sowie bestehender Herzinsuffizienz gehandelt. Dementsprechend habe der Beigeladene die Schmerztherapie diesen Verhältnissen anpassen müssen, um dem Schweregrad der Erkrankungen – Intensität der Schmerzen – gerecht zu werden. Dies sei bei der Dosierung zu berücksichtigen gewesen. Üblicherweise würden Dosisfindungsstudien für Arzneimittel nicht an übergewichtigen Probanden durchgeführt, sondern vielmehr an Personen, deren Gewicht im Mittel bei 75 kg liegt. Eine Patientin, die 130 kg wiege, habe ein ganz anderes Verteilungsvolumen als eine normalgewichtige Person. Aufgrund des hohen Verteilungsvolumens versacke eine normale Schmerzdosis im Körper, ohne in nennenswerter Menge an den Schmerzrezeptoren anzudocken und somit zur Linderung der Schmerzen zu führen. Korrekturen und Einstellungen auf andere Medikamente seien nicht toleriert worden.
Der Beigeladene führt aus, die versicherte Patientin sei nicht nur multimorbid, sondern auch stark übergewichtig und nicht transportfähig gewesen. Aufgrund der starken Übergewichtigkeit hätten zur Schmerztherapie im Vergleich zu "Normalpatienten" erheblich höhere Dosierungen eingesetzt werden müssen.
Die Gerichts- und Verwaltungsakten haben in der mündlichen Verhandlung vorgelegen und waren Gegenstand der Entscheidung. Wegen weiterer Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten sowie des übrigen Inhalts wird auf sie Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig und auch begründet. Der angegriffene Bescheid des Beklagten, der alleiniger Gegenstand der vorliegenden Klage ist, weil er den Bescheid der Prüfungsstelle ersetzt hat (ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, vgl. zum Beispiel BSG, SozR 3 – 2500 § 106 Nr. 22; Leitherer in: Meyer-Ladewig, SGG, 9. Auflage 2008, § 95, Rn. 2b), ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat gegen den Beklagten einen Anspruch auf Festsetzung eines Regresses zu Lasten des Beigeladenen in der beantragten Höhe.
Rechtsgrundlage des Arzneikostenregresses ist § 106 Absatz 2 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V). Nach dieser Vorschrift wird die Wirtschaftlichkeit der Versorgung unter anderem durch arztbezogene Prüfungen ärztlicher und ärztlich verordneter Leistungen entweder nach Durchschnittswerten (Nr. 1) und/oder nach Stichproben (Nr. 2) geprüft. Über diese Prüfungsarten hinaus können die Landesverbände der Krankenkassen mit den Kassenärztlichen Vereinigungen gemäß § 106 Absatz 2 Satz 4 SGB V andere arztbezogene Prüfungsarten vereinbaren. Die Prüfvereinbarungen ermächtigen regelmäßig zu Einzelfallprüfungen. Diese sind auch in § 26 der hier einschlägigen Prüfvereinbarung vom 14. Februar 2008 (veröffentlicht im KV-Blatt 03/08) vorgesehen. Die Befugnis, den Prüfungsumfang nach Maßgabe der genannten Prüfmethoden zu beschränken - so zum Beispiel eine Einzelleistungs- oder eine Einzelfallprüfung durchzuführen -, findet ihre Berechtigung darin, dass jeder Vertragsarzt verpflichtet ist, sich umfassend wirtschaftlich zu verhalten, das heißt nicht nur insgesamt, sondern auch in jedem Teilbereich seiner Tätigkeit und bei jeder einzelnen Leistung entsprechend dem Wirtschaftlichkeitsgebot zu handeln (vgl. BSGE 71, 194, 199, 201 = SozR 3-2500 § 106 Nr. 15 S 91, 93; BSG SozR 3-2500 § 106 Nr. 42 S. 232 f; SozR 4-2500 § 106 Nr. 3 Rn. 9).
Gemäß § 24 der Prüfvereinbarung vom 14. Februar 2008 entscheidet die Prüfungsstelle auf Antrag einer Krankenkasse oder eines Verbandes über die Festsetzung eines Verordnungsregresses, wenn der Vertragsarzt Leistungen verordnet hat, für die keine Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung besteht. Dies gilt gemäß § 24 Ziffer 1b der Prüfvereinbarung insbesondere für die unzulässige Verordnung von Arzneimitteln außerhalb der Zulassungsindikation dieser Arzneimittel (Off-Label-Use).
Zu der Zulassung nach dem Arzneimittelgesetz (AMG) gehört auch die Vorgabe der Dosierung (§ 22 Absatz 1 Nr. 10, § 29 Absatz 1 in Verbindung mit Absatz 2a Nr. 1 AMG, vgl. auch die Erwähnung der Pflicht zur Anzeige von Veränderungen der Dosierung in BSGE 89, 184, 187 = SozR 3-2500 § 31 Nr. 8 S. 31 f.). Der Einsatz eines Arzneimittels abweichend von dem Inhalt der Zulassung stellt einen Off-Label-Use dar. Welche Kriterien für einen ausnahmsweise rechtmäßigen Off-Label-Use gelten, hat das BSG in seiner Rechtsprechung wiederholt dargelegt. Nach seiner ständigen Rechtsprechung (seit dem Urteil vom 19. März 2002, BSGE 89,184) kann ein zugelassenes Arzneimittel grundsätzlich nicht zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung in einem Anwendungsgebiet verordnet werden, auf das sich die Zulassung nicht erstreckt. Davon kann ausnahmsweise abgewichen werden, wenn es um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, keine andere Therapie verfügbar ist und auf Grund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann.
Die Voraussetzungen eines Off-Label-Use wurden weder durch den Beklagten, noch durch den Beigeladenen auch nur im Ansatz dargelegt und sind zudem nicht ersichtlich.
Eine Leistungspflicht der Klägerin kommt auch nicht unter Berücksichtigung des Verfassungsrechts (vgl. BVerfGE 115, 25) in Betracht. Zwar folgt aus Artikel 2 Absatz 1 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip regelmäßig kein verfassungsmäßiger Anspruch auf bestimmte Leistungen der Krankenbehandlung. Es bedarf jedoch dann einer grundrechtsorientierten Auslegung der maßgeblichen Vorschriften des Krankenversicherungsrechts, wenn eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende oder wertungsmäßig damit vergleichbare Erkrankung vorliegt, bei der die Anwendung der üblichen Standardbehandlung aus medizinischen Gründen ausscheidet und andere Behandlungsmöglichkeiten nicht zur Verfügung stehen (BVerfGE 115, 25; BSG, Urteil vom 27. März 2007, Az. B 1 KR 17/06 R, veröffentlicht in Juris). Damit hat das BVerfG strengere Voraussetzungen umschrieben, als sie im Rahmen des Off-label-use formuliert sind. Gerechtfertigt ist eine verfassungskonforme Auslegung der einschlägigen gesetzlichen Regelungen daher nur, wenn eine notstandsähnliche Situation im Sinne einer in einem gewissen Zeitdruck zum Ausdruck kommenden Problematik vorliegt, bei der nach den konkreten Umständen des Falles bereits drohen muss, dass sich der voraussichtlich tödliche Krankheitsverlauf innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums mit großer Wahrscheinlichkeit verwirklichen wird. Ähnliches kann für den ggf. gleichzustellenden, akut drohenden und nicht kompensierbaren Verlust eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion gelten (BSG a.a.O.).
Vorliegend ist in keiner Weise ersichtlich und im Übrigen auch nicht vorgetragen, dass aus den mit den beiden Medikamenten Tilidin plus und Trancopal Dolo Kapseln ein für die Versicherte K lebensbedrohlicher Zustand resultierte, für den keine andere Behandlungsmöglichkeit als diejenige einer (deutlichen) Überdosierung dieser beiden Medikamente bestand. Die Versicherte ist zwar im Jahr 2009 verstorben, litt jedoch an zahlreichen und schweren Grunderkrankungen. Zu deren Behandlung sollten die beiden vorgenannten Medikamente nicht eingesetzt werden. Ihr Einsatz erfolgte lediglich zur Dämpfung der vorhandenen Schmerzzustände.
Somit kommt eine Rechtfertigung der erfolgten Überdosierungen von Tilidin plus und Trancopal Dolo Kapseln weder unter dem Gesichtspunkt des Off-Label-Use, noch unter demjenigen der notstandsähnlichen Lage in Betracht.
Soweit in der Rechtsprechung des 6. Senats des Bundessozialgerichts eine Rechtfertigung einer Dosierung, die über die Therapieempfehlungen der Roten Liste und der Fachinformation weit hinaus geht, ausnahmsweise für den Fall erwogen wird, dass es für die Abweichung eine medizinische Rechtfertigung gibt - was etwa aufgrund von Besonderheiten im zugrunde liegenden Behandlungsfall denkbar sein könne – (vgl. hierzu Beschluss des BSG vom 3. November 2010, Az. B 6 KA 35/10 B, Juris; Urteil des BSG vom 27. Juni 2007 Az. B 6 KA 44/06 R, Juris), führt auch dies zu keiner abweichenden Beurteilung. Zwar sieht der Beklagte in Anbetracht des oben aufgeführten Vortrags des Beigeladenen eine solche rechtfertigende Ausnahme hier gegeben. Die genannten Umstände reichen jedoch nach Auffassung der Kammer nicht aus, um einen Verordnungsumfang zu rechtfertigen, der die Dosierungsempfehlungen – wie hier - um ein Vielfaches – bis zum 7-fachen - übersteigt. Grundsätzlich ist bei höherer Dosierung kein zusätzlicher therapeutischer Nutzen zu erwarten. Die in der Fachinformation angegebene Höchstdosis schließt grundsätzlich bereits nicht regelrecht vorkommende Behandlungsfallkonstellationen ein. Die Fachinformationen zu den beiden streitgegenständlichen Arzneimitteln enthalten auch keinen Hinweis darauf, dass eine Überdosierung im Falle erheblichen Übergewichts des Patienten in Betracht kommen könnte. Jedenfalls lässt sich auch unter diesem Gesichtspunkt eine Dosierung des Vielfachen der maximalen Tageshöchstdosis über ein langes Zeitintervall von mehr als einem Jahr hinweg nicht rechtfertigen. Überdies kann eine höhere Dosierung sogar kontraindiziert sein, weil die Wahrscheinlichkeit des Auftretens auch schwerwiegender Nebenwirkungen erhöht wird. Vor diesem Hintergrund wäre zu prüfen gewesen, ob eine Verordnung anderer Schmerzmedikamente aus der Gruppe der Morphine in Betracht kommt. Nach der im Jahr 1986 durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) veröffentlichten und von der Klägerin zu den Akten gereichten Empfehlung zur Behandlung von Schmerzen kommen Medikamente der Stufe III – worunter Morphine fallen – dann zum Einsatz, wenn Opioid-haltige Schmerzmittel (zum Beispiel Tilidin und Tramadol) nicht mehr ausreichen, die Schmerzen zu lindern. Unter Berücksichtigung der Empfehlungen der WHO darf eine fortwährende Erhöhung bzw. Verkürzung der Zeitintervalle von Dosierungen in der Schmerztherapie nicht stattfinden; vielmehr sollten Medikamente der nächsten Stufe zum Einsatz kommen, um eine ausreichende Schmerzreduktion zu erreichen.
Eine Ersatzverpflichtung des Beigeladenen ist in der beantragten Höhe festzusetzen. Der Betrag von 6.990,82 Euro setzt sich zusammen aus einer Forderung für das Quartal II/2007 in Höhe von 994,56 Euro, einer solchen für das Quartal III/2007 von 927,95 Euro, einer solchen für das Quartal IV/2007 von 2.137,19 Euro, einer solchen für das Quartal I/2008 von 1.067,12 Euro und einer solchen für das Quartal II/2008 von 1.864,00 Euro. Die Berechnungen orientieren sich an den Verordnungen von Packungen der beiden Medikamente Tilidin plus und Trancopal Dolo Kapseln, die über die jeweilige Tageshöchstdosis hinausgehen. Apothekenrabatte und Patienteneigenanteile wurden von der Klägerin in Abzug gebracht. Zweifel an der Richtigkeit der Berechnungen der Klägerin ergeben sich für die Kammer nicht und werden auch von dem Beklagten und/oder dem Beigeladenen nicht geltend gemacht.
Bei Verordnungsregressen der hier vorliegenden Art ist auch kein Raum für eine Ermessensausübung. Bei Regressen, denen unzulässige Verordnungen zugrunde liegen, wie dies beim Fehlen der Arzneimittelzulassung des verordneten Medikaments, bei einem unzulässigen Off-Label-Use, bei Verordnung entgegen einem AMRL-Verordnungsausschluss oder bei Unvereinbarkeit einer Verordnung mit den Vorgaben des § 135 Abs 1 SGB V der Fall ist, kann eine Unwirtschaftlichkeit nur bejaht oder verneint werden (sogenannter Basismangel, vgl. dazu BSG SozR 4-2500 § 106 Nr. 21 und BSG MedR 2010, 276, jeweils Rn. 29). Mit dem Regress lediglich einen Teil der Unwirtschaftlichkeit abzuschöpfen, kann nur in anders gelagerten Fällen in Betracht kommen, zum Beispiel im Rahmen eines Regresses aufgrund einer sogenannten Durchschnittsprüfung bei insgesamt deutlich höherem Verordnungsvolumen als im Durchschnitt der Arztgruppe und/oder bei einer Anfängerpraxis, eventuell auch bei der Belassung von Restüberschreitungen (vgl. hierzu BSG SozR 4-1500 § 141 Nr. 1 Rn. 30 am Ende; vgl. weiterhin BSG SozR 4-2500 § 106 Nr. 21 und BSG MedR 2010, 276, jeweils Rn. 29). Dementsprechend ist in Fällen wie dem vorliegenden die Höhe des Regresses dahingehend vorgezeichnet, dass vom Arzt Ersatz der vollen Kosten zu fordern ist. Raum für eine Regressermäßigung aufgrund einer Ermessensentscheidung besteht nicht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Sozialgerichtsgesetz (SGG) in Verbindung mit §§ 154 Absatz 1, 159 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) sowie § 100 Zivilprozessordnung (ZPO). Die Kammer erachtet es für sachgerecht, die Kosten des Verfahrens dem unterliegenden Beklagten und dem gleichfalls unterliegenden Beigeladenen je zur Hälfte aufzuerlegen. Unterliegen diese beiden Beteiligten gleichermaßen, ist es ebenfalls sachgerecht, ihnen gegen den jeweils anderen keinen Kostenerstattungsanspruch im Hinblick auf die außergerichtlichen Kosten zuzubilligen.
Tatbestand:
Streitig zwischen den Beteiligten ist eine Verpflichtung des beklagten Beschwerdeausschusses zur Festsetzung eines Einzelverordnungs-Regresses.
Der Beigeladene ist Allgemeinmediziner und zur vertragsärztlichen Versorgung in B zugelassen. Seiner bei der Klägerin versicherten Patientin R K verordnete er in den Quartalen II/2007 bis II/2008 die Präparate Tilidin plus Tropfen und Trancopal Dolo Kaps. Der Umfang der Verordnungen der beiden vorgenannten Präparate zugunsten der Versicherten K stellte sich in den streitgegenständlichen Quartalen wie folgt dar:
Quartal Verordnung Packungen Tilidin plus (à 100 ml) Verordnung Packungen Trancopal Dolo Kapseln (à 50 Stück) II/2007 31 19 III/2007 31 16 IV/2007 59 25 I/2008 50 11 II/2008 56 27
Tilidin-ratiopharm-Plus besitzt gemäß Fachinformation die arzneimittelrechtliche Zulassung zur Behandlung von starken und sehr starken Schmerzen. Die durchschnittliche Tageshöchstdosis für Erwachsene beträgt 400 mg Tilidin-Hydrochlorid und 32 mg Naloxon-Hydrochlorid. Zur Art und Dauer der Anwendung heißt es in der Fachinformation: "Grundsätzlich sollte die kleinste analgetisch wirksame Dosis gewählt werden. Bei der Therapie chronischer Schmerzen ist der Dosierung nach einem festen Zeitplan der Vorzug zu geben. Die empfohlene Tagesdosis kann dabei auf bis zu 600 mg Tilidinhydrochlorid gesteigert werden."
Trancopal Dolo Kaps besitzt gemäß Fachinformation die arzneimittelrechtliche Zulassung zur Behandlung von akuten und chronischen Schmerzen wie schmerzhafte Muskelverspannungen der Halte- und Bewegungsmuskulatur, Spannungskopfschmerzen, Tumorschmerzen, Dysmenorrhoe und Schmerzen nach traumatologischen/orthopädischen Operationen und Verletzungen. Eine Tagesdosis von 600 mg Flupirtinmaleat (entsprechend 6 Hartkapseln) solle nicht überschritten werden. Zur Dauer der Anwendung heißt es, diese werde individuell nach ärztlicher Verordnung festgelegt.
Vor dem Hintergrund dieser Verordnungen beantragte die Klägerin für die betreffenden Quartale den Ersatz der zu viel verordneten Verpackungen, den sie – unter Berücksichtigung der jeweiligen Tagesmaximaldosis – wie folgt errechnete:
Quartal Verordnung Packungen Tilidin plus (à 100 ml) über der jeweiligen Tagesmaximaldosis Verordnung Packungen Trancopal Dolo Kapseln (à 50 Stück) über der jeweiligen Tagesmaximaldosis II/2007 23 8 III/2007 23 5 IV/2007 52 15 I/2008 42 2 II/2008 48 16
Zu den Prüfanträgen der Klägerin angehört, äußerte sich der Beigeladene dahingehend, dass sich die Verordnungen der beiden Präparate für die Versicherte R K durch folgende Besonderheiten erklärten: die Versicherte werde durch ihn insbesondere wegen eines chronischen Schmerzsyndroms hausärztlich betreut. Der mitbehandelnde Schmerztherapeut Dr. P habe schmerzmedizinisch keine weitere Therapiekorrektur angeraten und vorgenommen. Zu einer Vorstellung beim sozialpsychiatrischen Dienst sei es nicht gekommen, da die Patientin am 18. August 2009 im Alter von 56 Jahren zu Hause verstorben sei. Die Patientin sei nur durch Hausbesuche betreut worden. Er habe die Therapie mit den genannten Medikamenten wegen der schweren Schmerzsituation weiterführen müssen, da andere Schmerzmedikamente von der Patientin nicht vertragen worden seien. Auf neu verordnete Medikamente habe die Versicherte mit schwerer Übelkeit, Magenschmerzen, Schwindelgefühl und anhaltendem Erbrechen reagiert. Aufgrund dieser Situation habe er jedes Mal wieder zu der schmerzlindernden Medikation Tilidin-ratiopharm-Plus und Trancopal Dolo Kaps zurückkehren müssen. Ferner habe die Klägerin in ihren Berechnungen nicht das erhebliche Übergewicht der Versicherten berücksichtigt.
Die Prüfungsstelle wies alle Anträge auf Festsetzung von Maßnahmen mit Bescheiden vom 25. September 2009 gemäß §§ 24, 26 der Prüfvereinbarung vom 14. Februar 2008 zurück. Aufgrund der in diesem speziellen Einzelfall vorliegenden Situation könne sie die Argumentation des Arztes bezüglich der Verordnungen von Tilidin plus-Tropfen und Trancopal Dolo Kapseln für die Patientin K nachvollziehen.
Hiergegen legte die Klägerin jeweils Widerspruch ein. Auch unter Berücksichtigung der durch den Beigeladenen beschriebenen vielfältigen Erkrankungsbilder und des überdurchschnittlichen Gewichts der Patientin rechtfertige sich kein Abweichen von der laut Fachinformation zulässigen Maximaldosierung. Dosisanpassungen an ein bestimmtes Körpergewicht seien in der Zulassung nicht beschrieben. Zulassungsüberschreitende Verordnungen seien nur in begründeten Fällen eines sogenannten Off-Label-Use von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung umfasst.
Die Widersprüche der Klägerin zu den Beschlüssen der Prüfungsstelle bezüglich der Quartale II/2007 bis II/2008 verband der Beklagte durch Beschluss vom 30. November 2010 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung miteinander und wies sie zurück (Ausfertigung des Beschlusses am 18. Februar 2011). Den vorliegenden Verordnungen sei zu entnehmen, dass die Patientin R K an schweren Grunderkrankungen sowie an einem chronischen Schmerzsyndrom gelitten habe. Aufgrund ihres Übergewichtes sei es ihr seit Jahren nicht mehr möglich gewesen, die Wohnung zu verlassen. Auch mit Hilfe von Krankenpflegern des Krankentransportes sei es nicht möglich gewesen, die Patientin aus ihrer Wohnung zu transportieren, so dass ein bestehender Termin bei einem Schmerztherapeuten nicht habe eingehalten werden können. Bei den vom Hausarzt in Hausbesuchen neu verordneten Medikamenten habe die Patientin mit schwerer Übelkeit, Magenschmerzen, Schwindelgefühl und anhaltendem Erbrechen reagiert. Der mitbehandelnde Schmerztherapeut, Dr. P , habe schmerzmedizinisch keine weitere Therapiekorrektur angeraten und vorgenommen. Zu der Vorstellung beim sozialpsychiatrischen Dienst sei es wegen des zwischenzeitlichen Todes der Versicherten nicht mehr gekommen. Die in der Fachinformation angegebene Dosierungsanweisung beziehe sich auf den Durchschnittspatienten und sei aufgrund der Schwere der Erkrankung anzupassen gewesen. Die Entscheidungsgründe des Beigeladenen könnten nachvollzogen werden; die Verordnungen von Tilidin plus Tropfen und Trancopal Dolo Kaps seien gerechtfertigt.
Hiergegen erhob die Klägerin am 21. März 2011 Klage vor dem Sozialgericht Berlin. Die Tageshöchstdosen für beide Medikamente seien in einem extremen Maß überschritten worden. Mit der Klage werde die Differenz zur maximalen Tageshöchstdosis gemäß der arzneimittelrechtlichen Zulassung geltend gemacht. Diese belaufe sich im Quartal II/2007 auf 994,56 Euro, im Quartal III/2007 auf 927,95 Euro, im Quartal IV/2007 auf 2.137,19 Euro, im Quartal I/2008 auf 1.067,12 Euro und im Quartal II/2008 auf 1.864,00 Euro. Die Verordnungen seien zulassungsüberschreitend und somit im Off-Label-Use erfolgt. Dabei seien die vom Bundessozialgericht für einen begründeten Off-Label-Use aufgestellten drei maßgeblichen Kriterien nicht erfüllt worden. Auch ein Seltenheitsfall sei nicht zu erkennen. Eine Änderung der Dosierung infolge eines Bemühens um ein Ausschleichen aus der übermäßigen und gesundheitsschädlichen Dosis etwa in Form einer Psychotherapie – ggf. im Hausbesuch – sei nicht erfolgt. Ein Hinweis der Zulassungsbehörde auf die Notwendigkeit der Anpassung an das Körpergewicht bei Erwachsenen und Jugendlichen ab 14 Jahren sei nicht gegeben, so dass das tatsächliche Gewicht therapeutisch irrelevant sei. Auch die Leitlinien der WHO zur Behandlung chronischer Schmerzzustände ließen keinen Rückschluss darauf zu, dass auf Grund des Körpergewichts die Notwendigkeit einer höheren Dosierung der Schmerzmedikamente bestehen würde.
Die Klägerin beantragt, den Bescheid des Beklagten vom 30. November 2010, ausgefertigt am 18. Februar 2011, aufzuheben und
die Beklagte zu verpflichten, gegen den Beigeladenen eine Ersatzverpflichtung in Höhe von 6.990, 82 Euro wegen der Verordnung von Tilidin plus und Trancopal Dolo Kapseln für die Versicherte K in den Quartalen II/2007 bis II/2008 festzusetzen.
Der Beklagte und der Beigeladene beantragen jeweils,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung bezieht sich der Beklagte im Wesentlichen auf seine Ausführungen in dem angefochtenen Bescheid. Ergänzend führt er aus, bei der Versicherten K habe es sich um eine schwergewichtige, multimorbide Patientin mit schwerem chronischen Schmerzsyndrom bei generalisierter hochgradiger Arthrose im Bereich der Halswirbelsäule, Brustwirbelsäule und Lendenwirbelsäule bei hochgradiger beidseitiger Gonarthrose, chronischen Lymphödemen und Lipödemen beider Beine sowie bestehender Herzinsuffizienz gehandelt. Dementsprechend habe der Beigeladene die Schmerztherapie diesen Verhältnissen anpassen müssen, um dem Schweregrad der Erkrankungen – Intensität der Schmerzen – gerecht zu werden. Dies sei bei der Dosierung zu berücksichtigen gewesen. Üblicherweise würden Dosisfindungsstudien für Arzneimittel nicht an übergewichtigen Probanden durchgeführt, sondern vielmehr an Personen, deren Gewicht im Mittel bei 75 kg liegt. Eine Patientin, die 130 kg wiege, habe ein ganz anderes Verteilungsvolumen als eine normalgewichtige Person. Aufgrund des hohen Verteilungsvolumens versacke eine normale Schmerzdosis im Körper, ohne in nennenswerter Menge an den Schmerzrezeptoren anzudocken und somit zur Linderung der Schmerzen zu führen. Korrekturen und Einstellungen auf andere Medikamente seien nicht toleriert worden.
Der Beigeladene führt aus, die versicherte Patientin sei nicht nur multimorbid, sondern auch stark übergewichtig und nicht transportfähig gewesen. Aufgrund der starken Übergewichtigkeit hätten zur Schmerztherapie im Vergleich zu "Normalpatienten" erheblich höhere Dosierungen eingesetzt werden müssen.
Die Gerichts- und Verwaltungsakten haben in der mündlichen Verhandlung vorgelegen und waren Gegenstand der Entscheidung. Wegen weiterer Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten sowie des übrigen Inhalts wird auf sie Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig und auch begründet. Der angegriffene Bescheid des Beklagten, der alleiniger Gegenstand der vorliegenden Klage ist, weil er den Bescheid der Prüfungsstelle ersetzt hat (ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, vgl. zum Beispiel BSG, SozR 3 – 2500 § 106 Nr. 22; Leitherer in: Meyer-Ladewig, SGG, 9. Auflage 2008, § 95, Rn. 2b), ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat gegen den Beklagten einen Anspruch auf Festsetzung eines Regresses zu Lasten des Beigeladenen in der beantragten Höhe.
Rechtsgrundlage des Arzneikostenregresses ist § 106 Absatz 2 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V). Nach dieser Vorschrift wird die Wirtschaftlichkeit der Versorgung unter anderem durch arztbezogene Prüfungen ärztlicher und ärztlich verordneter Leistungen entweder nach Durchschnittswerten (Nr. 1) und/oder nach Stichproben (Nr. 2) geprüft. Über diese Prüfungsarten hinaus können die Landesverbände der Krankenkassen mit den Kassenärztlichen Vereinigungen gemäß § 106 Absatz 2 Satz 4 SGB V andere arztbezogene Prüfungsarten vereinbaren. Die Prüfvereinbarungen ermächtigen regelmäßig zu Einzelfallprüfungen. Diese sind auch in § 26 der hier einschlägigen Prüfvereinbarung vom 14. Februar 2008 (veröffentlicht im KV-Blatt 03/08) vorgesehen. Die Befugnis, den Prüfungsumfang nach Maßgabe der genannten Prüfmethoden zu beschränken - so zum Beispiel eine Einzelleistungs- oder eine Einzelfallprüfung durchzuführen -, findet ihre Berechtigung darin, dass jeder Vertragsarzt verpflichtet ist, sich umfassend wirtschaftlich zu verhalten, das heißt nicht nur insgesamt, sondern auch in jedem Teilbereich seiner Tätigkeit und bei jeder einzelnen Leistung entsprechend dem Wirtschaftlichkeitsgebot zu handeln (vgl. BSGE 71, 194, 199, 201 = SozR 3-2500 § 106 Nr. 15 S 91, 93; BSG SozR 3-2500 § 106 Nr. 42 S. 232 f; SozR 4-2500 § 106 Nr. 3 Rn. 9).
Gemäß § 24 der Prüfvereinbarung vom 14. Februar 2008 entscheidet die Prüfungsstelle auf Antrag einer Krankenkasse oder eines Verbandes über die Festsetzung eines Verordnungsregresses, wenn der Vertragsarzt Leistungen verordnet hat, für die keine Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung besteht. Dies gilt gemäß § 24 Ziffer 1b der Prüfvereinbarung insbesondere für die unzulässige Verordnung von Arzneimitteln außerhalb der Zulassungsindikation dieser Arzneimittel (Off-Label-Use).
Zu der Zulassung nach dem Arzneimittelgesetz (AMG) gehört auch die Vorgabe der Dosierung (§ 22 Absatz 1 Nr. 10, § 29 Absatz 1 in Verbindung mit Absatz 2a Nr. 1 AMG, vgl. auch die Erwähnung der Pflicht zur Anzeige von Veränderungen der Dosierung in BSGE 89, 184, 187 = SozR 3-2500 § 31 Nr. 8 S. 31 f.). Der Einsatz eines Arzneimittels abweichend von dem Inhalt der Zulassung stellt einen Off-Label-Use dar. Welche Kriterien für einen ausnahmsweise rechtmäßigen Off-Label-Use gelten, hat das BSG in seiner Rechtsprechung wiederholt dargelegt. Nach seiner ständigen Rechtsprechung (seit dem Urteil vom 19. März 2002, BSGE 89,184) kann ein zugelassenes Arzneimittel grundsätzlich nicht zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung in einem Anwendungsgebiet verordnet werden, auf das sich die Zulassung nicht erstreckt. Davon kann ausnahmsweise abgewichen werden, wenn es um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, keine andere Therapie verfügbar ist und auf Grund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann.
Die Voraussetzungen eines Off-Label-Use wurden weder durch den Beklagten, noch durch den Beigeladenen auch nur im Ansatz dargelegt und sind zudem nicht ersichtlich.
Eine Leistungspflicht der Klägerin kommt auch nicht unter Berücksichtigung des Verfassungsrechts (vgl. BVerfGE 115, 25) in Betracht. Zwar folgt aus Artikel 2 Absatz 1 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip regelmäßig kein verfassungsmäßiger Anspruch auf bestimmte Leistungen der Krankenbehandlung. Es bedarf jedoch dann einer grundrechtsorientierten Auslegung der maßgeblichen Vorschriften des Krankenversicherungsrechts, wenn eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende oder wertungsmäßig damit vergleichbare Erkrankung vorliegt, bei der die Anwendung der üblichen Standardbehandlung aus medizinischen Gründen ausscheidet und andere Behandlungsmöglichkeiten nicht zur Verfügung stehen (BVerfGE 115, 25; BSG, Urteil vom 27. März 2007, Az. B 1 KR 17/06 R, veröffentlicht in Juris). Damit hat das BVerfG strengere Voraussetzungen umschrieben, als sie im Rahmen des Off-label-use formuliert sind. Gerechtfertigt ist eine verfassungskonforme Auslegung der einschlägigen gesetzlichen Regelungen daher nur, wenn eine notstandsähnliche Situation im Sinne einer in einem gewissen Zeitdruck zum Ausdruck kommenden Problematik vorliegt, bei der nach den konkreten Umständen des Falles bereits drohen muss, dass sich der voraussichtlich tödliche Krankheitsverlauf innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums mit großer Wahrscheinlichkeit verwirklichen wird. Ähnliches kann für den ggf. gleichzustellenden, akut drohenden und nicht kompensierbaren Verlust eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion gelten (BSG a.a.O.).
Vorliegend ist in keiner Weise ersichtlich und im Übrigen auch nicht vorgetragen, dass aus den mit den beiden Medikamenten Tilidin plus und Trancopal Dolo Kapseln ein für die Versicherte K lebensbedrohlicher Zustand resultierte, für den keine andere Behandlungsmöglichkeit als diejenige einer (deutlichen) Überdosierung dieser beiden Medikamente bestand. Die Versicherte ist zwar im Jahr 2009 verstorben, litt jedoch an zahlreichen und schweren Grunderkrankungen. Zu deren Behandlung sollten die beiden vorgenannten Medikamente nicht eingesetzt werden. Ihr Einsatz erfolgte lediglich zur Dämpfung der vorhandenen Schmerzzustände.
Somit kommt eine Rechtfertigung der erfolgten Überdosierungen von Tilidin plus und Trancopal Dolo Kapseln weder unter dem Gesichtspunkt des Off-Label-Use, noch unter demjenigen der notstandsähnlichen Lage in Betracht.
Soweit in der Rechtsprechung des 6. Senats des Bundessozialgerichts eine Rechtfertigung einer Dosierung, die über die Therapieempfehlungen der Roten Liste und der Fachinformation weit hinaus geht, ausnahmsweise für den Fall erwogen wird, dass es für die Abweichung eine medizinische Rechtfertigung gibt - was etwa aufgrund von Besonderheiten im zugrunde liegenden Behandlungsfall denkbar sein könne – (vgl. hierzu Beschluss des BSG vom 3. November 2010, Az. B 6 KA 35/10 B, Juris; Urteil des BSG vom 27. Juni 2007 Az. B 6 KA 44/06 R, Juris), führt auch dies zu keiner abweichenden Beurteilung. Zwar sieht der Beklagte in Anbetracht des oben aufgeführten Vortrags des Beigeladenen eine solche rechtfertigende Ausnahme hier gegeben. Die genannten Umstände reichen jedoch nach Auffassung der Kammer nicht aus, um einen Verordnungsumfang zu rechtfertigen, der die Dosierungsempfehlungen – wie hier - um ein Vielfaches – bis zum 7-fachen - übersteigt. Grundsätzlich ist bei höherer Dosierung kein zusätzlicher therapeutischer Nutzen zu erwarten. Die in der Fachinformation angegebene Höchstdosis schließt grundsätzlich bereits nicht regelrecht vorkommende Behandlungsfallkonstellationen ein. Die Fachinformationen zu den beiden streitgegenständlichen Arzneimitteln enthalten auch keinen Hinweis darauf, dass eine Überdosierung im Falle erheblichen Übergewichts des Patienten in Betracht kommen könnte. Jedenfalls lässt sich auch unter diesem Gesichtspunkt eine Dosierung des Vielfachen der maximalen Tageshöchstdosis über ein langes Zeitintervall von mehr als einem Jahr hinweg nicht rechtfertigen. Überdies kann eine höhere Dosierung sogar kontraindiziert sein, weil die Wahrscheinlichkeit des Auftretens auch schwerwiegender Nebenwirkungen erhöht wird. Vor diesem Hintergrund wäre zu prüfen gewesen, ob eine Verordnung anderer Schmerzmedikamente aus der Gruppe der Morphine in Betracht kommt. Nach der im Jahr 1986 durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) veröffentlichten und von der Klägerin zu den Akten gereichten Empfehlung zur Behandlung von Schmerzen kommen Medikamente der Stufe III – worunter Morphine fallen – dann zum Einsatz, wenn Opioid-haltige Schmerzmittel (zum Beispiel Tilidin und Tramadol) nicht mehr ausreichen, die Schmerzen zu lindern. Unter Berücksichtigung der Empfehlungen der WHO darf eine fortwährende Erhöhung bzw. Verkürzung der Zeitintervalle von Dosierungen in der Schmerztherapie nicht stattfinden; vielmehr sollten Medikamente der nächsten Stufe zum Einsatz kommen, um eine ausreichende Schmerzreduktion zu erreichen.
Eine Ersatzverpflichtung des Beigeladenen ist in der beantragten Höhe festzusetzen. Der Betrag von 6.990,82 Euro setzt sich zusammen aus einer Forderung für das Quartal II/2007 in Höhe von 994,56 Euro, einer solchen für das Quartal III/2007 von 927,95 Euro, einer solchen für das Quartal IV/2007 von 2.137,19 Euro, einer solchen für das Quartal I/2008 von 1.067,12 Euro und einer solchen für das Quartal II/2008 von 1.864,00 Euro. Die Berechnungen orientieren sich an den Verordnungen von Packungen der beiden Medikamente Tilidin plus und Trancopal Dolo Kapseln, die über die jeweilige Tageshöchstdosis hinausgehen. Apothekenrabatte und Patienteneigenanteile wurden von der Klägerin in Abzug gebracht. Zweifel an der Richtigkeit der Berechnungen der Klägerin ergeben sich für die Kammer nicht und werden auch von dem Beklagten und/oder dem Beigeladenen nicht geltend gemacht.
Bei Verordnungsregressen der hier vorliegenden Art ist auch kein Raum für eine Ermessensausübung. Bei Regressen, denen unzulässige Verordnungen zugrunde liegen, wie dies beim Fehlen der Arzneimittelzulassung des verordneten Medikaments, bei einem unzulässigen Off-Label-Use, bei Verordnung entgegen einem AMRL-Verordnungsausschluss oder bei Unvereinbarkeit einer Verordnung mit den Vorgaben des § 135 Abs 1 SGB V der Fall ist, kann eine Unwirtschaftlichkeit nur bejaht oder verneint werden (sogenannter Basismangel, vgl. dazu BSG SozR 4-2500 § 106 Nr. 21 und BSG MedR 2010, 276, jeweils Rn. 29). Mit dem Regress lediglich einen Teil der Unwirtschaftlichkeit abzuschöpfen, kann nur in anders gelagerten Fällen in Betracht kommen, zum Beispiel im Rahmen eines Regresses aufgrund einer sogenannten Durchschnittsprüfung bei insgesamt deutlich höherem Verordnungsvolumen als im Durchschnitt der Arztgruppe und/oder bei einer Anfängerpraxis, eventuell auch bei der Belassung von Restüberschreitungen (vgl. hierzu BSG SozR 4-1500 § 141 Nr. 1 Rn. 30 am Ende; vgl. weiterhin BSG SozR 4-2500 § 106 Nr. 21 und BSG MedR 2010, 276, jeweils Rn. 29). Dementsprechend ist in Fällen wie dem vorliegenden die Höhe des Regresses dahingehend vorgezeichnet, dass vom Arzt Ersatz der vollen Kosten zu fordern ist. Raum für eine Regressermäßigung aufgrund einer Ermessensentscheidung besteht nicht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Sozialgerichtsgesetz (SGG) in Verbindung mit §§ 154 Absatz 1, 159 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) sowie § 100 Zivilprozessordnung (ZPO). Die Kammer erachtet es für sachgerecht, die Kosten des Verfahrens dem unterliegenden Beklagten und dem gleichfalls unterliegenden Beigeladenen je zur Hälfte aufzuerlegen. Unterliegen diese beiden Beteiligten gleichermaßen, ist es ebenfalls sachgerecht, ihnen gegen den jeweils anderen keinen Kostenerstattungsanspruch im Hinblick auf die außergerichtlichen Kosten zuzubilligen.
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