L 27 R 1109/10

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
27
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 97 R 6358/07
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 27 R 1109/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 29. Oktober 2010 aufgehoben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 13. April 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Juli 2007 sowie des Teilanerkenntnisses vom 29. Oktober 2010 verurteilt, dem Kläger auch für den Zeitraum vom 01. Juli 1995 bis zum 31. Dezember 2001 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ohne Berücksichtigung des Versor-gungsausgleichs entsprechend dem Urteil des Amtsgerichts C vom 23. November 1988 zu gewähren.
Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten für das Verfahren vor dem Sozialgericht und für das Berufungsverfahren zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Gewährung einer höheren Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auch für die Zeit vom 01. Juli 1995 bis zum 31. Dezember 2001.

Der 1944 geborene Kläger war in erster Ehe mit Frau vom 21. Juli 1969 bis zu deren Tod 1976 verheiratet. Seit dem November 2001 ist der Kläger in zweiter Ehe verheiratet.

Unter dem 15. Oktober 1987 erfolgte durch das Amtsgericht C in der Scheidungssache UH, geb. W./. J H eine Anfrage zu der nach § 1587 a BGB auszugleichenden Versorgung. Konkret wurde eine Auskunft für den Ehemann unter Angaben von dessen handschriftlich eingetrage-nem Geburtsdatum, dem 01. Dezember 1954, für die Ehezeit vom 01. Mai 1977 bis zum 30. April 1987 erbeten. Ebenfalls handschriftlich, jedoch von offenbar anderer Hand, wurde auf der Anfrage vom 15. Oktober 1987 die Versicherungsnummer des Klägers eingetragen. Ausweislich eines Vermerks des Beklagten vom 07. Februar 2007 soll das Auskunftsersuchen des Amtsgericht C vom 15. Oktober 1987 bei der Beklagten versehentlich dem Kläger anstatt dem eigentlich Ver-sorgungsausgleichsverpflichteten zugeordnet und danach dem Amtsgericht C entsprechend die Versicherungsnummer des Klägers mitgeteilt worden sein. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Anfrage vom 15. Oktober 1987 sowie den Vermerk vom 07. Februar 2007 Bezug genommen (Bl. 249 und Bl. 266 der Verwaltungsakte). Im Folgenden fand die Korrespondenz der Beklagten mit dem Amtsgericht C in der Scheidungssache UH, geb. W./. J H zur Versicherungsnummer des Klägers statt. Die an den Ehemann J H (im Folgenden: Versorgungsausgleichsverpflichteter), der den weiteren Vornamen P trägt, versandte Korrespondenz war adressiert an dessen Anschrift in der Hstr., unter der der Kläger niemals wohnhaft war. Aufgrund des Urteils des Amtsgerichts C vom 23. November 1988, welches in der Scheidungssache UH, geb. W./. J H für den Versorgungsausgleichsverpflichteten jedoch mit dem Zusatz der Versicherungsnummer des Klägers erging, wurde von der Beklagten zu Lasten des Versicherungskontos des Klägers für die Ehezeit vom 01. Mai 1977 bis zum 30. April 1987 mit Frau UH der Versorgungsausgleich durchgeführt und hierbei Rentenanwartschaften in Höhe von monatlich 175,65 DM entsprechend 5,0393 Entgeltpunkten auf das Konto der UH, geb. W übertragen. Auch hierüber wurde durch Schreiben vom 08. Februar 1989 nicht der Kläger, sondern der Versorgungsausgleichsberechtigte informiert.

Mit Bescheid vom 07. Dezember 1995 bewilligte die Beklagte dem Kläger eine unbefristete Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab dem 01. Juli 1995 mit einem monatlichen Zahlbetrag von 1619,97 DM. Ausweislich der Anlage 5 des Bescheides berücksichtigte die Beklagte bei der Berechnung der Rente den für die Ehezeit vom 01. Mai 1977 bis zum 30. April 1987 mit Frau UH durchgeführten Versorgungsausgleich zu Lasten des Klägers. Entsprechend wurde die Rente um 5,0393 Entgeltpunkte geringer berechnet und ausgezahlt.

Am 13. Dezember 2006 beantragte der Kläger die Überprüfung des Rentenbescheides von Beginn an mit der Begründung, dass er im Zeitraum vom 01. Mai 1977 bis zum 30. April 1987 nicht verheiratet gewesen sei und keine Frau UH kenne. Auch sei er nie in der Hstraße wohnhaft gewesen. Seine erste Ehe habe mit dem Tod der ersten Ehefrau 1976 geendet, erst seit 2001 sei er wieder verheiratet. Er habe deswegen Anspruch auf eine höhere Rente ohne Kürzungen durch den vorgenommenen Versorgungsausgleich.

Mit Bescheid vom 13. April 2007 berechnete die Beklagte die Rente für den Zeitraum vom 01. Januar 2002 an neu. Dabei fand der Versorgungsausgleich entsprechend dem Urteil des Amtsgerichts C vom 23. November 1988 keine Berücksichtigung mehr. Dem Kläger wurde für die Zeit vom 01. Januar 2002 bis zum 31. Mai 2007 eine Nachzahlung in Höhe von 7.735,15 Euro bewilligt. Für den Zeitraum vor dem 01. Januar 2002 lehnte die Beklagte die Neuberechnung der Rente mit der Begründung ab, dass eine nachträgliche Zahlung von Sozialleistungen gemäß § 44 Abs. 4 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) nur für einen Zeitraum von vier Jahren vor der Rücknahme erbracht werde, wenn der Bescheid für die Vergangenheit zurückgenommen werde.

Mit dem hiergegen eingelegten Widerspruch machte der Kläger geltend, ihm stehe die ungekürzte Rentenbewilligung bereits ab Rentenbeginn zu. Die Anwendung des § 44 Abs. 4 SGB X sei grob unbillig.

Gegen den Widerspruchsbescheid vom 23. Juli 2007 hat der Kläger am 21. August 2007 zu dem Sozialgericht B Klage erhoben. Mit dieser hat er ursprünglich die Aufhebung des Bescheides vom 13. April 2007 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 23. Juli 2007 sowie die Verurteilung der Beklagten, die zu Unrecht vorenthaltene Versichertenrente ab Rentenbeginn nachzuzahlen sowie zu verzinsen. Dies begründete er zusätzlich damit, dass die Entscheidung über den Versorgungsausgleich ihm nicht bekannt gegeben worden sei. Zudem sei der Rentenbescheid vom 07. Dezember 1995 nichtig, da er an einem besonders schwerwiegenden Fehler leide. Der ursächlich Fehler liege eindeutig bei der Beklagten, da diese im Scheidungsverfahren der Eheleute H fehlerhaft die Versicherungsnummer des Klägers anstelle der durch das Amtsgericht C erbetenen Versicherungsnummer des Versorgungsausgleichsverpflichteten angegeben habe.

Mit Schreiben vom 26. Oktober 2010 hat die Beklagte mitgeteilt, dass sich bei Berechnung der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ohne Berücksichtigung des Versorgungsausgleichs entsprechend dem Urteil des Amtsgerichts C vom 23. November 1988 für den Zeitraum vom 01. Juli 1995 bis zum 31. Dezember 2001 eine Nachzahlung in Höhe von 8.806,53 Euro ergeben würde. Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 29. Oktober 2010 hat die Beklagte folgendes Teil-anerkenntnis abgegeben: Der Bescheid der Beklagten vom 13. April 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Juli 2007 wird abgeändert. Die Beklagte verpflichtet sich, unter Abänderung des Bescheides vom 07. Dezember 1995 den Rentenanspruch des Klägers auch für den Zeitraum vom 01. Juli 1995 bis zum 31. Dezember 2001 ohne Berücksichtigung eines Versorgungsausgleichs neu zu berechnen. Die Auszahlung einer etwaigen Nachzahlung ist davon nicht erfasst. Der Kläger hat das Teilanerkenntnis angenommen und die Klage auf Auszahlung weiterer 8.806,53 Euro Erwerbsunfähigkeitsrente für den Zeitraum vom 01. Juli 1995 bis zum 31. De-zember 2001 weiterverfolgt. Mit Urteil vom 29. Oktober 2010 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Der Kläger habe keinen Anspruch auf die Nachzahlung weiterer 8.806,53 Euro für den Zeitraum vom 01. Juli 1995 bis zum 31. Dezember 2001, da dem § 44 Abs. 4 SGB X entgegenstehe. Diese gesetzliche Ausschlussfrist sei als zwingendes Recht zu beachten und stehe nicht im Ermessen des Leistungsträgers. § 44 SGB X sei im Falle des Klägers auch anwendbar, da ihm der Rentenbescheid vom 07. Dezember 1995 zugegangen und auch nicht nichtig sei. Allein die Tatsache, dass die rechtswidrige Berücksichtigung des Versorgungsausgleichs zu Lasten des Klägers für diesen nachteilig gewesen sei, reiche für die Annahme eines schwerwiegenden Fehlers nicht aus. Zudem sei der Fehler nicht offensichtlich. Der Kläger selbst habe die Tatsache erst mehr als zehn Jahre nach Erlass des Rentenbescheides bemerkt. Ein Anspruch auf Nachzahlung ergebe sich schließlich nicht aus dem sozialrechtlichen Herstellungsanspruch. Insbesondere sei die Verletzung einer Nebenpflicht durch die Beklagte nicht erkennbar.

Mit der hiergegen am 29. November 2010 erhobenen Berufung macht der Kläger geltend, bei dem Rentenbescheid vom 07. Dezember 1995 handele es sich um einen nichtigen Verwaltungsakt im Sinne von § 40 Abs. 1 SGB X. Dass der Versorgungsausgleich für eine Ehezeit vom 01. Mai 1977 bis zum 30. April 1987 zu Lasten des Versicherungskontos des Klägers eingetragen worden sei, lasse sich nur durch grob fahrlässige Verfahrensführung durch die Beklagte erklären. Ebenso liege die irrtümliche Belastung des Versicherungskontos mit dem Versorgungsausgleich durch die Angabe der falschen Versicherungsnummer gegenüber dem Scheidungsgericht in der alleinigen Verantwortlichkeit der Beklagten. Darüber hinaus habe der Kläger nicht mit einer derartig grob fehlerhaften Eintragung zu Lasten seines Kontos rechnen müssen. Mangels Bekanntgabe des Versorgungsausgleichs ihm gegenüber habe der Kläger zudem keine Möglichkeit gehabt, den Fehler der Beklagten zu entdecken. § 44 Abs. 4 SGB X sei in einem solchen Fall nicht anwendbar und nicht geeignet, Rechtsfrieden zu schaffen.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 29. Oktober 2010 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 13. April 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Juli 2007 sowie des Teilanerkenntnisses vom 29. Oktober 2010 zu verurteilen, dem Kläger auch für den Zeitraum vom 01. Juli 1995 bis zum 31. Dezember 2001 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ohne Berück-sichtigung des Versorgungsausgleich entsprechend dem Urteil des Amtsgerichts Charlottenburg vom 23. November 1988 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die Entscheidung des Sozialgerichts für zutreffend.

Dem Senat haben die Verwaltungsvorgänge der Beklagten vorgelegen. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze, das Protokoll und die Verwaltungsvorgänge der Beklagten.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist gemäß §§ 143, 144, 151 SGG zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben. Sie ist auch begründet. Der Bescheid vom 13. April 2007 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 23. Juli 2007 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Dieser Bescheid ist aufgrund der Nichtigkeit des ursprünglichen Rentenbescheides vom 07. Dezember 1995 – die die Beklagte verkannt hat - nicht als Überprüfungsverwaltungsakt, sondern als Verwaltungsakt, mit dem die Bewilligung und Auszahlung der begehrten Rente für den Zeitraum vom 01. Juli 1995 bis zum 31. Dezember 2001 abgelehnt worden ist, auszulegen. Denn ein überprüfbarer Verwaltungsakt bestand aufgrund der Nichtigkeit des ursprünglichen Rentenbescheides vom 07. De-zember 1995 nicht, da nichtige Verwaltungsakte von Anfang an keine Wirksamkeit entfalten (hierzu zu 1.). Entsprechend ist der die Überprüfung des – nichtigen - Rentenbescheides vom 07. Dezember 1995 sowie Bewilligung und Zahlung der höheren Rente für die Zeit vom 01. Juli 1995 bis zum 31. Dezember 2001 ablehnende Bescheid vom 13. April 2007 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 23. Juli 2007 dahingehend auszulegen, dass mit diesem die Gewährung der Rente in voller Höhe für den Zeitraum vom 01. Juli 1995 bis zum 31. Dezember 2001 abgelehnt worden ist. Zwischenzeitlich hat die Beklagte durch das im Termin am 29. Oktober 2010 vor dem Sozialgericht abgegebenen Teilanerkenntnis lediglich den Anspruch auf die Neuberechnung, nicht jedoch Gewährung der nicht durch den Versorgungsausgleich gekürzten Rente auch für den Zeitraum vom 01. Juli 1995 bis zum 31. Dezember 2001 anerkannt. Der Kläger hat indes entgegen der Auffassung der Beklagten auch einen Anspruch auf die Gewährung dieser Rente in voller Höhe gemäß § 44 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) in der bis zum 31. Dezember 2000 geltenden Fassung, da insbesondere die Kürzung durch den Versorgungsausgleich gemäß dem Rentenbescheid vom 07. Dezember 1995 nichtig ist. Diesem Anspruch steht auch für den Zeitraum vom 01. Juli 1995 bis zum 31. Dezember 2001 § 44 Abs. 4 SGB X nicht entgegen (dazu zu 2.).

1. Der ursprüngliche Rentenbescheid vom 07. Dezember 1995 entfaltet keine Wirksamkeit, da er nichtig ist. Nach § 39 Abs. 3 SGB X ist ein nichtiger Verwaltungsakt unwirksam. Nichtig ist ein Verwal-tungsakt nach § 40 Abs. 1 SGB X, soweit er an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet und dies bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offensichtlich ist. Der Rentenbescheid vom 07. Dezember 1995 leidet an einem besonders schwerwiegenden Fehler, weil er zu Lasten des Klägers einen Versorgungsausgleich berücksichtigt, der zu Lasten eines anderen Versicherten, nämlich es Versorgungsausgleichsverpflichteten, hätte durchgeführt und berücksichtigt werden müssen. Ist wie vorliegend nach Prüfung des Falles anhand von § 40 Abs. 2 und 3 SGB X die Generalklausel des § 40 Abs. 1 SGB X anzuwenden, so erfolgt die Konkretisierung des Tatbestands zunächst durch einen Vergleich mit den Fallgruppen der Abs. 2 und 3: Der Fehler muss in seiner Schwere denen des Abs. 2 entsprechen und diejenigen nach Abs. 3 überschreiten. "Besonders schwerwiegend" sind jedenfalls solche materiellen Fehler, die deshalb mit der Rechtsordnung unter keinen Umständen vereinbar sein können, weil sie tragenden Verfassungsprinzipien oder den der Rechtsordnung immanenten Wertvorstellungen widersprechen (BVerwG NJW 1985, 2658). Zur Nichtigkeit führt ebenso, wenn ein Bescheid seiner Art oder seines Inhalts schlechterdings nicht vorstellbar ist (Steinwedel in Kasseler Kommentar, Sozialversicherungsrecht, 70. Ergänzungslieferung 2011, Rn. 12-13 zu § 44). So liegt der Fall hier. Nach dem Lebenslauf und den familiären Verhältnissen des Klägers war ein Versorgungsaus-gleich zu seinen Lasten wegen einer Ehezeit mit Frau UH, geb. W, in der Zeit vom 01. Mai 1977 bis zum 30. April 1987, nicht vorstellbar. Der Kläger war weder in der Zeit vom 01. Mai 1977 bis zum 30. April 1987, noch jemals mit Frau UH, geb. W, verheiratet. Darüber hinaus stellt der zu Lasten des Klägers und ohne seine Beteiligung oder sein Wissen durchgeführte Versorgungsausgleich auch einen Fehler dar, der mangels Ermächtigungsgrundlage hierfür sowie unter Berücksichtigung der erheblichen Folgen für den an diesem Ausgleich in keiner Weise beteiligten Kläger mit den der Rechtsordnung immanenten Wertvorstellungen nicht in Einklang zu bringen ist. Der schwerwiegende Fehler dieses Versorgungsausgleichs setzt sich in dem Rentenbescheid vom 07. Dezember 1995 fort.

Dieser besonders schwerwiegende Fehler des Rentenbescheides vom 07. Dezember 1995 ist auch offenkundig im Sinne des § 40 Abs. 1 SGB X. Nicht notwendig, wenn auch hinreichend für das Vorliegen der "Offensichtlichkeit" ist es, dass der besonders schwerwiegende Fehler für die Betroffenen und den Träger oder sogar für jedermann offen auf der Hand liegt. Die "Offensichtlichkeit" liegt vielmehr auch dann vor, wenn sie sich erst auf Grund einer verständigen Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände ergibt, die für den Erlass des Verwaltungsakts und für seinen Regelungsinhalt von Bedeutung sind, wenn also erst eine sorgfältige Prüfung den besonders schwerwiegenden Fehler offensichtlich macht. Bei der Frage, für wen die verständige Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände (unter Umständen durch Juristen und andere Sachverständige) den be-sonders schwerwiegenden Fehler offensichtlich gemacht haben muss, kommt es nicht auf die Betrachtungsweise einer spezifisch juristisch geschulten Person an. Vielmehr ist - etwa nach dem Leitbild eines ehrenamtlichen Richters - darauf abzustellen, wie ein urteilsfähiger unvoreingenommener Bürger, der die (unter Umständen von "Experten" vorgenommene) Würdigung aller in Betracht kommenden tatsächlichen und rechtlichen Umstände verständig nachvollzieht, das Maß der Ersichtlichkeit des besonders schweren Fehlers im Zeitpunkt der Bekanntgabe des Verwaltungsakts beurteilen würde. Müsste dieser "verständige Durchschnittsadressat" mit Ge-wissheit zu dem Ergebnis kommen, dass der Verwaltungsakt im Zeitpunkt seines Erlasses an einem besonders schwerwiegenden Fehler litt, ist notwendig und stets "Offensichtlichkeit" im Sinne von § 40 Abs. 1 SGB X gegeben (BSG Urteil vom 07.09.2006, Az. B 4 RA 43/05 R - zitiert nach juris). Nicht maßgeblich ist danach, dass dem Kläger selbst der schwerwiegende Fehler im Zusammenhang mit dem Versorgungsausgleich nicht aufgefallen ist. Einem "verständigen Durchschnittsadressaten" wäre unter Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände bei sorgfältiger Prüfung mit Gewissheit offensichtlich geworden, dass die Beklagte den Versorgungsausgleich zu Lasten des Klägers wegen einer Ehezeit mit Frau UH, geb. W, in der Zeit vom 01. Mai 1977 bis zum 30. April 1987 nicht berücksichtigen durfte.

2. Dem von dem Kläger geltend gemachten Anspruch auf Gewährung der Erwerbsunfähigkeitsrente auch für den Zeitraum vom 01. Juli 1995 bis zum 31. Dezember 2001 steht auch nicht § 44 Abs. 4 SGB X entgegen. Danach werden Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuches längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht, wenn ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden ist. Dabei wird der Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird. Erfolgt die Rücknahme auf Antrag, tritt bei der Berechnung des Zeitraumes, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, anstelle der Rücknahme der Antrag. § 44 Abs. 4 SGB X ist jedoch in Fällen, in denen ein Leistungsanspruch – wie vorliegend - durch nichtigen Verwaltungsakt abgelehnt worden ist, nicht entsprechend anwendbar (vgl. BSG Urteil vom 16. Mai 1995, Az. 9 RV 16/94 - zitiert nach juris). Anders als bei dem Ver-gleich von nach § 44 SGB X rückwirkend zu erbringenden Leistungen mit solchen, die aufgrund eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs rückwirkend erbracht werden müssen (mit der Folge der entsprechenden Anwendbarkeit der Frist des § 44 Abs. 4 SGB X auch auf den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch, vgl. BSG Urteil vom 27. März 2007, Az B 13 R 58/06 R –zitiert nach juris), liegt eine Vergleichbarkeit zwischen der Situation eines nach § 40 SGB X nichtigen und eines nach § 44 SGB X rechtswidrigen Verwaltungsaktes nicht vor. Die entsprechende Anwendung des § 44 Abs. 4 SGB X auf Fälle, in denen mit einem nichtigen Verwaltungsakt Leistungen abgelehnt worden sind, ist danach nicht gerechtfertigt.
Rechtskraft
Aus
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