L 2 P 72/10

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 2 P 371/09
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 2 P 72/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 3 P 4/12 B
Datum
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Ob Pflegebedürftigkeit vorliegt, richtet sich danach, inwieweit die Ausführung der gewöhnlichen und wieder kehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens krankheits- oder behinderungsbedingt eingeschränkt oder aufgehoben ist und ein Bedarf an Hilfeleistungen besteht.
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 16. Juni 2010 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist, ob dem 1941 geborenen Kläger Leistungen der Pflegeversicherung nach Pflegestufe I zustehen.

Am 30.03.2009 stellte der Kläger Antrag auf Leistungen bei Pflegebedürftigkeit. Die Beklagte holte ein Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) vom 22.05.2009 ein. Beim Kläger bestehe eine Halbseitenlähmung links. Der Pflegebedarf betrage 13 Minuten (7/0/6). Daraufhin lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 25.05.2009 den Antrag des Klägers ab. Der hiergegen eingelegte Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 26.11.2009 zurückgewiesen. Der Entscheidung lag ein weiteres Gutachten des MDK vom 24.07.2009 zugrunde. In diesem Gutachten wurde der Pflegebedarf auf 18 Minuten eingeschätzt (7/0/11).

Hiergegen hat der Kläger Klage beim Sozialgericht (SG) München erhoben. Dieses hat einen Befundbericht des behandelnden Arztes Dr.H. eingeholt. Mit Beweisanordnung vom 09.02.2010 wurde Dr.H. zum gerichtlichen Sachverständigen ernannt. Er ist in seinem Gutachten vom 22.02.2010 zum Ergebnis gekommen, dass der Hilfebedarf in der Grundpflege 35 Minuten (17/1/17) betrage und in der hauswirtschaftlichen Versorgung 45 Minuten im Tagesdurchschnitt. Aufgrund der Einwendungen der klägerischen Seite hat das Gericht eine ergänzende Stellungnahme von Dr.H. eingeholt. Der Einwand des Klägers, dass ein Zeitaufwand von 4 Minuten für die zweimal wöchentliche Ganzkörperwäsche nicht angemessen sei, da dies 20 % der Körperoberfläche entspreche und laut Leistungskomplex mit 250 Punkten entsprechend einem Zeitaufwand von 25 Minuten zu bewerten sei, sei nicht nachzuvollziehen. Der Verweis auf Vergütungsvereinbarungen oder auf durchschnittliche Körperoberflächenanteile besage nichts über den tatsächlichen Hilfebedarf, den eine dritte Person aufwenden müsse, um im Rahmen der teilweisen Übernahme und Unterstützung Hilfeleistungen zu erbringen. Da der Kläger keine Einschränkung der Alltagskompetenz aufweise, bestehe während der Fahrt und auch bei der Durchführung von Therapien kein Betreuungs- und Beaufsichtigungsbedarf. Insoweit könne die reine Fahrzeit sowie die Wartezeit bei den Ärzten nicht berücksichtigt werden. Berücksichtigungsfähig sei allein der Zeitaufwand, der benötigt werde, um die Wohnung zu verlassen und ein Verkehrsmittel zu besteigen. Es sei auch zumutbar, dass Ärzte und Therapieeinrichtungen im näheren Umfeld der Wohnung aufgesucht werden. Die Bereitschaft zu einer anfallenden Hilfeleistung z.B. zum Wechseln der U-Bahn sei nicht anrechenbar, da die Hilfeleistung nicht notwendigerweise von einer Begleitperson erbracht werden müsse. Der Hilfebedarf für das Einsteigen und Aussteigen in die Badewanne von einer Minute sei berücksichtigt worden.

Hiergegen hat der Klägerbevollmächtigte darauf hingewiesen, dass bei der Körperpflege eine vollständige Übernahme der Leistungen notwendig sei. Hinsichtlich der Mobilität hat er ausgeführt, dass der Kläger von seinem Hausarzt zu den Fachärzten überwiesen werde. Die Auswahl erfolge nicht nach geographischen Gesichtspunkten. Er hat nochmals auf den Bescheid des Versorgungsamtes Region Oberbayern vom 24.07.2009 verwiesen, wonach beim Kläger ein GdB von 100 und die Merkzeichen "B" und "G" festgestellt sind.

Mit Urteil vom 16.06.2010 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Es hat sich im Wesentlichen auf das Gutachten des Dr.H. berufen.

Hiergegen hat der Kläger am 23.09.2010 Berufung eingelegt. Er hat im Wesentlichen ausgeführt, dass er bei den Arztbesuchen auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen sei. Es liege nicht im Ermessen eines Gutachters, welches Verkehrsmittel der Pflegebedürftige zu benutzen habe. In seinem Gutachten gehe der Sachverständige ausschließlich von der Benutzung eines Taxis aus, was ihm schon aus wirtschaftlichen Gründen nicht zugemutet werden könne. Zumindest außerhalb der Wohnung sei er auf ständige Begleitung angewiesen. Nach seinen Berechnungen liege ein Pflegebedarf von 48 Minuten pro Tag vor (23/1/24). Hierbei seien die Arztbesuche mit 11,3 Minuten pro Tag anzurechnen. Des Weiteren hat er ein Gutachten zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit vom 04.07.2005 betreffend eine unbeteiligte Person vorgelegt.

Die Beklagte hat darauf hingewiesen, dass weder Minderung der Erwerbsfähigkeit noch Grad der Behinderung Aussage über die Voraussetzungen von Pflegebedürftigkeit träfen. In diesem Sinne habe auch das Bundessozialgericht mit Urteil vom 26.11.1998 (Az.: B 3 P 20/97 R) entschieden. Das Verlassen/Wiederaufsuchen der Wohnung könne nach ständiger Rechtsprechung nur berücksichtigt werden, soweit es mit gewisser Regelmäßigkeit wenigstens einmal pro Woche für die Aufrechterhaltung der Lebensführung zu Hause unumgänglich sei. Allerdings sei hier nur der unmittelbare Weg zwischen Wohnung und PKW sowie PKW und Praxis einschließlich Ein- und Aussteigen maßgeblich.

Der Senat hat daraufhin ein weiteres Gutachten von Amts wegen eingeholt. Dr.C. ist am 14.02.2011 zum Ergebnis gekommen, dass ein Pflegebedarf von 38 Minuten bestehe. (17/2/19). Der Bevollmächtigte des Klägers hat erneut darauf hingewiesen, dass der Kläger das Merkzeichen "B" habe und deshalb Begleitung brauche. Sämtliche Gutachten kämen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Dies spreche für sich.

In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger ferner einen Hilfebedarf beim Anlegen von Kompressionsstrümpfen geltend gemacht, der bislang von den Sachverständigen nicht berücksichtigt worden sei.

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts München vom 16.06.2010 sowie den Bescheid der Beklagten vom 25.05.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.11.2009 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, Leistungen nach der Pflegestufe I ab Antragstellung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig, jedoch nicht begründet. Das Sozialgericht München hat zu Recht die Klage abgewiesen.

Maßgeblich für die Entscheidung ist der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung, da es sich bei der Klage um eine kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs.4 SGG handelt.

Pflegebedürftige können nach § 37 Abs.1 Sätze 1 bis 3 des Elften Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB XI) Pflegegeld erhalten, wenn sie die erforderliche Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung durch eine Pflegeperson (§ 19 Satz 1 SGB XI) in geeigneter Weise sowie dem Umfang des Pflegegeldes entsprechend selbst sicherstellen und mindestens die Pflegestufe I vorliegt.

Maßgebend für die Feststellung von Pflegebedürftigkeit und die Zuordnung zu den einzelnen Pflegestufen ist der Umfang des Pflegebedarfs bei denjenigen gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens, die in § 14 Abs.4 SGB XI aufgeführt und dort in die Bereiche Körperpflege, Ernährung und Mobilität (Nrn.1 bis 3), die zur Grundpflege gehören, sowie den Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung (Nr.4) aufgeteilt sind. Der hierin aufgeführte Katalog der Verrichtungen stellt, nach Ergänzung um die im Gesetz offenbar versehentlich nicht ausdrücklich genannten Verrichtungen Sitzen und Liegen (BSG SozR 3-3300 § 14 Nr.14), eine abschließende Regelung dar (BSG 82, 27), die sich am üblichen Tagesablauf eines gesunden bzw. nicht behinderten Menschen orientiert (BSG SozR 3-3300 § 14 Nr.3).

Nach § 15 Abs.3 Nr.1 SGB XI (Pflegestufe I) muss dazu der Zeitaufwand für die erforderlichen Hilfeleistungen der Grundpflege täglich mehr als 45 Minuten (Grundpflegebedarf), für solche der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung zusammen mindestens 90 Minuten (Gesamtpflegebedarf) betragen. Unter Grundpflege ist die Hilfe bei gewöhnlichen und wiederkehrenden Verrichtungen im Bereich der Körperpflege, der Ernährung und der Mobilität (§ 14 Abs.4 Nrn.1 bis 3 SGB XI), unter hauswirtschaftlicher Versorgung die Hilfe bei der Nahrungsbesorgung und -zubereitung, bei der Kleidungspflege sowie bei der Wohnungsreinigung und Beheizung (§ 14 Abs.4 Nr.4 SGB XI) zu verstehen.

Auch nach dem vom Senat eingeholten Gutachten von Dr.C. vom 14.02.2011 wird Pflegestufe I nicht erreicht. Die Sachverständige kommt zu einem Pflegebedarf von 38 Minuten, wobei für die Körperpflege 17 Minuten, für die Ernährung 2 Minuten und für die Mobilität 19 Minuten anfallen. Damit ist zwar wiederum eine Steigerung von drei Minuten gegenüber dem Gutachten des Dr.H. vom 22.02.2010 eingetreten. Insgesamt erreicht der Pflegebedarf jedoch nicht die Voraussetzungen für Pflegestufe I.

Der Bevollmächtigte des Klägers wendet ein, dass die abweichenden Gutachtensergebnisse für sich sprechen. Hier ist jedoch zu erwidern, dass ein weiteres Gutachten vom Senat nur deshalb eingeholt wurde, weil es auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ankommt und das Gutachten des Dr.H. vom 22.02.2010 datiert. Es hat sich die bisherige Entwicklung fortgesetzt, dass der Kläger zunehmend mehr Pflege braucht. Aber auch nach dem Gutachten der Sachverständigen Dr.C. werden die für Pflegestufe I erforderlichen 46 Minuten Pflegebedarf in der Grundpflege nicht erreicht. Der Kläger hat dieses Gutachten nicht widerlegt. Zwar hat der Klägerbevollmächtigte diverse Rechnungen von Pflegediensten für bestimmte Pflegeverrichtungen vorgelegt. Diese sagen jedoch nichts aus über den tatsächlichen Pflegebedarf beim Kläger.

Das Anziehen der Kompressionsstrümpfe wurde von der Sachverständigen Dr.C. nicht angerechnet, da der Kläger diese tatsächlich nicht getragen hat. Auch die Anamnese durch die Sachverständige hat ergeben, dass der Kläger zwar Hilfe beim Anziehen von Socken und Hose benötigt; das Anziehen von Kompressionsstrümpfen wurde dabei nicht erwähnt. Entsprechend sind auch die Ausführungen des Dr.H ...

Nach wie vor nicht anrechenbar ist die vollständige Zeit, die der Kläger für die Begleitung zum Arzt mindestens einmal wöchentlich angerechnet haben will. In der Pflegeversicherung ist eigenständig zu prüfen, ob die ständige Anwesenheit der Pflegeperson auf der Fahrt zum Arzt und zurück und beim Arzt selbst anzurechnen ist (vgl. BSG Urteil vom 29.04.1999, Az.: B 3 P 7/98 R). Nach den als Anhaltspunkte vom Gericht herangezogenen Begutachtungsrichtlinien (D 4.3 Nr.15) sind Fahrzeiten dann zu berücksichtigen, wenn während der Fahrt Beaufsichtigungsbedarf besteht und deshalb eine kontinuierliche Begleitung der Pflegeperson erforderlich ist oder wenn die Anwesenheit beim Arzt erforderlich ist. Die Gutachter Dr.H. und Dr.C. sind sich darin einig, dass der Kläger Hilfe beim Ankleiden (vor allem Schuhe) sowie Begleitung bis zum Gehsteig wegen mehrfacher Stufen außer Haus benötigt. Den weiteren Weg kann der Kläger mit dem Rollator selbst zurücklegen. Dies gilt zumindest im großstädtischen Bereich auch für das Benutzen von Bus, Straßenbahn sowie U- und S-Bahn einschließlich des Umsteigens. Gerade bei der U-Bahn ist inzwischen ein barrierefreier Zugang gegeben. Eine Bereitschaftszeit der Begleitperson kann nicht angerechnet werden. Es steht dem Kläger frei, seine Ärzte unabhängig vom zurückzulegenden Weg auszuwählen. Es ist jedoch nicht Aufgabe der Pflegeversicherung, die Begleitung dorthin als Pflegeleistung zu gewähren, wenn die Begleitung als solche nicht notwendig ist. Ein allgemeiner Aufsichts-, Betreuungs- und Kontrollbedarf, sei es zur Vermeidung einer Eigen- als auch einer Fremdgefährdung, ist als Pflegebedarf nicht berücksichtigungsfähig. Das BSG hat in ständiger Rechtsprechung entschieden (vgl. BSG SozR 3-3300 § 14 Nr.8), dass das Gesetz keine Grundlage für die Berücksichtigung eines Hilfebedarfs in Form einer ständigen Anwesenheit und Aufsicht einer Pflegeperson bietet. Da der Kläger keine Einschränkung der Alltagskompetenz aufweist und auch nicht in die Gruppe der Kinder und Jugendlichen einzuordnen ist, besteht während der Fahrt und auch bei der Durchführung von Therapien kein Betreuungs- und Beaufsichtigungsbedarf. Deshalb kann die reine Fahrzeit sowie die Wartezeit bei den Ärzten nicht berücksichtigt werden. Berücksichtigungsfähig ist vorliegend allein der Zeitaufwand, der benötigt wird, um die Wohnung zu verlassen und ein Verkehrsmittel zu besteigen.

Auch die Feststellung der Merkzeichen "B" und "G" nach dem Schwerbehindertenrecht hat keine Bindungswirkung für das Recht des SGB XI. Die Voraussetzungen einer Zuordnung zu den Pflegestufen des SGB XI sind nach den darin enthaltenen Kriterien zu ermitteln (vgl. BSG Urteil vom 26.11.1998, B 3 P 20/97 R).

Letztlich kann der Senat offenlassen, ob der Kläger einmal wöchentlich seinen Hausarzt aufsucht. Die von ihm hierzu vorgelegten Belege reichen nicht aus, um dies zu beweisen. Es spielt aber letztlich keine Rolle, da der Kläger während der Fahrt nicht beaufsichtigt werden muss.

Die Berufung war deshalb zurückzuweisen.

Die Kostenfolge ergibt sich aus § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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