Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 34 KR 1430/08
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 1 KR 68/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 4. Juni 2010 aufgehoben und die Klage abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte verpflichtet ist, die Klägerin mit intravenös verabreichten Immunglobulinen zu versorgen.
Bei der 1959 geborenen Klägerin besteht seit 1987 eine Multiple Sklerose, die sich schubförmig mit Residuen manifestierte. Seit einer erlittenen Lungenembolie wird bei ihr eine Marcumar-Behandlung durchgeführt; sie leidet außerdem unter depressiven Verstimmungszuständen. Mit Schreiben vom 13. April und 22. November 2000 erteilte die Beklagte ihr jeweils für ein halbes Jahr die Zustimmung zur Abrechnung einer Immunglobulin-Therapie über ihre Versichertenkarte. In den Jahren 2000 bis 2008 wurden ihr daraufhin von ihrem behandelnden Nervenarzt Dr. E. intravenös zu verabreichende Immunglobuline vertragsärztlich verordnet. Nachdem dieser insoweit von den Ersatzkassen in Regress genommen wurde, stellte er diese Verordnungsweise ein, woraufhin die Klägerin im September 2008 bei der Beklagten eine Zusage für die künftige Kostenübernahme beantragte. Der von der Beklagten beauftragte Medizinische Dienst der Krankenversicherungen (MDK) Nord kam in seinem Gutachten vom 5. November 2008 zu dem Ergebnis, dass grundsätzlich Behandlungsalternativen in Form von zugelassenen Arzneimitteln vorhanden seien. Außerdem gebe es bisher keine randomisierten, kontrollierten Phase III-Studien, die eine Zulassung der intravenös verabreichten Immunglobuline für die Behandlung der Multiplen Sklerose erwarten ließen. Die Beklagte lehnte daraufhin die Kostenübernahme durch Bescheid vom 13. November 2008 ab.
Mit ihrem dagegen gerichteten Widerspruch wies die Klägerin darauf hin, dass Behandlungsversuche mit den zugelassenen Medikamenten wegen Unverträglichkeit hätten abgebrochen werden müssen beziehungsweise von vornherein wegen der notwendigen Marcumartherapie nicht möglich seien. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 16. Dezember 2008 zurück und führte aus, dass Immunglobuline zur Behandlung der bei der Klägerin vorliegenden Erkrankung nicht zugelassen seien. Die Voraussetzungen eines zulassungsüberschreitenden Arzneimittelgebrauchs (Off Label Use) seien nicht erfüllt, weil zugelassene Arzneimittel für die Behandlung zur Verfügung stünden. Die hiermit verbundenen Nebenwirkungen hielten sich im Rahmen der Angaben der Hersteller und seien zwar möglicherweise unangenehm, aber nicht lebensbedrohlich. Des Weiteren gebe es keine gesicherte Datenlage für die Annahme eines hinreichenden Behandlungserfolges mit Immunglobulinen. Die Klägerin hat dagegen Klage erhoben und erneut vorgetragen, dass Behandlungsalternativen bei ihr wegen der depressiven Verstimmungszustände und der Einstellung auf Marcumar nicht gegeben seien. In Fachkreisen werde die einhellige Meinung vertreten, dass bei Patienten mit Multipler Sklerose die Behandlung mit Immunglobulinen durchaus angebracht und erfolgversprechend sei, wenn andere Mittel nicht zur Verfügung stünden. Dies habe auch Eingang in die Leitlinien der entsprechenden Fachgesellschaften gefunden. Im Übrigen sei die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Dezember 2005 (1 BvR 347/98 - Juris) zu beachten, wonach bei lebensbedrohlichen Erkrankungen nur eine nicht ganz entfernt liegende Möglichkeit eines Behandlungserfolgs ausreichend sei. Die statistische Lebenserwartung der Klägerin sei aufgrund ihrer Erkrankung erheblich herabgesetzt und im konkreten Fall werde die Erkrankung in naher Zukunft unweigerlich zum Tode führen. Während der Behandlung mit intravenös verabreichten Immunglobulinen habe sich die Schubrate deutlich verringert, nach Einstellung der Behandlung habe sich ihr Gesundheitszustand massiv verschlechtert.
Das Sozialgericht hat im Rahmen des Klagverfahrens ein fachneurologisches Gutachten von Prof. Dr. H. vom 3. Februar 2010 eingeholt. Dieser hat ausgeführt, bei der Klägerin habe vom Zeitpunkt der Indikationsstellung für die Behandlung mit intravenös verabreichten Immunglobulinen bis zu ihrem Aussetzen eine schubförmige Multiple Sklerose mit Residuen bestanden. Mittlerweile müsse das Krankheitsbild aber deutlich als sekundär-progredient interpretiert werden. Die Erkrankung sei schwerwiegend und beeinträchtige die Lebensqualität auf Dauer und nachhaltig. Für einen voraussehbar tödlichen Verlauf gebe es keine Anhaltspunkte, allerdings reduziere sich bei weiterer Progression über den gegenwärtigen Stand hinaus die Lebenswartung. Behandlungsalternativen seien grundsätzlich vorhanden, die entsprechenden Mittel seien aber nach dem damaligen Kenntnisstand nachvollziehbar abgesetzt worden. Unter der Behandlung mit intravenös verabreichten Immunglobulinen habe sich die Schubrate anamnestisch glaubhaft reduziert. Nachdem frühere Studien insgesamt mehr Daten für als gegen eine Wirksamkeit der Behandlung mit intravenös verabreichten Immunglobulinen hätten zeigen können, sei die 2008 abgeschlossene PRIVIG-Studie ("Prevention of Relapse with Intravenous Immunoglobulin") negativ ausgefallen. Eine schlüssige Erklärung für diese Diskrepanz habe man bisher nicht gefunden, die Diskussion in Fachkreisen darüber halte an. Relevante neuere Studien gebe es nicht. In Fachkreisen werde die Behandlung mit intravenös verabreichten Immunglobulinen aber weiterhin als Reservemedikament bei schubförmiger Multipler Sklerose angesehen, wenn die zugelassenen Mittel kontraindiziert seien oder nicht vertragen würden. Für andere Indikationen als die schubförmige Multiple Sklerose könne die Behandlung mit intravenös verabreichten Immunglobulinen nicht empfohlen werden.
Das Sozialgericht hat die Beklagte mit Urteil vom 4. Juni 2010 – der Beklagten zugestellt am 28. Juli 2010 – verurteilt, die Kosten der Behandlung mit intravenös verabreichten Immunglobulinen bei der Klägerin künftig zu übernehmen. Es hat ausgeführt, dass die Voraussetzungen für einen zulassungsüberschreitenden Arzneimittelgebrauch erfüllt seien. Die Klägerin leide unter einer schwerwiegenden Erkrankung, für deren Behandlung zugelassene Arzneimittel nicht zur Verfügung stünden, weil diese ihr aufgrund ihrer weiteren Erkrankungen unzumutbar seien. Es bestehe auch Konsens in den einschlägigen Fachkreisen über den Nutzen der Behandlung mit intravenös verabreichten Immunglobulinen bei Multipler Sklerose. Zwar gebe es keine veröffentlichte Studie, die die Zulassungsreife belegen würde. Es müsse aber unter Berücksichtigung des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit genügen, dass in den Empfehlungen und Leitlinien der entsprechenden Fachgesellschaften Immunglobuline weiterhin als Alternative in der Behandlung von schubförmiger Multipler Sklerose angesehen würden.
Die Beklagte hat dagegen am 24. August 2010 Berufung eingelegt und trägt vor, entgegen der Auffassung des Sozialgerichts müsse die Qualität der wissenschaftlichen Erkenntnisse über den Behandlungserfolg derjenigen für die Zulassungsreife des Arzneimittels für die fragliche Indikation entsprechen. Diese Voraussetzung sei bezüglich der Behandlung der schubförmig verlaufenden Multiplen Sklerose mit intravenös verabreichten Immunglobulinen bis heute nicht erfüllt. Nach wie vor seien keine Forschungsergebnisse ersichtlich, die eine Zulassung der intravenös verabreichten Immunglobuline für diese Erkrankung erwarten ließen. Daran ändere auch die aktuelle Bewertung der Expertengruppe Off Label im Bereich Neurologie/Psychiatrie nach § 35b Abs. 3 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch – Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) zur Anwendung von intravenös verabreichten Immunglobulinen bei Multipler Sklerose nichts, da diese einstimmig entschieden habe, weder eine positive noch eine negative Empfehlung abzugeben.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 4. Juni 2010 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verweist auf ihr bisheriges Vorbringen und die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils sowie auf ein Attest ihres Nervenarztes K. vom 24. Februar 2011, in dem über eine massive Verschlechterung ihres physischen Zustandes mit deutlicher Zunahme der spastischen Tetraparese sowie der depressiven Symptomatik seit Sommer 2007 berichtet wird. Ergänzend trägt die Klägerin vor, dass die vom Bundessozialgericht aufgestellten Anforderungen an einen Off Label Use unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Dezember 2005 (a.a.O.) nicht sachgerecht und lebensfremd seien, da Studien letztlich durch die Pharmaindustrie finanziert würden und dies nur bei entsprechender Rentabilität der Fall sei. Wie das Sozialgericht zutreffend ausgeführt habe, bestehe in Fachkreisen Konsens über die Wirksamkeit der Therapie bei fehlenden Behandlungsalternativen. Die Klägerin selbst habe eine achtjährige positive Erfahrung mit intravenös verabreichten Immunglobulinen. Ohne das Absetzen des Medikaments wäre ihr gesundheitlicher Zustand nicht so schlecht wie er nun tatsächlich sei.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Prozessakte und die ausweislich der Sitzungsniederschrift vom 15. Dezember 2011 zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Akten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte und auch sonst zulässige (§§ 143, 151 SGG) Berufung ist auch begründet. Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts kann die Klägerin die Versorgung mit intravenös verabreichten Immunglobulinen zur Behandlung der bei ihr bestehenden Multiplen Sklerose nicht beanspruchen.
Gemäß §§ 27 Abs. 1 S. 1 und S. 2 Nr. 3 i.V.m. 31 SGB V haben Versicherte grundsätzlich Anspruch auf Krankenbehandlung in Form der Versorgung mit Arzneimitteln, wenn diese notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Dieser Anspruch unterliegt jedoch den Einschränkungen aus § 2 Abs. 1 S. 3 und § 12 Abs. 1 SGB V. Er besteht nur für solche Pharmakotherapien, die sich bei dem vorhandenen Krankheitsbild als zweckmäßig und wirtschaftlich erwiesen haben und deren Qualität und Wirksamkeit dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entspricht. Diese Anforderungen sind nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesozialgerichts nicht erfüllt, wenn das verabreichte Medikament nach den Vorschriften des Arzneimittelrechts der Zulassung bedarf, aber nicht zugelassen ist. Ebenso kann ein Arzneimittel auch dann, wenn es zum Verkehr zugelassen ist, grundsätzlich nicht zu Lasten der Krankenversicherung in einem Anwendungsgebiet verordnet werden kann, auf das sich die Zulassung nicht erstreckt (BSG, Urteil vom 19.03.2002 – B 1 KR 37/00 R; BSG, Urteil vom 26.09.2006 – B 1 KR 14/06 R; beide Juris). Eine zulassungsüberschreitende Anwendung liegt hier vor, da intravenös verabreichte Immunglobuline zwar für die Therapie anderer Erkrankungen, nicht aber für die Behandlung der Multiplen Sklerose zugelassen sind.
Der Ausschluss einer zulassungsüberschreitenden Anwendung von Arzneimitteln in der gesetzlichen Krankenversicherung gilt nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (a.a.O.) allerdings nicht ausnahmslos, wenn es sich um unverzichtbare und erwiesenermaßen wirksame Therapien handelt. Wegen des dargestellten Vorrangs des Arzneimittelrechts muss dies aber auf Fälle beschränkt bleiben, in denen einerseits ein unabweisbarer und anders nicht zu befriedigender Bedarf an der Arzneitherapie besteht und andererseits die therapeutische Wirksamkeit und Unbedenklichkeit der Behandlung hinreichend belegt sind. Die Verordnung eines Medikaments in einem von der Zulassung nicht umfassten Anwendungsgebiet kommt deshalb nur in Betracht, wenn es (1) um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, (2) keine andere Therapie verfügbar ist und (3) aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann.
Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Zwar handelt es sich bei der Multiplen Sklerose jedenfalls in der bei der Klägerin vorliegenden Ausprägung um eine schwerwiegende, die Lebensqualität nachhaltig beeinträchtigende Krankheit. Ebenso spricht vieles dafür, dass anderweitige Therapiemöglichkeiten im Falle der Klägerin fehlen. Dies kann aber dahin stehen, da jedenfalls aufgrund der Datenlage keine hinreichend begründete Aussicht auf einen Behandlungserfolg besteht. Hierfür genügt es nicht, dass die Behandlung der Klägerin im Einzelfall erfolgreich ist. Damit dies angenommen werden kann, müssen vielmehr Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann. Das ist der Fall, wenn entweder die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt ist und die Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit bei vertretbaren Risiken belegen oder wenn außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und auf Grund deren in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht (BSG, Urteil vom 19.03.2002, a.a.O.; BSG, Urteil vom 26.09.2006, a.a.O.). Dabei muss die Qualität der wissenschaftlichen Erkenntnisse während und außerhalb eines arzneimittelrechtlichen Zulassungsverfahrens regelmäßig gleich sein, da es für den Schutz der Patienten gleichgültig ist, ob die erforderlichen Erkenntnisse innerhalb oder außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnen worden sind (BSG, Urteil vom 26.09.2006, a.a.O.). Es müssen also grundsätzlich alle drei Phasen einer klinischen Prüfung durchlaufen und mit erfolgreichen Studien beendet worden sein. Ergibt die Überprüfung einer durchgeführten Studie – auch der Phase III – keinen hinreichenden Beleg für einen zu erwartenden Behandlungserfolg, ist regelmäßig die dritte Voraussetzung für einen zulassungsüberschreitenden Arzneimittelgebrauch zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung nicht erfüllt (BSG, Urteil vom 28.02.2008 – B 1 KR 15/07 R – Juris). So liegt der Fall hier.
Zwar wurden seit Ende der neunziger Jahre mehrere Studien veröffentlicht, die eine Abnahme der Schubrate unter der Therapie der schubförmigen Multiplen Sklerose mit intravenös verabreichten Immunglobulinen beschrieben haben. Diese Studien entsprachen in ihrer Qualität aber nicht Phase III-Studien, da sie zum Teil sehr kurz und mit kleiner Teilnehmerzahl sowie mit unterschiedlichen klinischen Dosierungen durchgeführt und die Standardtherapien nicht als Kontrollarm gewählt wurden. Erst die 2006 abgeschlossene und 2008 veröffentlichte PRIVIG-Studie stellt eine methodisch hochwertige Phase III-Studie dar, die jedoch die Ergebnisse der früheren Studien nicht bestätigen konnte. Vielmehr hat sich die Therapie der Multiplen Sklerose mit intravenös verabreichten Immunglobulinen in dieser Studie nicht als wirksamer erwiesen als ein Placebo (Quelle: Stellungnahme des Paul-Ehrlich-Instituts aus dem Juni 2007 (www.pei.de/DE/infos/ fachkreise/am-infos-ablage/infos/2005-10-21-ms-ig.html)).
Neuere relevante Studien sind seit der PRIVIG-Studie nicht erschienen, wie auch der vom Sozialgericht beauftragte Sachverständige Prof. H. in seinem Gutachten vom 3. Februar 2010 bestätigt hat. Soweit er darauf hingewiesen hat, dass es für die Diskrepanz zwischen den Ergebnissen dieser Studie und früheren Untersuchungen keine schlüssige Erklärung gebe und die Bewertung der PRIVIG-Studie in der Fachöffentlichkeit einer anhaltenden Diskussion unterliege, ändert dies nichts daran, dass jedenfalls keine die Wirksamkeit der begehrten Therapie bestätigende Phase III-Studie vorliegt, was aber Voraussetzung für eine zulassungsüberschreitende Anwendung des Arzneimittels wäre.
Das Gleiche ergibt sich aus der Bewertung der Expertengruppe Off-Label im Bereich Neurologie/Psychiatrie nach § 35b Abs. 3 SGB V zur Anwendung von intravenös verabreichten Immunglobulinen im Anwendungsgebiet Multiple Sklerose vom 21. Juni 2010, in der darauf hingewiesen wird, dass die älteren Studien zwar für eine Wirksamkeit der intravenös verabreichten Immunglobuline bei schubförmiger MS sprächen, diese aber aus heutiger Sicht methodisch nicht hinreichend aussagefähig seien (S. 34 ff., 38, 41). Methodisch hochwertig sei lediglich die 2008 veröffentlichte PRIVIG-Studie, die aber überraschenderweise keinen Vorteil zugunsten der intravenös verabreichten Immunglobuline gegenüber Placebo gezeigt habe. Die bisherige Bewertung der intravenös verabreichten Immunglobuline bei schubförmiger Multiplen Sklerose, wie sie auch in den entsprechenden Leitlinien zu finden sei, sei daher zu überdenken (S. 40). Aufgrund dieser Bewertung der Expertengruppe hat der Gemeinsame Bundesausschuss am 20. Oktober 2011 beschlossen, in die Richtlinie über die Verordnung von Arzneimitteln in der vertragsärztlichen Versorgung (Arzneimittel-Richtlinie) in der Fassung vom 18. Dezember 2008 / 22. Januar 2009 (BAnz. Nr. 49a vom 31. März 2009) auch künftig keine Regelung zum Off Label Use von intravenösen Immunglobulinen zur Behandlung der Multiplen Sklerose aufzunehmen.
Es handelt sich bei der Multiplen Sklerose auch nicht um eine Krankheit, die weltweit nur so extrem selten auftritt, dass sie deshalb im nationalen wie internationalen Rahmen weder systematisch erforscht noch behandelt werden kann und bei der somit für den Wirksamkeitsnachweis positiv einem bestimmten Standard entsprechende Forschungsergebnisse nicht verlangt werden könnten (BSG, Urteil vom 28.02.2008, a.a.O.). Entgegen dem Vorbringen der Klägerin ist es auch nicht so, dass eine Phase III-Studie wegen mangelnder Rentabilität nicht erwartet werden könnte. Vielmehr liegt mit der PRIVIG-Studie eine Phase III-Studie vor, die aber die Wirksamkeit der begehrten Therapie gerade nicht bestätigen konnte.
Nur ergänzend wird daher darauf hingewiesen, dass die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie zur Diagnostik und Therapie der Multiplen Sklerose, Stand 2008, S. 14 f., 19) eine Empfehlung für die Behandlung mit intravenös verabreichten Immunglobulinen nur für die schubförmige Multiple Sklerose – nicht aber für die anderen Formen der Multiplen Sklerose – vorsehen. Diese Auffassung wird auch von Prof. H. geteilt, der in seinem Gutachten aber zu der Auffassung gelangt ist, dass die Erkrankung der Klägerin mittlerweile in eine sekundär-progrediente Verlaufsform übergegangen ist.
Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 06.12.2005, a.a.O.), wonach es mit dem Verfassungsrecht nicht zu vereinbaren ist, einen gesetzlich Krankenversicherten, der unter einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Krankheit leidet, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht, von der Leistung einer von ihm gewählten ärztlichen Behandlung auszuschließen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder eine spürbare Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. Gerechtfertigt ist eine verfassungskonforme Auslegung der in Betracht kommenden Regelungen nur, wenn nach den konkreten Umständen des Falles anzunehmen ist, dass sich der voraussichtlich tödliche Krankheitsverlauf innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums mit großer Wahrscheinlichkeit verwirklichen wird (BSG, Urteil vom 28.02.2008, a.a.O.; BSG, Urteil vom 27.03.2007 – B 1 KR 17/06 R - Juris). Dies ist bei der Klägerin, die bereits seit mehr als 20 Jahren an Multipler Sklerose leidet, glücklicherweise nicht erkennbar. Für eine akute Lebensbedrohlichkeit ihrer Erkrankung hat weder der Sachverständige Prof. H. Anhaltspunkte gesehen noch sind diese dem Attest ihres Nervenarztes K. vom 24. Februar 2011 zu entnehmen. Soweit Prof. H. ausgeführt hat, durch eine weitere Progression des Krankheitsbildes würde die Lebenserwartung reduziert, erfüllt dies nicht die dargelegten Voraussetzungen. Nichts anderes folgt aus § 2 Abs. 1a SGB V, der mit Wirkung zum 1. Januar 2012 in das SGB V eingefügt worden ist und damit insoweit die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in geltendes Gesetzesrecht übernommen hat. Denn die in dieser Regelung bestimmten Voraussetzungen für einen Leistungsanspruch entsprechen den vom Bundesverfassungsgericht formulierten und ermöglichen keinen vereinfachten Zugang zu abweichenden Leistungen.
Schließlich ergibt sich ein Anspruch der Klägerin auch nicht aus einer etwaigen Bindungswirkung früherer Kostenzusagen. Die Schreiben der Beklagten vom 13. April 2000 und 22. November 2000 enthalten lediglich Kostenzusagen für jeweils ein halbes Jahr, nicht aber für eine unbegrenzte Versorgung mit Immunglobulinen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Rechtsstreits in der Hauptsache.
Der Senat hat die Revision gegen das Urteil nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte verpflichtet ist, die Klägerin mit intravenös verabreichten Immunglobulinen zu versorgen.
Bei der 1959 geborenen Klägerin besteht seit 1987 eine Multiple Sklerose, die sich schubförmig mit Residuen manifestierte. Seit einer erlittenen Lungenembolie wird bei ihr eine Marcumar-Behandlung durchgeführt; sie leidet außerdem unter depressiven Verstimmungszuständen. Mit Schreiben vom 13. April und 22. November 2000 erteilte die Beklagte ihr jeweils für ein halbes Jahr die Zustimmung zur Abrechnung einer Immunglobulin-Therapie über ihre Versichertenkarte. In den Jahren 2000 bis 2008 wurden ihr daraufhin von ihrem behandelnden Nervenarzt Dr. E. intravenös zu verabreichende Immunglobuline vertragsärztlich verordnet. Nachdem dieser insoweit von den Ersatzkassen in Regress genommen wurde, stellte er diese Verordnungsweise ein, woraufhin die Klägerin im September 2008 bei der Beklagten eine Zusage für die künftige Kostenübernahme beantragte. Der von der Beklagten beauftragte Medizinische Dienst der Krankenversicherungen (MDK) Nord kam in seinem Gutachten vom 5. November 2008 zu dem Ergebnis, dass grundsätzlich Behandlungsalternativen in Form von zugelassenen Arzneimitteln vorhanden seien. Außerdem gebe es bisher keine randomisierten, kontrollierten Phase III-Studien, die eine Zulassung der intravenös verabreichten Immunglobuline für die Behandlung der Multiplen Sklerose erwarten ließen. Die Beklagte lehnte daraufhin die Kostenübernahme durch Bescheid vom 13. November 2008 ab.
Mit ihrem dagegen gerichteten Widerspruch wies die Klägerin darauf hin, dass Behandlungsversuche mit den zugelassenen Medikamenten wegen Unverträglichkeit hätten abgebrochen werden müssen beziehungsweise von vornherein wegen der notwendigen Marcumartherapie nicht möglich seien. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 16. Dezember 2008 zurück und führte aus, dass Immunglobuline zur Behandlung der bei der Klägerin vorliegenden Erkrankung nicht zugelassen seien. Die Voraussetzungen eines zulassungsüberschreitenden Arzneimittelgebrauchs (Off Label Use) seien nicht erfüllt, weil zugelassene Arzneimittel für die Behandlung zur Verfügung stünden. Die hiermit verbundenen Nebenwirkungen hielten sich im Rahmen der Angaben der Hersteller und seien zwar möglicherweise unangenehm, aber nicht lebensbedrohlich. Des Weiteren gebe es keine gesicherte Datenlage für die Annahme eines hinreichenden Behandlungserfolges mit Immunglobulinen. Die Klägerin hat dagegen Klage erhoben und erneut vorgetragen, dass Behandlungsalternativen bei ihr wegen der depressiven Verstimmungszustände und der Einstellung auf Marcumar nicht gegeben seien. In Fachkreisen werde die einhellige Meinung vertreten, dass bei Patienten mit Multipler Sklerose die Behandlung mit Immunglobulinen durchaus angebracht und erfolgversprechend sei, wenn andere Mittel nicht zur Verfügung stünden. Dies habe auch Eingang in die Leitlinien der entsprechenden Fachgesellschaften gefunden. Im Übrigen sei die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Dezember 2005 (1 BvR 347/98 - Juris) zu beachten, wonach bei lebensbedrohlichen Erkrankungen nur eine nicht ganz entfernt liegende Möglichkeit eines Behandlungserfolgs ausreichend sei. Die statistische Lebenserwartung der Klägerin sei aufgrund ihrer Erkrankung erheblich herabgesetzt und im konkreten Fall werde die Erkrankung in naher Zukunft unweigerlich zum Tode führen. Während der Behandlung mit intravenös verabreichten Immunglobulinen habe sich die Schubrate deutlich verringert, nach Einstellung der Behandlung habe sich ihr Gesundheitszustand massiv verschlechtert.
Das Sozialgericht hat im Rahmen des Klagverfahrens ein fachneurologisches Gutachten von Prof. Dr. H. vom 3. Februar 2010 eingeholt. Dieser hat ausgeführt, bei der Klägerin habe vom Zeitpunkt der Indikationsstellung für die Behandlung mit intravenös verabreichten Immunglobulinen bis zu ihrem Aussetzen eine schubförmige Multiple Sklerose mit Residuen bestanden. Mittlerweile müsse das Krankheitsbild aber deutlich als sekundär-progredient interpretiert werden. Die Erkrankung sei schwerwiegend und beeinträchtige die Lebensqualität auf Dauer und nachhaltig. Für einen voraussehbar tödlichen Verlauf gebe es keine Anhaltspunkte, allerdings reduziere sich bei weiterer Progression über den gegenwärtigen Stand hinaus die Lebenswartung. Behandlungsalternativen seien grundsätzlich vorhanden, die entsprechenden Mittel seien aber nach dem damaligen Kenntnisstand nachvollziehbar abgesetzt worden. Unter der Behandlung mit intravenös verabreichten Immunglobulinen habe sich die Schubrate anamnestisch glaubhaft reduziert. Nachdem frühere Studien insgesamt mehr Daten für als gegen eine Wirksamkeit der Behandlung mit intravenös verabreichten Immunglobulinen hätten zeigen können, sei die 2008 abgeschlossene PRIVIG-Studie ("Prevention of Relapse with Intravenous Immunoglobulin") negativ ausgefallen. Eine schlüssige Erklärung für diese Diskrepanz habe man bisher nicht gefunden, die Diskussion in Fachkreisen darüber halte an. Relevante neuere Studien gebe es nicht. In Fachkreisen werde die Behandlung mit intravenös verabreichten Immunglobulinen aber weiterhin als Reservemedikament bei schubförmiger Multipler Sklerose angesehen, wenn die zugelassenen Mittel kontraindiziert seien oder nicht vertragen würden. Für andere Indikationen als die schubförmige Multiple Sklerose könne die Behandlung mit intravenös verabreichten Immunglobulinen nicht empfohlen werden.
Das Sozialgericht hat die Beklagte mit Urteil vom 4. Juni 2010 – der Beklagten zugestellt am 28. Juli 2010 – verurteilt, die Kosten der Behandlung mit intravenös verabreichten Immunglobulinen bei der Klägerin künftig zu übernehmen. Es hat ausgeführt, dass die Voraussetzungen für einen zulassungsüberschreitenden Arzneimittelgebrauch erfüllt seien. Die Klägerin leide unter einer schwerwiegenden Erkrankung, für deren Behandlung zugelassene Arzneimittel nicht zur Verfügung stünden, weil diese ihr aufgrund ihrer weiteren Erkrankungen unzumutbar seien. Es bestehe auch Konsens in den einschlägigen Fachkreisen über den Nutzen der Behandlung mit intravenös verabreichten Immunglobulinen bei Multipler Sklerose. Zwar gebe es keine veröffentlichte Studie, die die Zulassungsreife belegen würde. Es müsse aber unter Berücksichtigung des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit genügen, dass in den Empfehlungen und Leitlinien der entsprechenden Fachgesellschaften Immunglobuline weiterhin als Alternative in der Behandlung von schubförmiger Multipler Sklerose angesehen würden.
Die Beklagte hat dagegen am 24. August 2010 Berufung eingelegt und trägt vor, entgegen der Auffassung des Sozialgerichts müsse die Qualität der wissenschaftlichen Erkenntnisse über den Behandlungserfolg derjenigen für die Zulassungsreife des Arzneimittels für die fragliche Indikation entsprechen. Diese Voraussetzung sei bezüglich der Behandlung der schubförmig verlaufenden Multiplen Sklerose mit intravenös verabreichten Immunglobulinen bis heute nicht erfüllt. Nach wie vor seien keine Forschungsergebnisse ersichtlich, die eine Zulassung der intravenös verabreichten Immunglobuline für diese Erkrankung erwarten ließen. Daran ändere auch die aktuelle Bewertung der Expertengruppe Off Label im Bereich Neurologie/Psychiatrie nach § 35b Abs. 3 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch – Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) zur Anwendung von intravenös verabreichten Immunglobulinen bei Multipler Sklerose nichts, da diese einstimmig entschieden habe, weder eine positive noch eine negative Empfehlung abzugeben.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 4. Juni 2010 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verweist auf ihr bisheriges Vorbringen und die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils sowie auf ein Attest ihres Nervenarztes K. vom 24. Februar 2011, in dem über eine massive Verschlechterung ihres physischen Zustandes mit deutlicher Zunahme der spastischen Tetraparese sowie der depressiven Symptomatik seit Sommer 2007 berichtet wird. Ergänzend trägt die Klägerin vor, dass die vom Bundessozialgericht aufgestellten Anforderungen an einen Off Label Use unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Dezember 2005 (a.a.O.) nicht sachgerecht und lebensfremd seien, da Studien letztlich durch die Pharmaindustrie finanziert würden und dies nur bei entsprechender Rentabilität der Fall sei. Wie das Sozialgericht zutreffend ausgeführt habe, bestehe in Fachkreisen Konsens über die Wirksamkeit der Therapie bei fehlenden Behandlungsalternativen. Die Klägerin selbst habe eine achtjährige positive Erfahrung mit intravenös verabreichten Immunglobulinen. Ohne das Absetzen des Medikaments wäre ihr gesundheitlicher Zustand nicht so schlecht wie er nun tatsächlich sei.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Prozessakte und die ausweislich der Sitzungsniederschrift vom 15. Dezember 2011 zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Akten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte und auch sonst zulässige (§§ 143, 151 SGG) Berufung ist auch begründet. Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts kann die Klägerin die Versorgung mit intravenös verabreichten Immunglobulinen zur Behandlung der bei ihr bestehenden Multiplen Sklerose nicht beanspruchen.
Gemäß §§ 27 Abs. 1 S. 1 und S. 2 Nr. 3 i.V.m. 31 SGB V haben Versicherte grundsätzlich Anspruch auf Krankenbehandlung in Form der Versorgung mit Arzneimitteln, wenn diese notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Dieser Anspruch unterliegt jedoch den Einschränkungen aus § 2 Abs. 1 S. 3 und § 12 Abs. 1 SGB V. Er besteht nur für solche Pharmakotherapien, die sich bei dem vorhandenen Krankheitsbild als zweckmäßig und wirtschaftlich erwiesen haben und deren Qualität und Wirksamkeit dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entspricht. Diese Anforderungen sind nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesozialgerichts nicht erfüllt, wenn das verabreichte Medikament nach den Vorschriften des Arzneimittelrechts der Zulassung bedarf, aber nicht zugelassen ist. Ebenso kann ein Arzneimittel auch dann, wenn es zum Verkehr zugelassen ist, grundsätzlich nicht zu Lasten der Krankenversicherung in einem Anwendungsgebiet verordnet werden kann, auf das sich die Zulassung nicht erstreckt (BSG, Urteil vom 19.03.2002 – B 1 KR 37/00 R; BSG, Urteil vom 26.09.2006 – B 1 KR 14/06 R; beide Juris). Eine zulassungsüberschreitende Anwendung liegt hier vor, da intravenös verabreichte Immunglobuline zwar für die Therapie anderer Erkrankungen, nicht aber für die Behandlung der Multiplen Sklerose zugelassen sind.
Der Ausschluss einer zulassungsüberschreitenden Anwendung von Arzneimitteln in der gesetzlichen Krankenversicherung gilt nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (a.a.O.) allerdings nicht ausnahmslos, wenn es sich um unverzichtbare und erwiesenermaßen wirksame Therapien handelt. Wegen des dargestellten Vorrangs des Arzneimittelrechts muss dies aber auf Fälle beschränkt bleiben, in denen einerseits ein unabweisbarer und anders nicht zu befriedigender Bedarf an der Arzneitherapie besteht und andererseits die therapeutische Wirksamkeit und Unbedenklichkeit der Behandlung hinreichend belegt sind. Die Verordnung eines Medikaments in einem von der Zulassung nicht umfassten Anwendungsgebiet kommt deshalb nur in Betracht, wenn es (1) um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, (2) keine andere Therapie verfügbar ist und (3) aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann.
Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Zwar handelt es sich bei der Multiplen Sklerose jedenfalls in der bei der Klägerin vorliegenden Ausprägung um eine schwerwiegende, die Lebensqualität nachhaltig beeinträchtigende Krankheit. Ebenso spricht vieles dafür, dass anderweitige Therapiemöglichkeiten im Falle der Klägerin fehlen. Dies kann aber dahin stehen, da jedenfalls aufgrund der Datenlage keine hinreichend begründete Aussicht auf einen Behandlungserfolg besteht. Hierfür genügt es nicht, dass die Behandlung der Klägerin im Einzelfall erfolgreich ist. Damit dies angenommen werden kann, müssen vielmehr Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann. Das ist der Fall, wenn entweder die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt ist und die Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit bei vertretbaren Risiken belegen oder wenn außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und auf Grund deren in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht (BSG, Urteil vom 19.03.2002, a.a.O.; BSG, Urteil vom 26.09.2006, a.a.O.). Dabei muss die Qualität der wissenschaftlichen Erkenntnisse während und außerhalb eines arzneimittelrechtlichen Zulassungsverfahrens regelmäßig gleich sein, da es für den Schutz der Patienten gleichgültig ist, ob die erforderlichen Erkenntnisse innerhalb oder außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnen worden sind (BSG, Urteil vom 26.09.2006, a.a.O.). Es müssen also grundsätzlich alle drei Phasen einer klinischen Prüfung durchlaufen und mit erfolgreichen Studien beendet worden sein. Ergibt die Überprüfung einer durchgeführten Studie – auch der Phase III – keinen hinreichenden Beleg für einen zu erwartenden Behandlungserfolg, ist regelmäßig die dritte Voraussetzung für einen zulassungsüberschreitenden Arzneimittelgebrauch zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung nicht erfüllt (BSG, Urteil vom 28.02.2008 – B 1 KR 15/07 R – Juris). So liegt der Fall hier.
Zwar wurden seit Ende der neunziger Jahre mehrere Studien veröffentlicht, die eine Abnahme der Schubrate unter der Therapie der schubförmigen Multiplen Sklerose mit intravenös verabreichten Immunglobulinen beschrieben haben. Diese Studien entsprachen in ihrer Qualität aber nicht Phase III-Studien, da sie zum Teil sehr kurz und mit kleiner Teilnehmerzahl sowie mit unterschiedlichen klinischen Dosierungen durchgeführt und die Standardtherapien nicht als Kontrollarm gewählt wurden. Erst die 2006 abgeschlossene und 2008 veröffentlichte PRIVIG-Studie stellt eine methodisch hochwertige Phase III-Studie dar, die jedoch die Ergebnisse der früheren Studien nicht bestätigen konnte. Vielmehr hat sich die Therapie der Multiplen Sklerose mit intravenös verabreichten Immunglobulinen in dieser Studie nicht als wirksamer erwiesen als ein Placebo (Quelle: Stellungnahme des Paul-Ehrlich-Instituts aus dem Juni 2007 (www.pei.de/DE/infos/ fachkreise/am-infos-ablage/infos/2005-10-21-ms-ig.html)).
Neuere relevante Studien sind seit der PRIVIG-Studie nicht erschienen, wie auch der vom Sozialgericht beauftragte Sachverständige Prof. H. in seinem Gutachten vom 3. Februar 2010 bestätigt hat. Soweit er darauf hingewiesen hat, dass es für die Diskrepanz zwischen den Ergebnissen dieser Studie und früheren Untersuchungen keine schlüssige Erklärung gebe und die Bewertung der PRIVIG-Studie in der Fachöffentlichkeit einer anhaltenden Diskussion unterliege, ändert dies nichts daran, dass jedenfalls keine die Wirksamkeit der begehrten Therapie bestätigende Phase III-Studie vorliegt, was aber Voraussetzung für eine zulassungsüberschreitende Anwendung des Arzneimittels wäre.
Das Gleiche ergibt sich aus der Bewertung der Expertengruppe Off-Label im Bereich Neurologie/Psychiatrie nach § 35b Abs. 3 SGB V zur Anwendung von intravenös verabreichten Immunglobulinen im Anwendungsgebiet Multiple Sklerose vom 21. Juni 2010, in der darauf hingewiesen wird, dass die älteren Studien zwar für eine Wirksamkeit der intravenös verabreichten Immunglobuline bei schubförmiger MS sprächen, diese aber aus heutiger Sicht methodisch nicht hinreichend aussagefähig seien (S. 34 ff., 38, 41). Methodisch hochwertig sei lediglich die 2008 veröffentlichte PRIVIG-Studie, die aber überraschenderweise keinen Vorteil zugunsten der intravenös verabreichten Immunglobuline gegenüber Placebo gezeigt habe. Die bisherige Bewertung der intravenös verabreichten Immunglobuline bei schubförmiger Multiplen Sklerose, wie sie auch in den entsprechenden Leitlinien zu finden sei, sei daher zu überdenken (S. 40). Aufgrund dieser Bewertung der Expertengruppe hat der Gemeinsame Bundesausschuss am 20. Oktober 2011 beschlossen, in die Richtlinie über die Verordnung von Arzneimitteln in der vertragsärztlichen Versorgung (Arzneimittel-Richtlinie) in der Fassung vom 18. Dezember 2008 / 22. Januar 2009 (BAnz. Nr. 49a vom 31. März 2009) auch künftig keine Regelung zum Off Label Use von intravenösen Immunglobulinen zur Behandlung der Multiplen Sklerose aufzunehmen.
Es handelt sich bei der Multiplen Sklerose auch nicht um eine Krankheit, die weltweit nur so extrem selten auftritt, dass sie deshalb im nationalen wie internationalen Rahmen weder systematisch erforscht noch behandelt werden kann und bei der somit für den Wirksamkeitsnachweis positiv einem bestimmten Standard entsprechende Forschungsergebnisse nicht verlangt werden könnten (BSG, Urteil vom 28.02.2008, a.a.O.). Entgegen dem Vorbringen der Klägerin ist es auch nicht so, dass eine Phase III-Studie wegen mangelnder Rentabilität nicht erwartet werden könnte. Vielmehr liegt mit der PRIVIG-Studie eine Phase III-Studie vor, die aber die Wirksamkeit der begehrten Therapie gerade nicht bestätigen konnte.
Nur ergänzend wird daher darauf hingewiesen, dass die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie zur Diagnostik und Therapie der Multiplen Sklerose, Stand 2008, S. 14 f., 19) eine Empfehlung für die Behandlung mit intravenös verabreichten Immunglobulinen nur für die schubförmige Multiple Sklerose – nicht aber für die anderen Formen der Multiplen Sklerose – vorsehen. Diese Auffassung wird auch von Prof. H. geteilt, der in seinem Gutachten aber zu der Auffassung gelangt ist, dass die Erkrankung der Klägerin mittlerweile in eine sekundär-progrediente Verlaufsform übergegangen ist.
Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 06.12.2005, a.a.O.), wonach es mit dem Verfassungsrecht nicht zu vereinbaren ist, einen gesetzlich Krankenversicherten, der unter einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Krankheit leidet, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht, von der Leistung einer von ihm gewählten ärztlichen Behandlung auszuschließen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder eine spürbare Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. Gerechtfertigt ist eine verfassungskonforme Auslegung der in Betracht kommenden Regelungen nur, wenn nach den konkreten Umständen des Falles anzunehmen ist, dass sich der voraussichtlich tödliche Krankheitsverlauf innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums mit großer Wahrscheinlichkeit verwirklichen wird (BSG, Urteil vom 28.02.2008, a.a.O.; BSG, Urteil vom 27.03.2007 – B 1 KR 17/06 R - Juris). Dies ist bei der Klägerin, die bereits seit mehr als 20 Jahren an Multipler Sklerose leidet, glücklicherweise nicht erkennbar. Für eine akute Lebensbedrohlichkeit ihrer Erkrankung hat weder der Sachverständige Prof. H. Anhaltspunkte gesehen noch sind diese dem Attest ihres Nervenarztes K. vom 24. Februar 2011 zu entnehmen. Soweit Prof. H. ausgeführt hat, durch eine weitere Progression des Krankheitsbildes würde die Lebenserwartung reduziert, erfüllt dies nicht die dargelegten Voraussetzungen. Nichts anderes folgt aus § 2 Abs. 1a SGB V, der mit Wirkung zum 1. Januar 2012 in das SGB V eingefügt worden ist und damit insoweit die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in geltendes Gesetzesrecht übernommen hat. Denn die in dieser Regelung bestimmten Voraussetzungen für einen Leistungsanspruch entsprechen den vom Bundesverfassungsgericht formulierten und ermöglichen keinen vereinfachten Zugang zu abweichenden Leistungen.
Schließlich ergibt sich ein Anspruch der Klägerin auch nicht aus einer etwaigen Bindungswirkung früherer Kostenzusagen. Die Schreiben der Beklagten vom 13. April 2000 und 22. November 2000 enthalten lediglich Kostenzusagen für jeweils ein halbes Jahr, nicht aber für eine unbegrenzte Versorgung mit Immunglobulinen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Rechtsstreits in der Hauptsache.
Der Senat hat die Revision gegen das Urteil nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
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