L 7 R 4477/11

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
7
1. Instanz
SG Konstanz (BWB)
Aktenzeichen
S 4 R 1194/10
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 7 R 4477/11
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Konstanz vom 4. Oktober 2011 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt vom beklagten Rentenversicherungsträger die Gewährung einer stationären Maßnahme der medizinischen Rehabilitation.

Die am 1957 geborene, verheiratete Klägerin, Mutter von vier Kindern, war ab Oktober 2001 als kaufmännische Angestellte in Teilzeit (22 Stunden wöchentlich) versicherungspflichtig beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis endet zum 29. Februar 2012; derzeit ist sie von der Arbeit freigestellt. Nach ihren eigenen Angaben handelte es sich überwiegend um Arbeiten am Bildschirm mit Publikumsverkehr, "ständig" im Sitzen, zeitweise aber auch gehend oder stehend. Hebe- und Tragebelastungen fielen nicht an. Vor der Antragstellung war sie zuletzt arbeitsunfähig vom 9. bis 15. Oktober 2008 (essentielle Hypertonie), vom 9. bis 16. September 2009 (essentielle Hypertonie und Probleme mit Bezug auf Schwierigkeiten bei der Lebensbewältigung) und vom 19. bis 20. November 2009 (akute Infektion der oberen Atemwege). Die letzte stationäre Rehabilitationsmaßnahme war im Jahr 2005 gewährt worden.

Zur Begründung ihres am 2. März 2010 bei der Beklagten gestellten Rehabilitationsantrages gab sie als Gesundheitsstörungen an: Bluthochdruck, totale Erschöpfung, Rückenbeschwerden mit Bewegungseinschränkungen, starkes Übergewicht, Bronchitis, Pollenallergie, Herzrasen, Schilddrüsenüberfunktion. Aktuell bestünden Rückenschmerzen bei langem Sitzen, teilweise bei Zugluft, sowie allgemein Stress. Der behandelnde Allgemeinmediziner Dr. Schr. gab unter dem 22. Februar 2010 als Diagnosen ein Burn-Out-Syndrom bei Mobbing am Arbeitsplatz, Adipositas, Hypertonie sowie Lumbago bei Spondylolisthesis an. Bei schikanösem Verhalten des neuen Vorgesetzten sei es zu einem "Nervenzusammenbruch" gekommen, Herzrasen, Unruhe, Zittern, Schlafstörung; es bestünden ständig Rückenschmerzen. Derzeit erfolge eine medikamentöse Behandlung. Heilmittel (Physiotherapie) waren zuletzt im März 2007 verordnet worden.

Nach Auswertung durch die Beratungsärztin lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 9. März 2010 die Gewährung einer Rehabilitationsmaßnahme mangels Notwendigkeit ab; die gesundheitlichen Beeinträchtigungen (Erschöpfungszustand, Adipositas, Hypertonie, Lumbago) erforderten eine ambulante fachübergreifende Therapie und regelmäßige nervenärztliche Mitbehandlung/Richtlinienpsychotherapie. Die persönlichen Voraussetzungen nach § 10 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) seien nicht erfüllt; auch nach den Leistungsgesetzen anderer Rehabilitationsträger bestehe keine Rehabilitationsbedürftigkeit. Den vorwiegend mit akuten Rückenproblemen begründeten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 26. April 2010 als unbegründet zurück.

Hiergegen hat die Klägerin am 19. Mai 2010 Klage beim Sozialgericht Konstanz (SG) erhoben und zur Begründung erneut auf akute Rückenbeschwerden verwiesen; seit dem 19. Januar 2011 nehme sie durchgehend und regelmäßig Krankengymnastik und Lymphdrainage in Anspruch; auf Bl. 69/70 der SG-Akte wird Bezug genommen. Das SG hat die behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen schriftlich befragt. Dr. Schr. hat unter dem 18. Juli 2010 ausgeführt, die Erwerbsfähigkeit der Klägerin sei im Rahmen des Burn-Out-Syndroms eingeschränkt und in Zusammenschau mit körperlichen Beschwerden deutlich gefährdet. Am 9. September 2009 sei es nach einer Auseinandersetzung mit der neuen Chefin zu einem Nervenzusammenbruch gekommen; seither bestünden Schlafstörungen und Anfälle mit deutlich erhöhtem Blutdruck und Puls sowie Verstärkung der Rückenprobleme. Die Klägerin sei psychisch und körperlich am Ende gewesen und habe sich nur langsam erholt. Eine Herausnahme aus Familie und Beruf zur Stabilisierung sei der Klägerin schon einmal gut bekommen. In einem beigelegten Arztbrief des Chirurgen und Phlebologen Dr. Schn. vom 28. Juni 2010 (Bl. 16 der SG-Akte) wird u.a. ein primäres Beinlymphödem beidseits (Stadium I/II) beschrieben und diesbezüglich eine komplexe physikalische Entstauungsbehandlung empfohlen. Die Fachärztin für Innere Medizin Dr. Gr. hat eine arterielle Hypertonie beschrieben, aus der sich keine wesentliche Einschränkung der Leistungsfähigkeit ergebe (Stellungnahme vom 18. August 2010, Bl. 24/27 der SG-Akte). Der im Jahr 2010 behandelnde Orthopäde Dr. B. hat Beinschmerzen links, ein pseudoradikuläres Lumbalsyndrom sowie ein chronisches LWS-Syndrom als gesichert angesehen, gleichwohl eine konkrete Gefährdung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit der Klägerin im Beruf einer kaufmännischen Angestellten ausgeschlossen (Stellungnahme vom 23. Oktober 2010; Bl. 34/38, 41/42 der SG-Akte). Zur gleichen Einschätzung ist die im Jahr 2011 behandelnde Fachärztin für Physikalische und Rehabilitative Medizin Schürfeld in ihrer Stellungnahme vom 21. Juni 2011 gekommen (Bl. 60/61 der SG-Akte).

Mit Gerichtsbescheid vom 4. Oktober 2011 hat das SG die Klage abgewiesen. Die Erwerbsfähigkeit der Klägerin sei aktuell weder gemindert noch gefährdet. Eine stationäre Maßnahme scheide aus, da eine ambulante Therapie ausreiche.

Gegen diese ihr am 6. Oktober 2011 zugestellte Entscheidung hat die Klägerin Berufung eingelegt, die am 7. Oktober 2011 beim SG eingegangen ist. Zur Begründung hat sie ausgeführt, die regelmäßig durchgeführte Krankengymnastik und Lymphdrainage bringe zwar kurzfristig Entspannung. Wegen des zeitlichen Aufwandes hierfür erhöhe sich aber wegen der dann fehlenden Zeit der Stress im Alltag.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Konstanz vom 4. Oktober 2011 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 9. März 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. April 2010 zu verurteilen, ihr eine stationäre Maßnahme zur medizinischen Rehabilitation zu gewähren, hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, über ihren Antrag vom 2. März 2010 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Verwaltungsakte der Beklagten, der Verfahrensakte des SG und des Senats sowie auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gem. § 151 Abs. 1 und 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin ist zulässig, hat aber in der Sache keinen Erfolg. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen.

Nach § 9 Abs. 1 Satz 1 SGB VI erbringt die Rentenversicherung Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sowie ergänzende Leistungen, um (1.) den Auswirkungen einer Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung auf die Erwerbsfähigkeit der Versicherten entgegenzuwirken oder sie zu überwinden und (2.) dadurch Beeinträchtigungen der Erwerbsfähigkeit der Versicherten oder ihr vorzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben zu verhindern oder sie möglichst dauerhaft in das Erwerbsleben wiedereinzugliedern. Wie das SG zutreffend ausgeführt hat, bezieht sich das der Beklagten in § 9 Abs. 2 SGB VI eingeräumte Ermessen nach § 13 SGB VI nur auf das "Wie" der Durchführung, nicht das "Ob". Ohne Anhaltspunkte dafür, dass ausschließlich die Gewährung gerade einer stationären Rehabilitationsmaßnahme die einzige, dem Gesetzeszweck entsprechende Entscheidung darstellte (Ermessensreduktion auf Null), bliebe der Hauptantrag der Klägerin schon aus diesem Grunde ohne Erfolg. Ihr Begehren war daher bei sachdienlicher Auslegung zumindest hilfsweise auch auf eine Verpflichtung der Beklagten zur Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts gerichtet.

Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die begehrte stationäre Maßnahme zur medizinischen Rehabilitation oder auf Neubescheidung. Sie erfüllt zwar die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen des § 11 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI; auch sind die Ausschlussgründe des § 12 SGB VI nicht gegeben. Die Klägerin erfüllt hingegen nicht die persönlichen Voraussetzungen des § 10 Abs. 1 SGB VI. Danach haben Versicherte die persönlichen Voraussetzungen für Leistungen zur Teilhabe erfüllt (1.) deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung erheblich gefährdet oder gemindert ist und (2.) bei denen voraussichtlich (a) bei erheblicher Gefährdung der Erwerbsfähigkeit eine Minderung der Erwerbsfähigkeit durch Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben abgewendet werden kann, (b) bei geminderter Erwerbsfähigkeit diese durch Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben wesentlich gebessert oder wiederhergestellt oder hierdurch deren wesentliche Verschlechterung abgewendet werden kann, (c) bei teilweiser Erwerbsminderung ohne Aussicht auf eine wesentliche Besserung der Erwerbsfähigkeit der Arbeitsplatz durch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erhalten werden kann.

Erwerbsfähigkeit im Sinne dieser Vorschrift ist die Fähigkeit zur möglichst dauernden Ausübung der bisherigen beruflichen Tätigkeit im normalen Umfange; auf eine im Rahmen des § 240 SGB VI mögliche Verweisungstätigkeit kommt es nicht an. Entscheidend ist, ob der Versicherte den typischen Anforderungen des ausgeübten Berufes noch nachkommen kann; außer Betracht bleiben die spezifischen Belastungen und Anforderungen des konkreten Arbeitsplatzes, die nicht berufstypisch sind (zum Ganzen Kater in KassKomm, SGB VI, § 10 Rdnr. 3 m.w.N.). Maßgebend ist mithin hier die von der Klägerin zuletzt seit Oktober 2001 ausgeübte Tätigkeit einer kaufmännischen Angestellten.

Bei der Beurteilung der beruflichen Leistungsfähigkeit bzw. deren Gefährdung stehen im Vordergrund die Rückenbeschwerden der Klägerin, mit denen diese ihr Begehren seit dem Widerspruch begründet. Dr. B. hat zwar ein pseudoradikuläres Lumbalsyndrom sowie ein chronisches LWS-Syndrom als gesichert angesehen, hatte aber im Jahr 2010 keine wesentlichen funktionellen Einschränkungen erheben können, ebenso wenig radikuläre Reiz- oder Ausfallerscheinungen der Beine. Nach Abschluss einer Behandlung mit manueller Therapie und Akupunktur konnte eine weitgehende Beschwerdefreiheit erreicht werden. Bei einer Wiedervorstellung nach zwei Monaten gab die Klägerin zwar wieder vermehrte Schmerzen an; an der LWS zeigte sich aber noch immer ein blander Befund. Für den Senat überzeugend kam der Orthopäde daher zu der Einschätzung, dass die Erwerbsfähigkeit der Klägerin im Beruf einer kaufmännischen Angestellten aktuell weder gemindert noch konkret gefährdet sei. Darüber hinaus sieht er - ebenfalls nachvollziehbar - für die langfristige Abwendung einer Gefährdung der Erwerbsfähigkeit intensive ambulante Krankengymnastikbehandlung und Gewichtsreduktion als ausreichend an. Weiteres Indiz für die Richtigkeit dieser Einschätzung ist der Umstand, dass eine Arbeitsunfähigkeit von ihm nicht attestiert worden war. Die die Klägerin im Jahr 2011 auf orthopädischem Fachgebiet behandelnde Ärztin Schürfeld bestätigte zwar eine Arbeitsunfähigkeit vom 19. bis 29. Januar 2011; auch fand sie aufgrund einer MRT-Untersuchung neben der bereits vorbeschriebenen Spondylolisthesis eine Pseudolysthesis L5/S1 mit Facettengelenksarthrose sowie eine kleine mediale Bandscheibenprotrusion an L4/5. Sie hat jedoch deutlich gemacht, dass diese Veränderungen noch nicht so ausgeprägt sind, dass sie in absehbarer Zeit zu einer deutlichen Verschlechterung mit Nervenwurzelkompressionen und neurologischen Ausfällen führen würden. Angesichts des von ihr erhobenen klinischen Befundes mit Druckschmerz an den bezeichneten Wirbelabschnitten ohne Klopfschmerzhaftigkeit der Wirbelsäule, einer eingeschränkten In-, aber freien Reklination der Lendenwirbelsäule sowie einer nur leichten Fußheber- und -senkerschwäche links kommt auch diese Ärztin für den Senat überzeugend zu der Einschätzung, dass die Erwerbsfähigkeit der Klägerin im Beruf einer kaufmännischen Angestellten derzeit weder gemindert noch gefährdet ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass diese Tätigkeit eine körperlich leichte ohne Hebe- oder Tragebelastungen ist. Häufiges Bücken und dauernde Zwangshaltungen kommen nicht vor. Auch wenn die Klägerin überwiegende Bildschirmarbeiten beschrieben hat, ist ein Haltungswechsel frei möglich ebenso zeitweises Stehen oder Gehen. Allein aus der Behandlungsbedürftigkeit der Gesundheitsstörungen kann nicht auf die Minderung oder Gefährdung der Erwerbsfähigkeit geschlossen werden. Darüber hinaus hat auch die Klägerin eingeräumt, dass die durchgeführten ambulanten Therapien jeweils zu einer Verbesserung bzw. Entlastung geführt haben; negativ bewertet sie nur den damit verbundenen Zeitaufwand.

Aus den weiteren Gesundheitsstörungen auf anderen Fachgebieten ergibt sich ebenfalls keine Gefährdung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit. Die arterielle Hypertonie wird erfolgreich medikamentös behandelt, eine hypertensive Herzerkrankung hat sich nicht entwickelt. Dies ergibt sich aus der fachärztlichen Stellungnahme der Internistin Dr. Gr., die in ihrer Stellungnahme als sachverständige Zeugin konsequenterweise eine Gefährdung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit ausschließt. Allgemeinmediziner Dr. Schr. hat in seiner Stellungnahme zwar ausgeführt, die Erwerbsfähigkeit der Klägerin sei im Rahmen des Burn-Out deutlich eingeschränkt und in der Zusammenschau mit den körperlichen Beschwerden in absehbarer Zeit erheblich gefährdet gewesen; nach dem "Nervenzusammenbruch" anlässlich eines Arbeitsplatzkonfliktes im September 2009 habe sich die Klägerin nur langsam erholt. Dies zeigt zunächst, dass die Gefährdungslage überwiegend in der Vergangenheit gesehen wird. Eine konsequente psychiatrische oder psychologische Behandlung wurde nicht in Anspruch genommen, längere oder gehäufte Arbeitsunfähigkeitszeiten sind nicht aufgetreten. Daher vermag der Senat hieraus keine aktuell gefährdete oder geminderte Erwerbsfähigkeit abzuleiten. Hinsichtlich der körperlichen Gesundheitsstörungen hält der Senat die fachärztlichen Stellungnahmen und Einschätzungen aus den oben genannten Gründen für nachvollziehbar und daher gewichtiger.

Die persönlichen Voraussetzungen des § 10 SGB VI liegen somit nicht vor. Ansprüche nach anderen Leistungsgesetzen kommen angesichts des beschriebenen Leistungsbildes ebenfalls nicht in Betracht, insbesondere steht eine Behinderung oder Pflegebedürftigkeit nicht im Raum (§ 40 i.V.m. § 11 Abs. 2 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG), liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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