L 8 SB 1643/11

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
8
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 10 SB 1629/09
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 SB 1643/11
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 25. März 2011 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Höhe des Grades der Behinderung (GdB) nach dem Sozialgesetzbuch - Neuntes Buch - (SGB IX) streitig.

Bei der 1951 geborenen Klägerin stellte das Landratsamt K. (LRA) mit Neufeststellungsbescheid vom 25.10.2005 unter Berücksichtigung von psychovegetativen Störungen, einer Funktionsbehinderung der Wirbelsäule und einer Funktionsbehinderung des rechten Hüftgelenks einen GdB von 30 seit 18.05.2005 sowie eine dauernde Einbuße der körperlichen Beweglichkeit im Sinne des § 33 b Einkommensteuergesetz fest.

Der von ihr dagegen eingelegte Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 06.03.2006). Mit der zum Sozialgericht Karlsruhe (SG) erhobenen Klage (S 10 SB 1364/06) machte die Klägerin einen GdB von 50 geltend. Das SG hörte die behandelnden Ärzte der Klägerin als sachverständige Zeugen und wies mit Gerichtsbescheid vom 17.08.2007 die Klage ab. Die dagegen eingelegte Berufung (L 3 SB 4512/07) nahm die Klägerin zurück.

Am 17.01.2008 beantragte die Klägerin beim LRA wegen einer Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes die Erhöhung des GdB. Auf Veranlassung des LRA übersandte der Facharzt für Allgemeinmedizin M. die Behandlungsberichte des Internisten Dr. B. vom 29.06.2007 und der Orthopädin Dr. G. vom 29.10.2007. Nach Einholung einer gutachtlichen Stellungnahme des Ärztlichen Dienstes des LRA, wonach die psychovegetativen Störungen und die auf orthopädischen Gebiet liegenden Funktionsstörungen jeweils einen GdB von 20 bedingten und insgesamt ein GdB von 30 anzunehmen sei, lehnte das LRA den Antrag der Klägerin mit Bescheid vom 03.06.2008 ab. Eine wesentliche Verschlimmerung des Gesundheitszustandes der Klägerin und der damit einhergehenden Funktionsbeeinträchtigungen sei nicht eingetreten. Die geltend gemachten Gesundheitsstörungen Schwindel, Bluthochdruck, Wechseljahrbeschwerden bedingten keine Funktionsbeeinträchtigung von wenigstens 10 und stellten deshalb keine Behinderung dar.

Dagegen legte die Klägerin am 13.06.2008 Widerspruch ein und machte einen GdB von 50 geltend. Auf Grund der von ihr im Einzelnen genannten Gesundheitsstörungen liege nun ein GdB von 50 vor. Das LRA holte von dem HNO-Arzt Prof. Dr. H. den Bericht vom 15.10.2008 (einschließlich Ton- und Sprachaudiogramme vom 04.03.2008 und 17.03.2008) ein, in dem eine noch als gering- bis mittelgradig einzustufende Schallempfindungsschwerhörigkeit beschrieben und angegeben wurde, das zur Aufrechterhaltung einer ausreichenden Kommunikationsfähigkeit eine Hörgeräteversorgung (mit seit August 2008 gutem Hörgewinn) veranlasst worden sei. Über Schwindelerscheinungen sei von der Klägerin in den letzten Jahren nicht mehr geklagt worden. Die Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie Dr. M. gab am 17.11.2008 an, die Klägerin befinde sich bei ihr seit April 1992 wegen einer rezidivierenden depressiven Störung in nervenärztlicher Behandlung. Sie sei durch die psychische Erkrankung des Ehemannes, der an einer Schizophrenie leide, und ihre vollschichtige Berufstätigkeit (als Stationshilfe in einem Seniorenheim) chronisch überfordert, so dass regelmäßig eine medikamentöse Behandlung und Gespräche erforderlich seien. Von eigentlichen depressiven Phasen könne man nicht sprechen. Der Facharzt für Frauenheilkunde Dr. S. sprach in seinem Bericht vom 04.02.2009 von nächtlichen Hitzewallungen mit Schwindel und Kopfschmerzen. Besonders nachts bestehe körperliche Unruhe mittelstarken Ausmaßes. In der anschließend eingeholten gutachtlichen Stellungnahme von Dr. S. vom 22.03.2009 wurden folgende Funktionsstörungen angenommen:

1. Psychovegetative Störungen, seelische Störung, klimakterisches Syndrom GdB 20 2. Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Funktionsbehinderung des rechten Hüftgelenks GdB 20 3. Schwerhörigkeit beidseitig, Schwindel GdB 10

Der Gesamt-GdB betrage 30. Mit Widerspruchsbescheid vom 03.04.2009 wies das Regierungspräsidium S. - Landesversorgungsamt - den Widerspruch der Klägerin zurück.

Am 09.04.2009 erhob die Klägerin Klage zum SG, mit der sie im Wesentlichen unter Wiederholung ihres bisherigen Vorbringens einen GdB von 50 geltend machte. Sie übersandte den vorläufigen Entlassungsbericht des Ambulanten Zentrums für Rehabilitation und Prävention a. E. in K., in dem die Klägerin vom 19.03.2010 bis 12.04.2010 ambulant behandelt und als arbeitsunfähig entlassen wurde, sowie die (ebenfalls undatierte) Verordnung für ein Ambulantes Stabilisierungs-Programm der Deutschen Rentenversicherung B.-W. mit den Entlassungsdiagnosen pers. Lumboischialgie links, rückl. Lumboischialgie rechts bei Z. n. ostelog. Entlastung von rechts, myofasziales Schultergürtelsyndrom beiderseits, Depression und Varikosis beidseits.

Der Beklagte trat der Klage unter Vorlage der versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr. W. vom 05.03.2010 entgegen und machte geltend, die Funktionsstörungen der Klägerin seien mit einem GdB von 30 weiterhin angemessen bewertet.

Das SG ließ sich vom Ambulanten Zentrum für Rehabilitation und Prävention a. E. in K. den Behandlungsbericht vom 15.10.2008 übersenden und hörte die Fachärztin für Orthopädie Dr. G., Prof. Dr. H., Dr. S., Dr. M. und den Facharzt für Allgemeinmedizin M. schriftlich als sachverständige Zeugen. Dr. G. schilderte am 18.06.2009 den Krankheits- und Behandlungsverlauf und gab an, sie behandele die Klägerin regelmäßig wegen wechselnder Wirbelsäulenbeschwerden. Nach der Rehabilitationsmaßnahme habe sich eine geringe Besserung der Beschwerden ergeben. Bei wöchentlicher Arbeitsbelastung sei das Beschwerdebild anhaltend gleichbleibend wie vor der Rehabilitationsbehandlung. Derzeit (15.05.2009) würden Beschwerden bevorzugt im rechten Becken angegeben. Prof. Dr. H. wiederholte am 02.07.2009 im Wesentlichen seine Angaben gegenüber dem LRA und teilte als Ergebnis der von ihm im März 2008 durchgeführten sprachaudiometrischen Untersuchung einen beidseitigen prozentualen Hörverlust von 10 % mit. Dr. S. nannte in seinem Bericht vom 30.06.2009 eine vegetative Instabilität und ein klimakterisches Syndrom. Unter dem 30.06.2009 berichtete Dr. M. über die Behandlung der Klägerin seit Januar 2008. Sie leide an einem unterschiedlich ausgeprägten depressiven Syndrom. Auch im Laufe der Behandlung sei der Krankheitsverlauf wechselhaft und sehr störanfällig gewesen. Der Arzt M. berichtete am 23.12.2009 unter Vorlage der ihm zugegangenen Facharztberichte, insbesondere von Dr. G. vom 05.11.2009 nebst MRT-Befund vom 03.11.2009, des Internisten und Lungenarztes Dr. P. vom 22.04.2008 sowie ihr Venenleiden betreffenden ärztlichen Unterlagen, über die Behandlung der Klägerin und gab an, die Klägerin sei durch die körperliche und psychische Belastung vorgealtert. Sie sei bei ihren Besuchen meist klagsam und leidend, wolle aber immer wieder arbeiten.

Anschließend holte das SG von Dr. J., Oberarzt der Orthopädischen Kliniken der S. V.-Kliniken in K., ein fachorthopädisches Gutachten ein. Nach ambulanter Untersuchung der Klägerin am 20.05.2010 diagnostizierte der Sachverständige in seinem Gutachten vom 25.05.2010 eine geringe Fehlstatik der Wirbelsäule mit linkskonvexer Lumbalskoliose, ein Zustand nach dorsaler Entdachung L3 bis L5 rechts bei Spinalkanalstenose, eine Pseudoradikulopathie links und eine geringe Segmentinstabilität L3/4 ohne neurologische Ausfälle (GdB 20), eine chronisch-venöse Insuffizienz nach Krampfadernoperation beidseits mit geringem belastungsabhängigem Ödem, nicht ulzerösen Hautveränderungen (GdB 10) und leichte Schultergelenksarthrosen beidseits sowie eine geringe Epicondylitis humeri radialis rechts (GdB unter 10). Unter Berücksichtigung der anderen Funktionsstörungen mit einem GdB von 20 (auf psychischem Gebiet) und 10 (Schwerhörigkeit beidseits und Schwindel) nahm er einen Gesamt-GdB von 30 an.

Im Wesentlichen gestützt auf dieses Gutachten wies das SG die Klage mit Gerichtsbescheid vom 25.03.2011 ab. Die gesundheitlichen Verhältnisse der Klägerin hätten sich gegenüber dem Bescheid vom 25.10.2005 nicht wesentlich geändert. Ihre Funktionsstörungen seien weiterhin mit einem GdB von 30 zu bewerten. Der Wirbelsäulenschaden der Klägerin und ihre psychische Störung einschließlich des klimakterischen Syndroms bedingten jeweils einen GdB von 20. Hinzu kämen das Gehörleiden einschließlich Schwindel sowie das chronische Venenleiden, wofür jeweils ein GdB von 10 anzusetzen sei. Insgesamt sei - wie auch der Sachverständige Dr. J. bestätigt habe - wie bisher ein GdB von 30 anzunehmen.

Dagegen hat die Klägerin am 14.04.2011 beim SG Berufung eingelegt, mit der sie an ihrem Ziel festhält. Sie macht einen GdB von 50 geltend und begründet dies mit einer zu niedrigen Bewertung der Schwerhörigkeit und des Venenleidens. Sie leide an einer beidseitigen mittelgradigen Schwerhörigkeit, wegen der sie beidseitig mit Hörgeräten versorgt sei. Hierfür sei ebenso wie für ihr Venenleiden ein GdB von 20 anzusetzen. Sie leide an ständigen Beinschmerzen und könne nicht schmerzfrei - hierbei nehmen die Schmerzen zu - stehen. Sie leide an geschwollenen Beinen. Auch der Bluthochdruck und der dadurch bedingte Schwindel sei nicht ausreichend bewertet. Hierfür sei ein GdB von mindestens 20 anzunehmen. Sie leide unter hohem Blutdruck und müsse ständig 2 blutdrucksenkende Mittel einnehmen. Manchmal leide sie auch unter zu niedrigem Blutdruck. Die Blutdruckschwankungen und der Schwindel hätten schon dazu geführt, dass sie umgekippt sei. Die Schwindelanfälle und das Blutdruckleiden hätten sich in letzter Zeit auch erheblich verschlechtert. Unter Berücksichtigung der jeweils mit einem GdB von 20 bewerteten Depression einschließlich Wechseljahrbeschwerden und des Wirbelsäulenleidens sei ein Gesamt-GdB von 50 angemessen.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 25. März 2011 und den Bescheid des Beklagten vom 3. Juni 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. April 2009 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, einen Grad der Behinderung von 50 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Die Funktionsstörungen der Klägerin bedingten keinen höheren GdB als 30. Die beidseitige Schwerhörigkeit einschließlich Schwindel sei mit einem GdB von 10 angemessen bewertet, da bei der Klägerin nur eine leichte Schwerhörigkeit (nach dem Sprachaudiogramm nur ein beidseitiger Hörverlust von 10 %) vorliege. Der Bluthochdruck sei gut eingestellt und ohne Organbeteiligung. Selbst wenn hierfür ein GdB von 10 angenommen werden würde, ergebe sich hinsichtlich des Gesamt-GdB von 30 keine Änderung. Die Angaben der Klägerin zu ihren Venenleiden stimmten mit den vom Sachverständigen Dr. J. erhobenen Untersuchungsbefund und ihren eigenen Angaben gegenüber dem Sachverständigen nicht überein. Auch insoweit könne kein höherer GdB als 10 angenommen werden.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz und die Akten des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß den §§ 143, 144 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und nach § 151 SGG auch insgesamt zulässige Berufung der Klägerin, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 SGG) entscheidet, ist nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die Funktionsstörungen der Klägerin haben sich gegenüber den zur Zeit des Bescheides vom 25.10.2005 vorliegenden Verhältnissen nicht wesentlich geändert. Sie sind weiterhin mit einem GdB von 30 zu bewerten. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Feststellung eines GdB von mehr als 30.

Streitgegenstand ist der Bescheid vom 03.06.2008 (Widerspruchsbescheid vom 03.04.2009), mit dem der Beklagte eine Neufeststellung des GdB mangels wesentlicher Änderung der Funktionsstörungen der Klägerin abgelehnt hat. Hierbei handelt es sich um einen (ablehnenden) Bescheid nach § 48 Sozialgesetzbuch - Zehntes Buch - (SGB X).

Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den rechtlichen und tatsächlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Eine wesentliche Änderung im Hinblick auf den GdB gegenüber einer vorausgegangenen Feststellung liegt nur dann vor, wenn im Vergleich zu den den GdB bestimmenden Funktionsausfällen, wie sie der letzten Feststellung des GdB tatsächlich zugrunde gelegen haben, insgesamt eine Änderung eingetreten ist, die einen um wenigstens 10 geänderten Gesamt-GdB bedingt. Dabei ist die Bewertung nicht völlig neu, wie bei der Erstentscheidung, vorzunehmen. Vielmehr ist zur Feststellung der Änderung ein Vergleich mit den für die letzte bindend gewordene Feststellung der Behinderung oder eines Nachteilsausgleichs maßgebenden Befunden und behinderungsbedingten Funktionseinbußen anzustellen. Eine ursprünglich falsche Entscheidung kann dabei grundsätzlich nicht korrigiert werden, da die Bestandskraft zu beachten ist. Sie ist lediglich in dem Maße durchbrochen, wie eine nachträgliche Veränderung eingetreten ist. Dabei kann sich ergeben, dass das Zusammenwirken der Funktionsausfälle im Ergebnis trotz einer gewissen Verschlimmerung unverändert geblieben ist. Rechtsverbindlich anerkannt bleibt nur die festgestellte Behinderung mit ihren tatsächlichen Auswirkungen, wie sie im letzten Bescheid in den Gesamt-GdB eingeflossen, aber nicht als einzelne (Teil-)GdB gesondert festgesetzt worden sind. Auch der Gesamt-GdB ist nur insofern verbindlich, als er im Sinne des § 48 Abs. 3 SGB X bestandsgeschützt ist, nicht aber in der Weise, dass beim Hinzutreten neuer Behinderungen der darauf entfallende Teil-GdB dem bisherigen Gesamt-GdB nach den maßgebenden Bewertungsmaßstäben - ohne Gesamtwürdigung - hinzuzurechnen ist (vgl. BSG SozR 1300 § 48 Nr. 29). Die Verwaltung ist nach § 48 SGB X berechtigt, eine Änderung zugunsten und eine Änderung zuungunsten des Behinderten in einem Bescheid festzustellen und im Ergebnis eine Änderung zu versagen, wenn sich beide Änderungen gegenseitig aufheben (BSG SozR 3-3870 § 3 Nr 5).

Nach § 2 Abs. 1 SGB IX sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als Grad der Behinderung, nach Zehnergraden abgestuft, festgestellt (§ 69 Abs. 1 Satz 4 SGB IX). Die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) und der aufgrund des § 30 Abs. 17 BVG erlassenen und am 01.01.2009 in Kraft getretenen Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10.12.2008 gelten entsprechend (§ 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX), so dass die mit den "Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht 2008" (AHP) - soweit vorliegend relevant - inhaltsgleichen "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" (Anlage zu § 2 VersMedV - VG -) nun heranzuziehen sind.

Nach § 69 Abs. 3 SGB IX ist zu beachten, dass bei Vorliegen mehrerer Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben der Gesellschaft der GdB nach den Auswirkungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen festzustellen ist. Bei mehreren Funktionsbeeinträchtigungen sind zwar zunächst Einzel-GdB zu bilden, bei der Ermittlung des Gesamt-GdB durch alle Funktionsbeeinträchtigungen dürfen die einzelnen Werte jedoch nicht addiert werden. Auch andere Rechenmethoden sind für die Bildung des Gesamt-GdB ungeeignet (vgl. Teil A Nr. 3 der VG). In der Regel ist von der Behinderung mit dem höchsten Einzel-GdB auszugehen und zu prüfen, ob und inwieweit das Ausmaß der Behinderung durch die anderen Behinderungen größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden (VG a.a.O.). Ein Einzel-GdB von 10 führt in der Regel nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, auch bei leichten Behinderungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (Teil A Nr. 3 der VG). Der Gesamt-GdB ist unter Beachtung dieser Grundsätze in freier richterlicher Beweiswürdigung sowie aufgrund richterlicher Erfahrung unter Hinzuziehung von Sachverständigengutachten zu bilden (vgl. BSGE 62, 209, 213; BSG SozR 3870 § 3 Nr. 26 und SozR 3-3879 § 4 Nr. 5, jeweils zu den AHP).

Das SG ist im angefochtenen Gerichtsbescheid unter Anwendung der genannten gesetzlichen Vorschriften und der Bewertungskriterien der VG zu dem Ergebnis gekommen, dass sich die Funktionsstörungen der Klägerin gegenüber der letzten maßgeblichen Feststellung (Bescheid vom 25.10.2005) nicht wesentlich verschlimmert haben und weiterhin keinen höheren GdB als 30 bedingen. Diese Beurteilung gründete sich im Wesentlichen auf das vom SG eingeholte Sachverständigengutachten von Dr. J., die Angaben der gehörten behandelnden Ärzte der Klägerin und die aktenkundigen Klinik- und Arztberichte. Der Senat kommt nach eigener Überprüfung und Beweiswürdigung zum selben Ergebnis.

Die Auswirkungen der Funktionsstörungen der Klägerin haben sich gegenüber dem Bescheid vom 25.10.2005 nicht wesentlich geändert. Zwar ist inzwischen eine weitere Funktionsstörung (Schwerhörigkeit beidseitig, Schwindel) hinzu gekommen. Eine Erhöhung des GdB von 30 auf 40 oder gar 50 ist angesichts der bei der Klägerin bestehenden Gesamtbeeinträchtigung jedoch nicht gerechtfertigt.

Die bei der Klägerin vorliegende psychische Störung einschließlich des klimakterischen Syndroms bedingt einen GdB von 20. Dies entspricht dem obersten Wert des für leichtere psychovegetative oder psychische Störungen nach Teil B 3.7. der VG anzusetzenden GdB. Der Senat sieht keinen Anlass, an der Richtigkeit dieser Bewertung zu zweifeln, zumal die behandelnde Nervenärztin Dr. M. gegenüber dem SG über einen wechselnden Verlauf und eine unterschiedliche Ausprägung der psychischen Störung der Klägerin berichtet hat, so dass ohnehin (nur) ein Durchschnittswert zu berücksichtigen ist (vgl. Teil A 2. f) der VG). Im Übrigen hat sich die Klägerin mit der Berufung auch nicht gegen die Bewertung ihres psychischen Leidens gewandt.

Dasselbe gilt für die ebenfalls mit einem GdB von 20 zu bewertende Funktionsbehinderung der Wirbelsäule. Auch insoweit ist im Hinblick auf die Beurteilung des Sachverständigen Dr. J., die Angaben der Orthopädin Dr. G. gegenüber dem SG und den Rehabilitationsberichten vom 15.10.2008 und April 2010 kein Anhaltspunkt dafür ersichtlich, dass diese Bewertung nicht den Vorgaben der VG (vgl. Teil B 18.9), die bei mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt einen GdB von 20 vorsehen, entspricht. Auch hiergegen wendet sich die Klägerin mit der Berufung nicht. Eine Funktionsbehinderung des rechten Hüftgelenks - wie in den angegriffenen Bescheiden berücksichtigt - liegt nach dem orthopädischen Gutachten von Dr. J. vom 25.05.2010 bei der Klägerin nicht (mehr) vor. Der Sachverständige fand insoweit lediglich eine endgradige Einschränkung der Hüftbeugung aufgrund der adipösen Bauchdecken.

Soweit die Klägerin mit der Berufung geltend macht, bei ihr liege entgegen der Auffassung des SG eine mit einem GdB von 20 zu bewertende beidseitige mittelgradige Schwerhörigkeit vor, vermag ihr der Senat nicht zu folgen. Abgesehen davon, dass Prof. Dr. H. sowohl im Widerspruchsverfahren als auch gegenüber dem SG nur von einer gering- bis mittelgradig ausgeprägten Schallempfindungshörstörung gesprochen hat, bedingt das Ausmaß der Herabsetzung des Sprachgehörs, das für die Höhe des GdB nach B 5 der VG maßgebend ist, keinen höheren GdB als 10. Dies folgt aus den - von der Klägerin nicht in Frage gestellten - Angaben von Prof. Dr. H., wonach die sprachaudiometrische Untersuchung am 17.03.2008 einen beidseitigen prozentualen Hörverlust von 10 % ergeben hat. Bei einem beidseitigen prozentualen Hörverlust von nur 10 % besteht nämlich nach der Tabelle zur Ermittlung des GdB aus den Schwerhörigkeitsgraden für beide Ohren (Teil B 5.2.4 der VG) noch Normalhörigkeit. Erst bei einer geringgradigen beidseitigen Schwerhörigkeit, die einen prozentualen Hörverlust von 20 bis 40 % voraussetzt, ist ein GdB von 15 bis 20 anzunehmen. Auch unter Berücksichtigung der nicht ausreichend objektivierten bzw. ärztlich nicht mehr bestätigten Schwindelerscheinungen (vgl. Bericht von Prof. Dr. H. vom 15.10.2008) ergibt sich insoweit kein höherer GdB als 10. Dass die Klägerin mit Hörgeräten versorgt ist, ändert am Umfang der Herabsetzung des Sprachgehörs, die nach B 5 der VG durch Prüfung ohne Hörhilfen bestimmt wird, nichts.

Das Venenleiden der Klägerin ist allenfalls mit einem GdB von 10 zu bewerten. Soweit sie mit der Berufung insoweit einen GdB von 20 geltend macht, kann ihr nicht gefolgt werden. Eine chronisch-venöse Insuffizienz (z.B. bei Krampfadern) bzw. ein ein- oder beidseitiges postthrombotisches Syndrom mit geringem belastungsabhängigem Ödem, nicht ulzerösen Hautveränderungen und ohne wesentliche Stauungsbeschwerden ist nach Teil B 9.2.3 der VG mit einem GdB von 0 bis 10 zu bewerten. Hier hat der Sachverständige Dr. J. eine chronisch-venöse Insuffizienz nach Krampfadernoperation beidseits mit geringem belastungsabhängigem Ödem und nicht ulzerösen Hautveränderungen diagnostiziert und insoweit einen GdB von 10 angenommen. Ob angesichts der von Dr. J. in seinem Gutachten aufgrund des beidseits operierten Venenleidens (zuletzt im Oktober 2008) beschriebenen geringen Schwellneigung im Bereich beider Unterschenkel - also bei nur gelegentlichen Schwellungen, aber keine tatsächlich vorhandene andauernde Schwellung - ein GdB von 10 anzunehmen ist, lässt der Senat dahingestellt. Eine wesentliche Verschlimmerung der Funktionsstörungen und ein höherer Gesamt-GdB als 30 würde sich hiermit ohnehin nicht begründen lassen. Für die von der Klägerin mit der Berufung geltend gemachten ständigen Beinschmerzen und geschwollenen Beine findet sich kein ärztlicher Beleg.

Ein konstanter Bluthochdruck in leichter Form, der nach Teil B 9.3 der VG einen GdB von 0 bis 10 bedingen würde, ist bei der Klägerin nicht nachgewiesen. Der Facharzt für Allgemeinmedizin M. hat gegenüber dem SG am 23.12.2009 angegeben, im Juni 2009 und November 2009 seien bei der Klägerin jeweils hypertensive Krisen mit Blutdruckwerten bis 180 aufgetreten. Von einem dauerhaften Bluthochdruck ist darin jedoch nicht die Rede. Vielmehr wird in diesem Bericht darauf hingewiesen, dass diese Blutdruckkrisen meist durch die massive körperliche und psychische Belastung bei ihrer Arbeit ausgelöst werde und durch Krankschreibung jeweils eine Besserung erzielt worden sei. Eine Langzeitblutdruckmessung hielt Allgemeinarzt M. offenbar für nicht indiziert. Einen solchen Befund hat er nicht mitgeteilt; die Klägerin hatte die Durchführung einer Langzeitmessung bereits im Oktober 2008 ausdrücklich verneint. Im Entlassungsbericht vom 15.10.2008 ist zwar ebenfalls eine arterielle Hypertonie als Diagnose genannt. Die bei der Aufnahme gemessenen Blutdruckwerte (RR 140/90 mm Hg) sprechen jedoch gegen ein nennenswertes Bluthochdruckleiden der Klägerin, weshalb die angeführte Diagnose eher auf anamnestischer Erhebung beruht.

Insgesamt ergibt sich kein höherer GdB als 30. Bei Teil-GdB-Werten von 20 (psychisches Leiden), 20 (Wirbelsäule) und 10 (Gehörleiden) ergibt sich kein höherer Gesamt-GdB als 30. Daran würde sich auch - wie bereits dargelegt - nichts ändern, wenn für die chronisch-venöse Insuffizienz ein GdB von 10 veranschlagt werden würde.

Der medizinische Sachverhalt ist ausreichend geklärt. Weitere Ermittlungen sind nicht erforderlich, zumal die Klägerin die im Berufungsverfahren behauptete erhebliche Verschlechterung ihrer Schwindelerscheinungen und des Bluthochdrucks nicht näher substantiiert hat. Das nur sehr allgemein gehaltene Vorbringen der Klägerin, die genannten Leiden hätten sich verschlechtert, löst keine Pflicht zur weiteren Sachaufklärung aus.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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