S 12 AS 1782/10

Land
Freistaat Thüringen
Sozialgericht
SG Nordhausen (FST)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
12
1. Instanz
SG Nordhausen (FST)
Aktenzeichen
S 12 AS 1782/10
Datum
2. Instanz
Thüringer LSG
Aktenzeichen
L 9 AS 1255/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichtes Nordhausen vom 13. September 2010 wird als unzulässig verworfen. Kosten für das Berufungsverfahren sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt von dem Beklagten die Kostenübernahme für den Kauf von Teststreifen zur Blutzuckerselbstkontrolle.

Mit bestandskräftigem Bescheid vom 30. Juni 2009 bewilligte die ARGE SGB II im Landkreis Nordhausen (als Rechtsvorgängerin des Beklagten, im Folgenden einheitlich Beklagter) dem Kläger Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für den Zeitraum 1. Juli bis 31. Dezember 2009 in Höhe von 1.230,03 EUR monatlich. Nachdem der mit dem Erfordernis einer speziellen Diät begründete Antrag auf kostenaufwändige Ernährung mit Bescheid vom 31. Juli 2009 abgelehnt worden war, beantragte der Kläger mit am 24. November 2009 bei dem Beklagten eingegangenem Schreiben "Mehrbedarf nach SGB II für Zuckerkranke", da er vor jeder Mahlzeit den Zuckerspiegel messen müsse. Diese Leistungen seien vom Regelsatz nicht abgedeckt. Er bezifferte die Kosten "abgesehen von der Ernährung" mit 105,- EUR monatlich für 90 Teststreifen.

Mit Bewilligungsbescheid vom 17. Dezember 2009, geändert durch Bescheide vom 16. März 2010, 23. April 2010 und 27. Mai 2010 bewilligte der Beklagte dem Kläger für den Zeitraum 1. Januar bis 31. März 2010 Leistungen in Höhe von 1217,78 EUR monatlich und für den Zeitraum 1. April bis 30. Juni 2010 in Höhe von 1126,75 EUR monatlich.

Auf die Untätigkeitsklage des Klägers vom 23. März 2010 wegen der Nichtbescheidung des Antrags vom 24. November 2009 lehnte der Beklagte den Antrag mit Bescheid vom 4. Mai 2010 ab, weil die Kosten von der Regelleistung abgedeckt seien und keinen unabweisbaren Bedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts gemäß § 23 Absatz 1 SGB II darstellten. Der Bescheid war mit der Rechtsbehelfsbelehrung zum Widerspruch versehen. Ein förmlicher Widerspruch dazu ist nicht aktenkundig.

Auf Aufforderung des Gerichts zur Angabe der Tatsachen, durch die er sich beschwert fühle, äußerte sich der Kläger in der Sache (Schriftsatz vom 19. Juli 2010).

Nachdem es die Beteiligten auf diese Absicht hingewiesen hatte, wies das Sozialgericht Nordhausen die Klage mit Gerichtsbescheid vom 13. September 2010 als unzulässig ab, weil sie vor Ablauf der einzuhaltenden sechsmonatigen Sperrfrist erhoben worden sei. Dieser Mangel sei auch nicht geheilt, weil innerhalb dieser Frist über den Antrag entschieden worden sei. Die dem Gerichtsbescheid beigefügte Rechtsmittelbelehrung bezeichnete die Nichtzulassungsbeschwerde.

Mit fristgemäß eingegangenem Schriftsatz vom 28. September 2010 hat der Kläger "Berufung" eingelegt. Es sei nicht geklärt, wer die nun mit gut 70,- EUR im Monat bezifferten Kosten für die vom Arzt und der Krankenkasse befürworteten Blutzuckermessungen trage; er könne es nicht.

Mit gerichtlicher Verfügung vom 9. Dezember 2010 wurde der Kläger darauf hingewiesen, dass die Berufungssumme von mehr als 750,- EUR nicht erreicht werde und die Berufung daher unzulässig sein dürfte. Hierauf hat der Kläger mit Schriftsatz vom 29. Dezember 2010 mitgeteilt, dass seit der Antragstellung mehr als 12 Monate verstrichen seien und der Berufungsstreitwert erreicht werde.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Nordhausen vom 13. September 2010 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 4. Mai 2010 zu verurteilen, ihm ab 24. November 2009 einen monatlichen Mehrbedarf in Höhe von 70,00 EUR für Teststreifen zur Blutzuckerkontrolle zu bezahlen.

Der Berufungsbeklagte beantragt,

die Berufung als unzulässig zu verwerfen.

Er ist der Ansicht, dass der Berufungsstreitwert nicht erreicht ist.

Bezüglich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie die Verwaltungsakten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte trotz Ausbleibens des Klägers in der mündlichen Verhandlung entscheiden, denn er ist in der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden.

Das vom Kläger ausdrücklich als "Berufung" bezeichnete Rechtsmittel ist nach § 158 Sozialgerichtsgesetz (SGG) als unzulässig zu verwerfen, da es nicht statthaft ist. Der erforderliche Berufungsstreitwert von mehr als 750 EUR ist nicht erreicht und das Sozialgericht hat die Berufung nicht zugelassen, so dass - entsprechend der Rechtsmittelbelehrung im Gerichtsbescheid - Nichtzulassungsbeschwerde zu erheben gewesen wäre. Das ist jedoch nicht geschehen, denn der Kläger hat ausdrücklich erklärt, "Berufung" gegen den Gerichtsbescheid einzulegen, und eine Umdeutung dieses eindeutig bezeichneten Rechtsmittels kommt auch bei dem anwaltlich nicht vertretenen Kläger nicht in Betracht (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. A., Vor § 60 Rdnr. 11b).

Nach § 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG) findet gegen die Urteile der Sozialgerichte die Berufung an das Landessozialgericht statt, soweit sich aus den Vorschriften dieses Unterabschnitts nichts anderes ergibt. Nach § 144 Absatz 1 Satz 1 Nr. 1 SGG bedarf die Berufung der Zulassung in dem Urteil des Sozialgerichts oder auf Beschwerde durch Beschluss des Landessozialgerichts, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750 EUR nicht übersteigt. Das gilt nach § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG nicht, wenn die Berufung wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft.

Danach bedurfte es vorliegend der Zulassung der Berufung, denn § 144 SGG ist auch auf die hier erhobene Untätigkeitsklage anwendbar, der Wert des Beschwerdegegenstandes übersteigt vorliegend 750 EUR nicht und § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG ist nicht einschlägig.

§ 144 SGG ist auch auf Untätigkeitsklagen anwendbar, denn die Klage betrifft inhaltlich einen auf eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung gerichteten Verwaltungsakt. Der davon abweichenden Rechtsprechung (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 8. November 2007 - L 15 B 174/07 SO NZB - und vom 6. Dezember 2010 - L 18 AS 1272/10 -; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 18. November 2010 - L 7 SO 2708/10) folgt der Senat nicht, weil er sie nicht für überzeugend hält (wie hier LSG Baden-Württemberg, Breithaupt 2010, 877). Zwar teilt der Senat die Ansicht, dass der Erlass eines Verwaltungsaktes nicht als "Dienstleistung" i.S.d. § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG anzusehen ist. Außerdem ist nach dem Wortlaut des § 131 Abs. 3 SGG Gegenstand der Untätigkeitsklage nach § 88 SGG nur die Bescheidung des Antrags (§ 88 Abs. 1 SGG), also die Erteilung eines Bescheides, nicht der materielle (Leistungs-)Anspruch als solcher, auf den sich der Antrag oder Widerspruch bezieht (ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, vgl. SozR 3-1500 § 88 Nr. 2; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl., § 88 Rdnr. 2; Hk-SGG, 3. Aufl., § 88 Rdnr. 4); eine unmittelbare Klage auf Leistung oder den Erlass eines Verwaltungsaktes mit bestimmtem Inhalt ist im Gegensatz zu den Parallelvorschriften des § 75 der Verwaltungsgerichtsordnung oder des § 46 der Finanzgerichtsordnung ausgeschlossen. Diese allein formale Betrachtungsweise stellt aber keinen sachlichen Grund dar, bei Untätigkeitsklagen (deren Ziel nicht die Erteilung eines irgendwie gearteten Bescheids als Selbstzweck, sondern letzten Endes ein auf eine Leistung gerichteter Verwaltungsakt und ein Bescheid als Zulässigkeitsvoraussetzung einer entsprechenden Klage ist) geringere Anforderungen zu stellen als bei diesbezüglichen Verpflichtungsklagen. Soweit die Gegenmeinung zur Begründung anführt, § 88 SGG gehe über den Schutz eines materiellen Anspruches hinaus, sichere den Bürger davor, durch bloßes Untätigbleiben der Verwaltung in seinen Rechten verletzt zu werden, eröffne auf diese Weise erst dessen Zugang zu einer gerichtlichen Überprüfung und diene damit der Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG), liegt ein Zirkelschluss vor, denn Art. 19 Abs. 4 GG garantiert gerade keinen Instanzenzug (vgl. BVerfGE 49, 329, 343).

Nach § 144 Abs. 1 Satz 1 SGG - Satz 2 ist hier offensichtlich nicht anwendbar - bedarf die Berufung vorliegend der Zulassung im Urteil des Sozialgerichts oder auf Beschwerde durch Beschluss des LSG, denn der Wert des Beschwerdegegenstandes übersteigt 750 EUR nicht. Das ergibt sich aus folgenden Überlegungen:

Mit der Berufung hat der Kläger den monatlichen Mehrbedarf mit gut 70,- EUR beziffert. Dem entsprechen Preisrecherchen zu Glukosestreifen aus dem Internet, wonach der Preis für einen Teststreifen höchstens 0,74 EUR beträgt, so dass von einem monatlichen Betrag von 70,- EUR ausgegangen wird. Hinsichtlich des Zeitraums hat der Kläger mit Schriftsatz vom 29. Dezember 2010 erklärt, dass es ihm um die Kosten seit der Antragstellung am 24. November 2009 geht; damit hat er den streitigen Zeitraum auf den Zeitpunkt ab Beantragung der Mehrbedarfsleistung begrenzt. Insofern obliegt ihm die Dispositionsbefugnis, so dass für die Berechnung des Werts des Beschwerdegegenstandes die beanspruchten Leistungen ab diesem Zeitpunkt zu Grunde zu legen sind. Entgegen der im Schriftsatz vom 29. Dezember 2010 geäußerten Ansicht des Klägers ist jedoch nicht auf den seit der Antragstellung am 24. November 2009 verstrichenen Zeitraum abzustellen. Vielmehr ist unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, auf die der Senat hingewiesen hat und der er folgt, allenfalls das Ende des Bewilligungsabschnitts zu berücksichtigen, während dessen Lauf der Beklagte den Ablehnungsbescheid erlassen hat, mithin der 30. Juni 2010. Denn in der Sache geht es dem Kläger um die Gewährung höherer Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts unter Berücksichtigung eines Mehrbedarfs; die Gewährung eines Mehrbedarfs allein kann nicht zulässiger Streitgegenstand eines gerichtlichen Verfahrens sein (vgl. Urteil vom 24. Februar 2011 - B 14 AS 49/10 R - für kostenaufwändige Ernährung, wobei eine davon abweichende Behandlung des hier geltend gemachten Mehrbedarfs nicht gerechtfertigt erscheint). Auf dieser Grundlage ist der Bescheid des Beklagten vom 4. Mai 2010 so auszulegen, dass nicht abschließend für die Zukunft über den geltend gemachten Mehrbedarf entschieden werden sollte, sondern nur für solche Bewilligungsabschnitte, die im Zeitpunkt der Behördenentscheidung in der Vergangenheit bzw. Gegenwart lagen (vgl. BSG aaO). Bei dem sich daraus ergebenden Zeitraum vom 24. November 2009 bis 30. Juni 2010 und einem monatlichen Betrag von 70,- EUR errechnet sich kein den Betrag von 750 EUR übersteigender Wert des Beschwerdegegenstandes.

Der Kläger hat gegen den Bescheid vom 4. Mai 2010 keinen Widerspruch eingelegt. Sein Schreiben vom 19. Juli 2010 an das Gericht ist keine derartige Erklärung, im Übrigen ist der Kläger zuvor ausdrücklich auf diese Möglichkeit hingewiesen worden. Selbst wenn man annähme, das Schreiben stelle einen Widerspruch dar, führte das hier nicht zu einer anderen Beurteilung, zumal der Widerspruch wegen Fristablauf als unzulässig zu verwerfen wäre.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, weil Revisionsgründe nach § 160 Absatz 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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