S 36 VG 1390/04

Land
Freistaat Thüringen
Sozialgericht
SG Gotha (FST)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
36
1. Instanz
SG Gotha (FST)
Aktenzeichen
S 36 VG 1390/04
Datum
2. Instanz
Thüringer LSG
Aktenzeichen
S 5 VG 799/07
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 9 V 28/11 B
Datum
Kategorie
Urteil
Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Gotha vom 28. Februar 2007 wird zurückgewiesen. Die Beteiligten haben einander keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt Beschädigtenversorgung nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (Opferentschädigungsgesetz - OEG).

Die im Jahre 1952 geborene Klägerin ist Lehrerin. Seit 1992 unterrichtete sie am Gutenberg-Gymnasium in E ... Unmittelbar vor dem hier streitigen Ereignis war sie zudem mit einer halben Stelle an der Heinrich-Mann-Schule in W. tätig. Die Klägerin war ca. 5 Jahre lang Klassenlehrerin des Schülers Robert S., der aufgrund schlechter Leistungen die Schule verlassen musste. Am Morgen des 26. April 2002 begab sich Robert S. zum Gutenberg-Gymnasium und tötete mit der mitgeführten Schusswaffe 16 Menschen (Schüler und Lehrer).

Die Klägerin hielt am Tag des Attentates aus gesundheitlichen Gründen keinen Unterricht. Zudem hätte sie an diesem Tage nicht im Gutenberg-Gymnasium, sondern in der Heinrich-Mann-Schule in W. unterrichtet. Von den Ereignissen im Gutenberg-Gymnasium erfuhr sie über das Telefon und die Medien.

Am 05. Dezember 2003 beantragte die Klägerin beim Beklagten die Gewährung von Beschädigtenversorgung wegen einer posttraumatischen Belastungsstörung. Der Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 23. Januar 2004 ab. Zur Begründung ist ausgeführt, gegen die Klägerin seien keine tätlichen, vorsätzlichen und rechtswidrigen Angriffshandlungen verübt worden. Sie habe sich am Tag des Attentates nicht in der Schule befunden. Ein Schockschaden liege nicht vor, da die Klägerin nicht Zeugin der Gewalttat gewesen sei.

Der Widerspruch der Klägerin vom 08. Februar 2004 wurde mit Widerspruchsbescheid vom 19. April 2004 zurückgewiesen. Zur Begründung ist ausgeführt, sie sei nicht als unmittelbares Opfer der Gewalttat zu entschädigen. Auch eine Entschädigung als nicht direkt von der Gewalttat Betroffene komme nicht in Betracht ... Eine Entschädigung für den Schockschaden infolge der Überbringung der Todesnachricht sei nur bei engen Verwandtschaftsverhältnissen möglich. Der Umstand, dass die Klägerin vormals selbst Lehrerin am Gutenberg-Gymnasium gewesen sei und sowohl Täter als auch Opfer gekannt habe, genüge nicht.

Die Klägerin erhob am 20. Mai 2004 Klage zum Sozialgericht mit der Begründung, es sei nicht einzusehen, dass ein nur mittelbar Geschädigter keinen Ersatz für seinen Schaden erhalten solle. Sie sei durch die Gewalttat in Mitleidenschaft gezogen worden. Diese Position werde auch von Juristen der Opferorganisation "Weißer Ring" vertreten, sodass ihr dringlich die Beschreitung des Klageweges empfohlen worden sei.

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 28. Februar 2007 abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, die Klägerin sei nicht als Sekundäropfer im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes anzusehen. Zwar sei sie durch die Kenntnis des Attentates geschädigt worden, eine örtliche und zeitliche Nähe zum primär schädigenden Geschehen liege ebenso wenig vor wie die besondere Nähe zu den Primäropfern. Es könne unterstellt werden, dass die Klägerin jedes der Opfer mehr oder weniger gut gekannt habe. Die dadurch nach der Lebenserfahrung zu unterstellende Nähe sei jedoch nicht vergleichbar mit der Nähe zu einem nahen Angehörigen, die für eine Entschädigung vorauszusetzen sei.

Gegen das am 20. Juni 2007 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 19. Juli 2007 Berufung eingelegt, mit der sie ihr Begehren weiter verfolgt. Sie wiederholt und vertieft ihren erstinstanzlichen Vortrag. Ergänzend bringt sie vor, es bestehe eine besondere Nähe zu den Primäropfern, insbesondere zu den langjährigen Berufskollegen. Sie sei vor allem damit belastet, dass aufgrund ihrer Arbeitsunfähigkeit am Tattag eine andere Kollegin stellvertretend für sie habe sterben müssen. Ob das Bundessozialgericht an seiner Auffassung, wonach eine zeitliche oder örtliche Nähe zum schädigenden Geschehen oder eine besondere personale Nähe (Verwandtschaftsverhältnis zum Primäropfer) vorliegen müsse, in Zukunft festhalten werde, sei eine bislang nicht geklärte Rechtsfrage.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Gotha vom 28. Februar 2007 und den Bescheid vom 23. Januar 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. April 2004 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, ihr Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Senat hat die Klägerin im Termin persönlich angehört. Die Klägerin hat angegeben, es habe sie berührt, dass der Attentäter eine Kollegin erschossen habe, die in dem sonst von ihr belegten Musikraum unterrichtet habe. Diese Kollegin habe sie nicht näher gekannt, da sie erst kurze Zeit vorher zum Gutenberg-Gymnasium gekommen sei. Viele der Kolleginnen und Kollegen, die zu Schaden gekommen seien, habe sie aber näher gekannt, mit einer der getöteten Kollegin habe sie gemeinsam studiert. Ergänzend wird auf die Niederschrift vom 10. Februar 2011 verwiesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Beteiligten nebst Anlagen, auf den sonstigen Inhalt der Gerichtsakten sowie auf die die Klägerin betreffenden Verwaltungsakten des Beklagten sowie auf das im Rahmen des Rechtsstreits S 18 U 2060/03 (Sozialgericht Gotha) eingeholte psychologisch-psychotraumatologische Fachgutachten von Prof. Dr. G. F. (TraumaTransformConsult) verwiesen. Diese Unterlagen waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

Die nach § 143, 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und nach § 151 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig.

Die Berufung ist unbegründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die angefochtenen Bescheide des Beklagten sind nicht rechtswidrig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Leistungen nach dem OEG.

Wer im Geltungsbereich des OEG oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält nach § 1 Abs. 1 OEG wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Wie das Bundesversorgungsgesetz, auf das in dieser Vorschrift verwiesen wird, geht auch das OEG von einer dreigliedrigen Kausalkette aus. Das erste Glied ist der vorsätzliche rechtswidrige tätliche Angriff, das zweite Glied bildet die durch diesen schädigenden Vorgang hervorgerufene Schädigung (Primärschaden), das dritte Glied stellt die Folgen der gesundheitlichen Schädigung (Schädigungsfolge) dar, also das Versorgungsleiden, dessen Feststellung ein Antragsteller durch die Versorgungsverwaltung begehrt.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist ein tätlicher Angriff grundsätzlich eine in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung. Die Angriffshandlung erfüllt in aller Regel- so auch hier- den Tatbestand einer versuchten oder vollendeten Straftat gegen das Leben i.S.d. §§ 211 ff. Strafgesetzbuch (StGB) oder gegen die körperliche Unversehrtheit (§§ 223 ff. StGB). Deshalb ist für den inneren Tatbestand (Vorsatz) in der Regel auch das Wissen und Wollen des strafrechtlich relevanten Erfolges (Verletzung oder Tötung) von Belang (BSG, Urteil vom 02. Oktober 2008, Az.: B 9 VG 2/07 R). Daneben sind auch Begehungsweisen denkbar, bei denen kein derartiger Erfolg angestrebt wird. Es ist nicht einmal die körperliche Berührung oder auch nur ein darauf zielender Vorsatz des Täters erforderlich (BSG, a.a.O.).

Ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff i.S.d. § 1 Abs. 1 OEG ist ohne Weiteres zu bejahen. Dieser richtete sich jedoch nicht gegen die Klägerin. Diese war auch zu keiner Zeit in unmittelbarer Gefahr, etwa dadurch, dass der Schüler sich zielgerichtet nach der am Tattag abwesenden Klägerin oder deren Aufenthalt erkundigt oder Drohungen ausgestoßen hätte, ihr etwas anzutun.

Die Klägerin hat auch aufgrund des gegen andere Personen (Schüler und Lehrer des Gymnasiums) gerichteten tätlichen Angriffs keinen Anspruch auf Versorgungsleistungen.

Ausgehend vom Wortlaut der Entschädigungsnorm des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG hat der Gesetzgeber neben der Möglichkeit des Erleidens einer Schädigung durch die rechtmäßige Abwehr eines vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen die eigene oder eine andere Person (3. Variante) zunächst zwei Fallgestaltungen vorangestellt: Zum einen den Angriff gegen die eigene Person (1. Variante), zum anderen den Angriff gegen "eine andere Person" (2. Variante). Der Gesetzgeber sah dabei den Begriff des tätlichen Angriffs definiert als eine unmittelbar auf den Körper des Menschen zielende, feindliche Einwirkung. Das Gesetz eröffnet demnach die Möglichkeit der Entschädigung auch für Schädigungen aufgrund eines Angriffs zu Lasten eines "anderen". Die Entschädigung sollte nicht auf direkt betroffene Personen beschränkt sein. Demnach sollte schließlich "erst recht" derjenige Entschädigung erhalten, der etwa durch ein abirrendes Geschoss verletzt wurde. Der eben genannte Fall der "aberratio ictus", an den der Normgeber nachweislich gedacht hat, steht im Einklang mit der Regelung des § 1 Abs. 2 Nr. 2 OEG, wonach die wenigstens fahrlässige Herbeiführung einer Gefahr für Leib und Leben eines anderen durch ein mit gemeingefährlichen Mitteln begangenes Verbrechen einen eigenen Entschädigungstatbestand darstellt. Hier werden Personenschäden berücksichtigt, die eintreten, ohne dass die Tat gegen (irgend) eine Person gerichtet sein muss. Der individualisierbare "Andere" wird nicht mehr gefordert, es wird vielmehr für ausreichend erachtet, dass der Täter auf eine Menschengruppe gezielt und dabei einen anderen verletzt hat. Dies ist hier nicht der Fall.

Die Klägerin war auch nicht unmittelbare Tatzeugin. Zwar werden durch das OEG auch mittelbar Geschädigte geschützt, etwa im Zusammenhang mit "Schockschäden", die nahe Verwandte oder Ehegatten infolge der überbrachten Todesnachricht nach Tötung des unmittelbaren Tatopfers erleiden.

Dem entspricht das Rundschreiben des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales vom 20. Januar 2006 - IV c 2 - 47035/3 -, wonach bei Dritten, die nicht Tatzeuge der Gewalttat waren, aber durch die Nachricht vom Tode des Opfers einen Schockschaden erleiden, Versorgung nach dem OEG gewährt werden kann, wenn zwischen unmittelbarem Opfer und Drittem eine besondere emotionale Beziehung besteht, die regelmäßig bei bestehenden intakten Ehen, bei nichtehelichen Lebensgemeinschaften und -partnerschaften sowie bei Eltern-/Kindverhältnissen angenommen werden kann.

Doch auch hieraus ergibt sich für die Klägerin hat als (nur) mittelbare Geschädigte (Sekundäropfer) kein Anspruch. Im Kern geht es dabei um das Problem der Begrenzung der anspruchsberechtigten Personenkreise durch Nichtberücksichtigung derjenigen, die dem unmittelbaren Tatopfer nicht so nahe standen, als dass die "Schockreaktion" nicht mehr nachvollziehbar ist. Der hier zu entscheidende Fall unterscheidet sich zwar von dem "konstruierten Fall" desjenigen, der angesichts schlimmster über das Fernsehen ausgestrahlter Bilder eines Gewaltverbrechens einen Schock erleidet. Denn die Klägerin stand als Lehrerin, die an der Schule unterrichtete, dem Ort des Geschehens sowie dem Täter und den Opfern nicht beziehungslos gegenüber. Gleichwohl kann die zu fordernde personale Nähe im vorliegenden Fall nicht bejaht werden. Die vorgebrachte besondere Nähe zu den Primäropfern, insbesondere zu den langjährigen Berufskollegen reicht dazu ebenso wenig aus wie der Umstand, dass die Klägerin sowohl den Täter, als auch die Opfer gekannt hat. Zwar mag es zu den Kollegen und zu den Schülern ein gewisses, im Rahmen des Schulbetriebes übliches Näheverhältnis gegeben haben. Dieses ist jedoch nicht vergleichbar mit dem familiären Näheverhältnis etwa zu Eltern oder Kindern, und zwar auch nicht, soweit es die getötete Kollegin betrifft, mit der die Klägerin studiert hat.

Eine Entschädigung der Klägerin aufgrund des Ereignisses würde zu einer Ausuferung des zu entschädigenden Personenkreises und der zu entschädigenden Fälle vergleichbarer Konstellation führen (z.B. Schockschäden infolge der Tötung von Polizeibeamten, die ihren kranken Kollegen vertreten sowie weitere "Vertretungsfälle" u.a.m.). Der Klägerin ist zwar ohne Weiteres zuzugestehen, dass das Attentat für sie ein äußerst belastendes Ereignis darstellt. Sie ist sicherlich aufgrund ihrer Beziehung zu den unmittelbar Geschädigten vom Geschehen auch mehr betroffen ist als ein unbeteiligter Dritter, der weder in zeitlicher oder örtlicher Nähe zum Tatgeschehen, noch in irgendeiner Beziehung zur Schule und zu den betroffenen Personen steht. Zu dem durch das Opferentschädigungsgesetz geschützten Personenkreis gehört sie gleichwohl nicht.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die hierfür nach § 160 SGG erforderlichen Voraussetzungen nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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