L 4 P 1792/11

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 14 P 4134/08
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 4 P 1792/11
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 17. März 2011 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten auch des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Der Kläger wendet sich gegen die Aufhebung der Bewilligung von Pflegegeld nach der Pflegestufe II.

Der 1996 geborene Kläger ist familienversichertes Mitglied bei der Beklagten und deren Rechtsvorgängerinnen (im Folgenden einheitlich Beklagte). Er leidet seit Geburt an einer zystischen Fibrose (Mukoviszidose). Er beantragte am 25. Juli 2001, ihm Pflegegeld zu zahlen. Im von der Beklagten veranlassten Gutachten vom 12. Dezember 2001 schätzte Dr. K., Sozialmedizinischer Dienst der Beklagten (SMD), den Zeitaufwand für die Verrichtungen der Grundpflege auf 213 Minuten täglich (Körperpflege 57 Minuten, Ernährung 74 Minuten, Mobilität 82 Minuten). Im Bereich der Mobilität bestehe ein erheblicher Aufwand durch Inhalieren und Abklopfen von Schleim. Der Pflegeaufwand werde abnehmen, wenn der Kläger älter geworden sei und eigenverantwortlich handle. Wegen des bei Kindern ohnehin zu leistenden Aufwandes werde ein Abschlag von 50 v.H. vorgeschlagen. Diesen Abschlag sah die Beklagte als zu hoch an. Sie bewilligte dem Kläger ab 30. Juli 2001 Pflegegeld nach der Pflegestufe II (Bescheid vom 15. Februar 2002).

Die Beklagte veranlasste eine Nachuntersuchung. In seinem Gutachten vom 16. Mai 2007 kam Dr. U., SMD, zum Ergebnis, der Zustand des Klägers habe sich seit der letzten Begutachtung (12. Dezember 2001) erheblich gebessert. Es bestehe kein Pflegebedarf mehr. Der Kläger könne sich selbst versorgen. Er gehe in die vierte Grundschulklasse und spiele Fußball im Verein. Laufen, Erheben, Stehen, Treppensteigen und Bücken seien ohne Hilfe möglich. Grobe Kraft und Feinmotorik in beiden Armen und Händen seien erhalten. Der Schürzen-, Nacken- und Pinzettengriff sowie der Faustschluss seien beidseits möglich. Die Beklagte hörte den Kläger zur beabsichtigten Aufhebung des Bescheids vom 15. Februar 2002 an (Schreiben vom 21. September 2007). Der Kläger wandte ein, dass er weiter pflegebedürftig sei und sich insbesondere die gesundheitlichen Verhältnisse nicht geändert hätten. In ihrem von der Beklagten daraufhin veranlassten Gutachten vom 22. März 2008 schätzte Pflegefachkraft M.-B., SMD, den Zeitaufwand für die Verrichtungen der Grundpflege auf 14 Minuten täglich (Ernährung zehn Minuten, Mobilität vier Minuten). Der Kläger habe mittlerweile eine deutliche Selbstständigkeit erreichen können und besuche zweimal wöchentlich ein Fußballtraining. Es komme zeitweise noch zu Atemnotzuständen, überwiegend am Morgen kurz vor dem Aufstehen. Zeitweise benötige er noch Anleitung und Aufforderung. Ein deutlich erhöhter hauswirtschaftlicher Versorgungsaufwand stehe im Vordergrund. Ein Hilfebedarf bestehe bei der mundgerechten Zubereitung der Nahrung fünfmal täglich in Form der vollständigen Übernahme sowie beim Aufstehen/Zubettgehen zweimal täglich in Form der teilweisen Übernahme und Anleitung. Beim Aufstehen bestehe teilweise Hilfebedarf beim Abhusten. Die Pflegeperson müsse bei Bedarf Hilfe beim Atemtraining leisten. Es sei kein ständiger Aufsichts- und Betreuungsbedarf notwendig.

Mit Bescheid vom 20. Juni 2008 hob die Beklagte ihren Bewilligungsbescheid vom 15. Februar 2002 für die Zukunft auf und stellte die Leistungen mit Ablauf des Tages der Bekanntgabe des Bescheides ein. Den (vom Kläger nicht begründeten) Widerspruch wies der Widerspruchsausschuss der Beklagten zurück (Widerspruchsbescheid vom 2. September 2008). Aufgrund der bislang vorliegenden Unterlagen sei der Bescheid (vom 20. Juni 2008) nicht zu beanstanden. Eine Beaufsichtigung, "Betreuung von rund um die Uhr" oder die bloße Anwesenheit der Pflegeperson für den Fall, dass Hilfe erforderlich werden könnte, stelle keinen Pflegeaufwand im Sinne des Gesetzes dar.

Der Kläger erhob am 30. September 2008 Klage beim Sozialgericht Freiburg, das den Rechtsstreit mit Beschluss vom 13. November 2008 an das örtlich zuständige Sozialgericht Reutlingen (SG) verwies. Eine wesentliche Besserung sei nicht eingetreten. Nach der Lebenserfahrung und insbesondere auch nach medizinischer Erfahrung sei bei zur Progredienz angelegten chronischen Krankheiten wie Mukoviszidose ein Absinken der Schwerpflegebedürftigkeit auf die Pflegestufe 0 in hohem Maße unwahrscheinlich. Zudem hätten sich seit den Jahren 2001 und 2002 in seiner Grundkrankheit mehrere Komplikations- und Nebenbefunde entwickelt. Es habe sich eine allergische Diathese herausgebildet, die Lungenveränderungen im Röntgenbild hätten zugenommen und er leide an rezidivierenden Abdominalschmerzen wegen der schwerstens gestörten Fett- und Eiweißverdauung trotz Enzymdauersubstitution. Dass insbesondere in den gesundheitlichen Verhältnissen keine Besserung eingetreten sei, ergebe sich aus den bei ihm gestellten Diagnosen (Verweis auf eine vorgelegte Zusammenstellung). Auch die (vorgelegte) Auflistung der Klinik- und Arztkonsultationen zeige, dass diese in den Jahren 2006 bis 2008 erheblich zugenommen hätten. Die lebens- und überlebensnotwendigen wöchentlich stattfindenden Physio- und Pneumonietherapiesitzungen mit jeweils 60 Minuten seien gerade auch hinsichtlich der Verrichtung des Verlassens und Wiederaufsuchens der Wohnung von Bedeutung. Die hiermit bewirkte Sekretmobilisierung zähen, leimartigen Schleims müsse daneben täglich mehrmals, mindestens aber morgens mit dem Aufstehen und abends mit dem Zubettgehen durch die Pflegeperson erfolgen. Es entstünden krankheitsbedingte Mehrkosten, die den Betrag des bisherigen Pflegegelds nach der Pflegestufe II fast vollständig erreichten. Der SMD habe wesentliche Grundsätze des anzuwendenden Rechts und der Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem Elften Buch Sozialgesetzbuch - SGB XI - (Begutachtungs-Richtlinien) nicht angewandt. Der Kläger legte eine "Hilfebedarfsermittlung der grundpflegerischen und hauswirtschaftlichen Verrichtungen", in welcher er insbesondere auch die wegen der Erkrankung besonderen Maßnahmen beschrieb, sowie das Attest der Ärztin Dr. St., Universitätsklinikum F., vom 28. Februar 2011 (rezidivierender chronischer Verlauf eines distalen intestinalen Obstruktionssyndroms, schwere periphere Insulinresistenz, Entwicklung eines Diabetes mellitus im Verlauf sei nicht auszuschließen) vor.

Die Beklagte trat der Klage entgegen. Es bedürfe nicht einer Veränderung des Gesundheitszustandes. Die vorliegende Veränderung in den Verhältnissen liege in der zunehmenden Selbstständigkeit des Klägers, was Auswirkungen auf den Grundpflegebedarf habe. Sie legte die Stellungnahme der Anästhesistin Dr. J. vom 28. Juli 2009 vor.

Im Auftrag des SG erstattete Pflegefachkraft F. das Gutachten vom 4. August 2010. Der Kläger sei sowohl körperlich wie auch geistig ohne Probleme in der Lage, die Grundpflege größtenteils selbstständig durchzuführen. Ein Hilfebedarf bestehe nur morgens beim Aufstehen/Zubettgehen von fünf Minuten täglich wegen der morgendlichen verrichtungsbezogenen krankheitsspezifischen Pflegemaßnahme zur Sekretlimination. Es bestehe teilweise ein erhöhter Betreuungs- und Beaufsichtigungsbedarf. Ebenfalls erhöht sei der Hilfebedarf im Bereich der Behandlungspflege und der Hauswirtschaft. Dies sei aber nach den Begutachtungs-Richtlinien im Bereich der Grundpflege nicht einstufungsrelevant. Nach den Begutachtungs-Richtlinien diene als Grundlage der Bestimmung der Pflegebedürftigkeit nicht die Schwere der Erkrankung oder Behinderung, sondern allein der aus der konkreten Funktionseinschränkung resultierende Hilfebedarf. Dem Gutachten beigefügt waren die Stellungnahme der behandelnden Ärztin für Kinderheilkunde Dr. B.-W. vom 25. Oktober 2007, die ärztliche Stellungnahme des Prof. Dr. Ko., Universitätsklinikum F., vom 22. April 2009 und der Befundbericht des Prof. Dr. Kor., Universitätsklinikum F., vom 3. Februar 2010.

Mit Urteil vom 17. März 2011 wies das SG die Klage ab. Im Zeitraum zwischen dem Bescheid vom 15. Februar 2002 und dem Bescheid vom 20. Juni 2008 sei eine wesentliche Änderung im Grundpflegebedarf des Klägers eingetreten. Die Kammer habe sich in einer Zusammenschau aller eingeholten Gutachten nicht davon überzeugen können, dass beim Kläger von einem Hilfebedarf von über 45 Minuten im Bereich der Grundpflege auszugehen sei. Sämtliche notwendigen Hilfen aus den einstufungsrelevanten Bereichen Körperpflege, Ernährung und Mobilität seien sowohl in der Häufigkeit wie auch in zeitlichem Umfang ausreichend berücksichtigt. Bereits dem Gutachten vom 12. Dezember 2001 sei zu entnehmen, dass mit einem Abnehmen des Pflegebedarfs zu rechnen sei, wenn der Kläger älter werde und zunehmend eigenständig handle. Die Gutachten vom 16. Mai 2007 und 22. März 2008 belegten, dass der Kläger in der Zwischenzeit eine weitgehende Selbstständigkeit erreicht habe. Hierin sei die wesentliche Änderung zu sehen. Der ermittelte Hilfebedarf bleibe mit täglich null Minuten bzw. 10 Minuten deutlich unterhalb der für die Pflegestufe I maßgeblichen Zeitgrenze. Diese Beurteilung stehe im Einklang mit den Ausführungen der Sachverständigen F ... Die Begutachtung und die gewählten Zeitansätze entsprächen den Begutachtungs-Richtlinien. Die Zeitansätze erschienen insbesondere auch angesichts der von der Sachverständigen dargestellten weitgehenden Eigenständigkeit des Klägers plausibel. § 14 SGB XI stelle bei der Beschreibung der Voraussetzungen für die Annahme von Pflegebedürftigkeit nur darauf ab, ob bei den in Abs. 4 dieser Vorschrift aufgeführten Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens überhaupt Hilfebedarf bestehe, ohne nach dessen Ursache, nach der Art der benötigten Hilfeleistungen oder deren finaler Ausrichtung zu differenzieren. Im Behandlungsplan der Mutter des Klägers seien im Wesentlichen Hilfestellungen im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung und der Behandlungspflege beschrieben (Zubereitung von hochkalorischer Nahrung, Dosierung des Essens, Gabe und Überwachung von Medikamenten, Kontrolle des Stuhlgangs, therapeutische und rehabilitative Maßnahmen wie Inhalieren, Abklopfen, Massieren, Atemtherapie und Gymnastik). Auch die Hilfe bei der Schleimabsonderung sei grundsätzlich der Behandlungspflege zuzuordnen, abgesehen von der morgendlichen Pflegemaßnahme zur Schleimabsonderung in unmittelbarem Zusammenhang zur grundpflegerelevanten Hilfe beim Aufstehen. Wöchentliche regelmäßige Praxisbesuche fielen nicht an. Zweifelhaft sei, ob bei der Fahrt zur Krankengymnastik eine kontinuierliche Begleitung des Klägers erforderlich sei. Zumindest sei nicht erkennbar, dass während der Therapie die ständige Anwesenheit einer Pflegeperson erforderlich sei.

Gegen das seinen Bevollmächtigten am 9. April 2011 zugestellte Urteil hat der Kläger am 3. Mai 2011 Berufung eingelegt. Er hat sein Begehren dahin beschränkt, dass auch die Bewilligung von Pflegegeld nach der Pflegestufe I aufgehoben worden ist. Die Gutachten des SMD und das Gutachten der Sachverständigen F. wiesen erhebliche Beurteilungsmängel auf und entsprächen wie auch der angegriffene Bescheid und das Urteil des SG nicht den gesetzlichen Vorschriften und den diese Vorschriften ausfüllenden untergesetzlichen Normen. Die (rechtswidrige) Praxis, dass die hauswirtschaftliche Versorgung anders als die übrigen Verrichtungen der Grundpflege in 92 v.H. der Gutachten regelmäßig auf 60 Minuten gekappt oder pauschaliert werde, führe in einer beträchtlichen Anzahl von Pflegeverfahren mit der Pflegestufe I für den Pflegebedürftigen bei seiner Pflegeperson zu einer rechtswidrigen Leistungsverweigerung hinsichtlich der Rentenbeiträge aus der Pflegeversicherung. Bei der Mukoviszidose seien krankheitsbedingt die hauswirtschaftlichen Verrichtungen auf 100 bis 120 Minuten erhöht. Im Bereich der Sekretmobilisation bei Mukoviszidose als verrichtungsbezogener krankheitsspeziF. Pflegemaßnahme, die zur Grundpflege gerechnet werden müsse, habe allein das Gutachten des/der Dr. K. vom 12. Dezember 2001 die tatsächlichen Verhältnisse und ihre rechtliche Subsumtion einer angemessenen Prüfung unterzogen. Die Verrichtung des Verlassens und Wiederaufsuchen der Wohnung könne nicht in mehrere Tatbestände aufgespaltet werden. Wenn die Sachverständige F. und die Beklagte dieser Ansicht seien, widerspreche dies grundlegenden rechtlichen Auslegungsregeln. Vielmehr seien die gesamten zur Sicherung der häuslichen Existenz unabdingbaren Frequentionen für ein Halbjahr zusammenzufassen, ob im Schnitt wöchentlich mindestens eine Maßnahme notwendig anfalle. Eine Begleitperson bei Arztbesuchen sowie der Physiotherapie sei erforderlich. Der Kläger hat wiederum - wie bereits dem SG - die "Hilfebedarfsermittlung der grundpflegerischen und hauswirtschaftlichen Verrichtungen" vorgelegt.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 17. März 2011 und den Bescheid der Beklagten vom 20. Juni 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 2. September 2009 insoweit abzuändern, als auch die Bewilligung von Pflegegeld nach der Pflegestufe I aufgehoben worden ist.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen,

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Beim Kläger lägen auch die Voraussetzungen für Pflegegeld nach der Pflegestufe I nicht vor.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Senatsakte, die Akte des SG sowie die von der Beklagten vorgelegte Verwaltungsakte Bezug genommen.

II.

Der Senat entscheidet über die Berufung des Klägers gemäß § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Beschluss, da der Senat die Berufung des Klägers einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Der Rechtsstreit weist nach Einschätzung des Senats keine besonderen Schwierigkeiten in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht auf, die mit den Beteiligten in einer mündlichen Verhandlung erörtert werden müssten. Zu der beabsichtigten Verfahrensweise hat der Senat die Beteiligten angehört. Eine erneute Anhörung des Klägers nach § 153 Abs. 4 Satz 2 SGG ist wegen der auf die Anhörungsmitteilung vom 21. November 2011 eingereichten Schriftsätze vom 19. Dezember 2011 und 13. Februar 2012 nicht erforderlich. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist eine erneute Anhörung gemäß § 153 Abs. 4 Satz 2 SGG erforderlich, wenn sich nach der ersten Anhörungsmitteilung die Prozesssituation entscheidungserheblich ändert. Eine neue Anhörung ist daher z.B. dann erforderlich, wenn ein Beteiligter nach der Anhörungsmitteilung substanziiert neue Tatsachen vorträgt, die eine weitere Sachaufklärung von Amts wegen erfordern, bzw. wenn er einen Beweisantrag stellt oder die Erhebung weiterer Beweise anregt, sofern diese entscheidungserheblich sind (z.B. BSG, Beschluss vom 25. Mai 2011 - B 12 KR 81/10 B - in juris). Die beiden Schriftsätze vom 19. Dezember 2011 und 13. Februar 2012 enthalten keinen neuen Vortrag des Klägers, sondern wiederholen nur dasjenige, was der Kläger sowohl im Klageverfahren als auch im Berufungsverfahren bereits vorgetragen hat. Der Kläger hat in diesen Schriftsätzen erneut auf den seiner Auffassung nach notwendigen Hilfebedarf bei der Sekretlimination und eine seiner Auffassung nach unzutreffende Auslegung des Begriffs der Verrichtung des Verlassens und Wiederaufsuchens der Wohnung verwiesen sowie - wie bereits im Schriftsatz vom 12. Juni 2009 - den seiner Ansicht nach bestehenden Hilfebedarf, insbesondere bei der "Atemhilfe", in der vorgelegten "Hilfebedarfsermittlung der grundpflegerischen und hauswirtschaftlichen Verrichtungen" dargelegt. Diese "Hilfebedarfsermittlung" lag auch der Sachverständigen F. vor.

1. Die Berufung des Klägers ist zulässig. Sie ist nach § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegt und auch statthaft. Ein Berufungsausschlussgrund des § 144 Abs. 1 SGG ist nicht gegeben. Denn der Kläger begehrt Leistungen für einen Zeitraum von mehr als einem Jahr (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG), nämlich die Weiterzahlung des mit Bescheid vom 15. Februar 2002 bewilligten Pflegegelds nach der Pflegestufe I.

2. Gegenstand des Rechtsstreites ist der Bescheid der Beklagten vom 20. Juni 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 2. September 2008, mit welchem die Beklagte die Bewilligung von Pflegegeld nach der Pflegestufe II vollständig aufgehoben hat. In diesem Bescheid hat die Beklagte nicht darüber entschieden, ob an die Pflegeperson Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung zu zahlen sind. Dies ist damit nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens. Deshalb bedarf es auch keiner Beiladung des zuständigen Rentenversicherungsträgers.

3. Die zulässige Berufung des Klägers ist nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 20. Juni 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 2. September 2008 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Die Beklagte hat die Bewilligung von Pflegegeld zu Recht ab der Bekanntgabe des Bescheids vom 20. Juni 2008 für die Zukunft vollständig aufgehoben. Die Voraussetzungen für die Zahlung von Pflegegeld, auch nach der Pflegestufe I, liegen nicht mehr vor.

Rechtsgrundlage für die mit Bescheid vom 20. Juni 2008 verfügte (ausdrückliche) Aufhebung der der mit Bescheid vom 15. Februar 2002 erfolgten Bewilligung des Pflegegeldes von Pflegestufe II ist § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Nach Abs. 1 Satz 1 dieser Vorschrift ist, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Wesentlich ist die Änderung, soweit der ursprüngliche Verwaltungsakt nach den nunmehr eingetretenen tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen so, wie er ergangen ist, nicht mehr erlassen werden dürfte (BSG, Urteile vom 19. Februar 1986 - 7 RAr 55/84 - SozR 1300 § 48 Nr. 22 und 8. September 2010 - B 11 AL 4/09 R - in juris). Zu vergleichen sind nach § 48 Abs. 1 SGB X stets die zum Zeitpunkt der Aufhebung bzw. des Aufhebungstermins bestehenden tatsächlichen Verhältnisse mit jenen, die zum Zeitpunkt der letzten Leistungsbewilligung, bei der die Anspruchsvoraussetzungen vollständig geprüft worden sind, vorhanden gewesen sind (BSG, Urteil vom 7. Juli 2005 - B 3 P 8/04 R - SozR 4-1300 § 48 Nr. 6).

Die letzte vollständige Überprüfung der Anspruchsvoraussetzungen und damit der maßgebliche Vergleichszeitpunkt ist vorliegend die durch den Bescheid der Beklagten vom 15. Februar 2002 erfolgte Bewilligung von Pflegegeld nach der Pflegestufe II ab 30. Juli 2001. Dem zugrunde lag das Gutachten des/der Dr. K. vom 12. Dezember 2001, welches insoweit das maßgebliche Vergleichsgutachten ist.

Das SG hat im angefochtenen Urteil die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Pflegegeld nach der Pflegestufe I nach den §§ 37 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit §§ 14 und 15 SGB XI genannt und ist zutreffend unter Berücksichtigung der erhobenen Gutachten zu dem Ergebnis gekommen, dass der Zeitaufwand für die Verrichtungen der Grundpflege auf unter 46 Minuten gesunken ist (S. 7/11 der Entscheidungsgründe). Diesen Ausführungen schließt sich der Senat nach eigener Prüfung an und nimmt hierauf Bezug (§ 153 Abs. 2 SGG).

Ergänzend fügt der Senat hinzu: Der Kläger ist in der Lage, die im Gesetz abschließend genannten Verrichtungen der Grundpflege selbst durchzuführen. Am gesamten Bewegungsapparat bestehen keinerlei Einschränkungen. Auch bestehen weder kardio-pulmonale Dekompensationszeichen noch eine Dyspnoe noch Ödeme. Dies ergibt sich aus dem Gutachten der Sachverständigen F ... Damit kann der Kläger auch gegebenenfalls besondere Tätigkeiten, die wegen der bei ihm bestehenden Mukoviszidose erforderlich sein soll, selbst verrichten, wie z.B. Desinfektion der Toilette, Durchspülen des Duschkopfes und des Wasserhahns mit heißem Wasser vor dem Gebrauch oder eine besonders intensive sowie wegen mehrerer notwendiger Mahlzeiten häufigere Zahnpflege, auch mit Föhnen der Zahnbürste, um eine Pseudonomabesiedelung zu verhindern. Hinzu kommt, dass ein Kind mit zunehmendem Alter weniger auf fremde Hilfe angewiesen ist, sondern die wegen der Erkrankung notwendigen Maßnahmen selbst durchführen kann, worauf bereits Dr. K. im Gutachten vom 12. Dezember 2001 hingewiesen hatte. Gerade im Bereich der Ernährung führt das zunehmende Alter des Kindes dazu, dass es die notwendige Nahrung selbstständig aufnehmen kann. Bestätigt wird dies dadurch, dass der Kläger jedenfalls zum Zeitpunkt der Aufhebung sportlich aktiv (zweimal wöchentlich Fußballtraining) war. Dass der Kläger dies zwischenzeitlich aufgegeben haben soll (so die Angaben gegenüber der Sachverständigen F., S. 12 des Gutachtens), ist unerheblich. Bei der Prüfung, ob die Aufhebung der Bewilligung zu Recht erfolgte, ist bei der reinen Anfechtungsklage die Sach- und Rechtslage zu dem Zeitpunkt maßgebend, in dem der angefochtene Verwaltungsakt erlassen worden ist (vgl. z.B. BSG, Urteil vom 20. April 1993 - 2 RU 52/92 - SozR 3-1500 § 54 Nr. 18). Maßgeblich sind daher die tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Zustellung des Widerspruchsbescheids, nicht aber die Frage, ob sich die tatsächlichen Verhältnisse zu einem späteren Zeitpunkt geändert haben.

Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des BSG hat das SG auch zutreffend einen Hilfebedarf bei der Verrichtung des Verlassens und Wiederaufsuchens der Wohnung verneint. Hinsichtlich der Verrichtung des Verlassens und Wiederaufsuchens der Wohnung hat das BSG bereits mehrmals entschieden, dass Hilfeleistungen auf Wegen außerhalb der Wohnung nur in begrenztem Maße im Bereich der Mobilität zu berücksichtigen sind, weil sie in der Regel anderen Lebensbereichen zuordnen sind (BSG, Urteile vom 24. Juni 1998 - B 3 P 4/97 R - SozR 3-3300 § 14 Nr. 5, vom 6. August 1998 - B 3 P 17/97 R - SozR 3-3300 § 14 Nr. 6, vom 10. Oktober 2000 - B 3 P 15/99 R - SozR 3-3300 § 14 Nr. 16, vom 21. Februar 2002 - B 3 P 12/01 R - SozR 3-3300 § 14 Nr. 19 und vom 28. Mai 2003 - B 3 P 6/02 R - SozR 4-3300 § 15 Nr. 1 sowie Beschluss vom 18. August 2011 - B 3 P 10/11 B -, nicht veröffentlicht). Hilfe im Bereich der Mobilität außerhalb der eigenen Wohnung bei der Verrichtung Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung ist als Pflegebedarf der sozialen Pflegeversicherung nur berücksichtigungsfähig, wenn sie erforderlich ist, um das Weiterleben in der eigenen Wohnung zu ermöglichen, also Krankenhausaufenthalte und die stationäre Pflege in einem Pflegeheim zu vermeiden (grundlegend dazu BSG, Urteile vom 24. Juni 1998 - B 3 P 4/97 R - SozR 3-3300 § 14 Nr. 5 und 6. August 1998 - B 3 P 17/97 R - SozR 3-3300 § 14 Nr. 6 m.w.N.). Diese Voraussetzung ist u.a. nur dann gegeben, wenn ein mindestens einmal wöchentlicher Hilfebedarf beim Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung für Arztbesuche oder das Aufsuchen ärztlich verordneter Behandlungen, z.B. Krankengymnastik, gegeben ist. In Betracht käme insoweit allenfalls ein Hilfebedarf des Klägers bei der einmal wöchentlich stattfindenden Krankengymnastik (Atem- und Mukoviszidosetherapie). Wie die Sachverständige F. vermag auch der Senat insoweit keinen Hilfebedarf zu erkennen, weil der Kläger aufgrund seines zwischenzeitlich erreichten Alters in der Lage ist, selbstständig sich zu dem Ort der Therapie zu begeben.

Ein Hilfebedarf besteht allenfalls wegen der erforderlichen Sekretlimination. Ein Zusammenhang kann insoweit allenfalls mit der Verrichtung des Aufstehens/Zubettgehens, wobei der Kläger sich selbstständig aus dem Bett erheben kann, bestehen (dies allerdings verneinend: BSG, Urteile vom 29. April 1999 - B 3 P 12/98 R - in juris und - B 3 P 12/98 R - SozR 3-3300 § 14 Nr. 11, ebenso das bereits vom SG genannte Urteil des Senats vom 17. September 2008 - L 4 P 2783/06 -, nicht veröffentlicht). Einen Hilfebedarf bei der Verrichtung des Aufstehens/Zubettgehens wegen des Abhustens bzw. der Sekretlimination (siehe hierzu Abschnitt D 4.3. Nr. 10 Begutachtungs-Richtlinien) haben sowohl Pflegefachkraft M.-B. in ihrem Gutachten vom 22. März 2008 mit vier Minuten als auch die Sachverständige F. in ihrem Gutachten vom 4. August 2010 mit fünf Minuten angenommen. Dass der Zeitaufwand hierfür deutlich höher ist, vermag der Senat nicht zu erkennen. Die Schätzung beruht vielmehr auf den Angaben der Mutter des Klägers, wonach das Abklopfen ca. viermal täglich in der Hängebauchlage erfolge und dieser Vorgang ca. fünf Minuten dauere. Dieser Hilfebedarf bezieht sich allein auf die Sekretlimination. Da bei anderen Verrichtungen kein Hilfebedarf besteht, müsste dieser bei über 30 bis 40 Minuten liegen, damit der für die Pflegestufe I notwendige Zeitaufwand von mindestens 46 Minuten erreicht wird. Auch Dr. K. nahm im Übrigen allein für das Abklopfen nur einen Zeitaufwand von 42 Minuten an. Der insoweit vom Kläger behauptete Zeitaufwand von 46 Minuten, den Dr. K. angenommen habe, ergibt sich dann, wenn die von Dr. K. für das Aufstehen genommenen vier Minuten hinzugezählt werden. Für das Aufstehen und Zubettgehen selbst ist jedenfalls zum hier maßgeblichen Zeitpunkt der Beurteilung ein Hilfebedarf nicht mehr notwendig. Dazu ist der Kläger selbstständig in der Lage.

Aber selbst wenn der Hilfebedarf wegen der Sekretlimination mindestens 46 Minuten betragen sollte, wären die Voraussetzungen für Pflegegeld nach der Pflegestufe I nicht gegeben. Denn ein Hilfebedarf bestünde dann nur bei einer Verrichtung, nämlich bei der des Aufstehens/Zubettgehens. Die Pflegestufe I setzt allerdings voraus, dass für wenigstens zwei Verrichtungen aus einem oder mehreren Bereichen ein Hilfebedarf besteht.

Dass der Kläger Hilfe bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, kann unterstellt werden. Der Umfang dieser hauswirtschaftlichen Versorgung des Klägers ist für die Entscheidung des Rechtsstreits jedoch unerheblich. Selbst wenn dieser Umfang zu gering angesetzt worden wäre, besteht der Anspruch auf Pflegegeld der Pflegestufe I nicht mehr. Denn für die Zuordnung zu dieser Pflegestufe ist nicht nur die Hilfe bei der hauswirtschaftlichen Versorgung erforderlich, sondern auch die Hilfe bei den Verrichtungen der Grundpflege. Pflegebedürftigkeit wird nicht allein durch einen Hilfebedarf im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung begründet, sondern verlangt einen zusätzlichen Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege (so schon der Entwurf des Pflege-Versicherungsgesetzes vom 24. Juni 1993, Bundestags-Drucksache 12/5262, S. 97; Udsching, SGB XI, 3. Aufl. 2010, § 14 Rn. 41). An dem erforderlichen Hilfebedarf bei der Grundpflege fehlt es jedoch.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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