L 5 KR 3182/11

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 1 KR 605/11
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 5 KR 3182/11
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 06.07.2011 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte dem Kläger im Anschluss an die Entlassung aus der Haft eine stationäre Entwöhnungsbehandlung zu gewähren hat.

Der 1982 geborene Kläger ist seit 19.05.2008 in Strafhaft bis voraussichtlich 16.08.2012. Er ist drogenabhängig. Zuletzt vor seiner Inhaftierung bezog er Arbeitslosengeld II und war pflichtversichertes Mitglied der Beklagten.

Am 20.05.2010 beantragte er bei der D. stationäre Leistungen zur medizinischen Rehabilitation für Abhängigkeitskranke. Nach dem ärztlichen Bericht des Anstaltsarztes Dr. Sch. von der Justizvollzugsanstalt R. vom 07.05.2010 besteht beim Kläger in erster Linie ein Heroinabusus. Es liege eine "drogenbedingte Kriminalkarriere" vor. Der Kläger sei noch nie in Therapie gewesen. Dr. Sch. bejahte die Motivation des Klägers, aktiv an der Rehabilitation mitzuwirken, und regte eine Maßnahme in der Einrichtung "Therapieverbund B." in T. an. Nach dem beigefügten Bericht der Ärzte des Justizvollzugskrankenhauses H. vom 17.06.2008 über die stationäre Behandlung vom 20.05. bis 02.06.2008 wurde beim Kläger ein Drogenentzugssyndrom, eine Polytoxikomanie und eine Hepatitis C diagnostiziert. Der Drogenentzug verlief ohne Komplikationen. Eine Entwöhnungstherapie wurde dringend empfohlen. Nachgereicht wurde der Sozialbericht des Diplom-Sozialpädagogen G. von der Sucht- und Drogenberatung T. (im Therapieverbund B.) vom 09.06.2010. Nach einem Erstgespräch 2009 hätten dort seit 15.03.2010 regelmäßig Einzelgespräche stattgefunden. Die Haft stehe der beantragten Reha-Maßnahme nicht entgegen. Die Eigenmotivation liege vor, man habe den Eindruck, dass sich der Kläger innerhalb der Haft um Abstinenz bemühe. Der Therapiewunsch des Klägers werde unterstützt.

Die D. stellte fest, dass die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nach § 11 des Sechsten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB VI) nicht gegeben waren, und leitete den Antrag nach § 14 Abs. 1 des Neunten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB IX) mit Schreiben vom 21.05.2010 an die A., Bezirksdirektion R., weiter. Diese leitete den am 26.05.2010 bei ihr eingegangenen Antrag an die Beklagte weiter, wo er am 10.06.2010 einging. Die Beklagte teilte zunächst dem Kläger mit Schreiben vom 08.07.2010 mit, dass derzeit eine "offene Versicherungszeit" bei der A. nicht bestehe, weshalb eine medizinische Rehabilitationsleistung nicht gewährt werden könne. Der Kläger entgegnete mit Schreiben vom 28.07.2010, er beabsichtige erstmals eine stationäre Therapiemaßnahme; die Voraussetzungen für eine Anwendung von § 35 des Betäubungsmittelgesetzes (BtMG) seien gegeben. Mit dem Tag der Haftentlassung zur Therapie werde er Anspruch auf Alg II haben und dann bei seiner letzten Krankenkasse wieder angemeldet werden, so dass die Beklagte dann wieder für ihn zuständig sein werde.

Daraufhin holte die Beklagte eine sozialmedizinische Stellungnahme beim MDK ein. Die Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie V. vom MDK T. führte am 03.09.2010 aus, bei Würdigung der vorhandenen Unterlagen bestehe keine dringende medizinische Notwendigkeit zur Durchführung einer Drogenentwöhnungsbehandlung. Bei dem jahrelangen Drogenkonsum müsse sicherlich Reha-Bedürftigkeit bestätigt werden. Die Motivation des Klägers für die Rehamaßnahme werde aber in seinem vordergründigen Interesse an Haftverschonung gesehen. Sollte eine Entwöhnungsbehandlung vor Ablauf der Haftzeit als erforderlich angesehen werden, bestehe auch die Möglichkeit, diese unter Haftbedingungen durchzuführen.

Gestützt auf diese Stellungnahme lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 16.09.2010 den Antrag des Klägers mangels dringender medizinischer Indikation für eine stationäre Rehabilitation ab.

Der Kläger legte am 29.09.2010 Widerspruch ein. Er verstehe nicht, dass die Beklagte die Notwendigkeit einer Therapie verneine. Herr G. von der Sucht- und Drogenberatung T. unterstützte diesen Widerspruch mit Schreiben vom 08.10.2010 und führte aus, seit dem 15.03.2010 fänden mit dem Kläger regelmäßige (bis dato 19) Einzelgespräche statt. Er zeige sich dabei eindeutig entschlossen in seinem Wunsch nach einer stationären Therapie. Wie die Beklagte zur Ablehnung komme, sei nicht nachvollziehbar.

Die Beklagte bat den MDK erneut um eine Stellungnahme. Frau V. wiederholte am 25.10.2010 ihre bisherige Beurteilung.

Mit Widerspruchsbescheid vom 02.02.2011 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Die Voraussetzungen für die beantragte stationäre Rehabilitation würden nicht vorliegen, da nach der Stellungnahme des MDK keine medizinische Dringlichkeit dafür, verbunden mit einer vorzeitigen Haftentlassung, gegeben sei. Der Rehabilitationsfähigkeit stehe entgegen, dass für die Motivation des Klägers eine Haftverschonung vordergründig sei.

Der Kläger erhob am 02.03.2011 Klage beim Sozialgericht Reutlingen. Er bemühe sich sehr, seinem Leben eine positive Wende zu geben, benötige dabei aber professionelle Hilfe. Seine Motivation sei nach wie vor sehr groß.

Die Beklagte trat dem entgegen und machte geltend, es bestehe derzeit keine Mitgliedschaft bei ihr. Der Rechtsstreit sei daher nicht entscheidungsreif. Vielmehr sei zunächst zu klären, wie die Zuständigkeit nach Haftentlassung sein werde. Die Beklagte erkläre sich bereit, nach klägerseitiger Vorlage eines aktuellen Sozialberichtes der Sucht- und Drogenberatung mit Ausführungen zum Drogenkonsum während der Haft eine erneute sozialmedizinische Beurteilung unter Berücksichtigung gerichtlicher Fragestellungen zu veranlassen.

Mit Gerichtsbescheid vom 06.07.2011 hob das Sozialgericht Reutlingen den Bescheid der Beklagten vom 16.09.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.02.2011 auf und verurteilte die Beklagte, dem Kläger nach Haftentlassung Leistungen zur medizinischen Rehabilitation in Form einer stationären Entwöhnungsbehandlung zu gewähren. Zur Begründung wurde ausgeführt, Versicherte hätten gemäß § 11 Abs. 1 Nr. 4, § 27 Abs. 1 Satz 1 des Fünften Buches des Sozialgesetzbuches (SGB V) Anspruch auf Krankenbehandlung, die auch Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und ergänzende Leistungen umfasse, § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V. Allerdings sei der Kläger derzeit, solange er sich in Strafhaft befinde, nicht in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert. Für den Krankheitsfall sei er vielmehr durch die Gesundheitsfürsorge nach §§ 56 ff. des Strafvollzugsgesetzes (StVollZG) abgesichert. Diese ende jedoch mit der Inhaftierung. Nach dem gegenwärtig möglichen Erkenntnisstand werde der Kläger dann versicherungspflichtiges Mitglied der Beklagten sein. Mit der Haftentlassung werde entweder Versicherungspflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 2a SGB V wegen des Bezugs von Arbeitslosengeld II oder nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V eintreten. Für den Fall, dass der Kläger kein Arbeitslosengeld II erhalten sollte, würden die Voraussetzungen der Auffangpflichtversicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 vorliegen, weil er nach Haftentlassung keinen anderweitigen Anspruch auf Absicherung im Krankheitsfall habe und auch zuletzt gesetzlich krankenversichert gewesen sei, nämlich bis zu seiner Inhaftierung als Mitglied der Beklagten (vgl. BSG, Urteil vom 12.01.2011 - B 12 KR 11/09 R in Juris). Mitglied der Beklagten werde der Kläger durch Ausübung seines Wahlrechts nach § 173 Abs. 1 i.V.m. § 175 Abs. 1 Satz 1 SGB V; abgesehen von der Geltendmachung des hier streitigen Anspruchs gegen die Beklagte habe der Kläger die Wahl der Beklagten ausdrücklich in seinem Schreiben vom 28.07.2010 erklärt und somit sein Wahlrecht ausgeübt. Für die Versicherungspflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V greife § 174 Abs. 5 SGB V ein, aus dem sich die zwingende Zuständigkeit der Beklagten ergebe.

Eine Krankenversicherungspflicht nach Haftentlassung sei auch nicht unter dem Gesichtspunkt eines möglichen Sozialhilfebezuges des Klägers ernsthaft zu bezweifeln. Zwar trete nach § 5 Abs. 8a Sätze 1 und 2 SGB V die Auffangpflichtversicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V bei Empfängern laufender Leistungen nach dem 3., 4., 6. und 7. Kapitel des SGB XII nicht ein. Indessen bestehe kein Anhalt dafür, dass der Kläger, der vor seiner Inhaftierung Arbeitslosengeld II bezogen habe, nach Haftentlassung nicht erwerbsfähig sein und damit dem SGB XII unterfallen werde. Vor allem aber gelte der Ausschluss der Versicherungspflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V nur für Empfänger laufender Leistungen; selbst eine rückwirkende Leistungsbewilligung würde den Eintritt und das Fortbestehen der Auffangpflichtversicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V nicht berühren (LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 19.11.2009 - L 16 (11) KR 54/08 -, in Juris). Die Versicherungspflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V trete mit der Haftentlassung ein; es sei schwerlich vorstellbar, dass der Kläger in diesem Zeitpunkt bereits "Empfänger laufender Leistungen" nach dem SGB XII sei. Für eine solche Möglichkeit gebe es nicht den geringsten Hinweis.

Sollte die Beklagte über diese Feststellungen hinaus verbindliche Feststellungen vor allem zum Bezug von Arbeitslosengeld II und Sozialhilfe nach Haftentlassung des Klägers erwarten, sei dies nicht erforderlich und zum anderen - da zukunftsbezogen - nicht möglich.

Zudem sei die Beklagte als zweitangegangener Rehabilitationsträger nach § 14 Abs. 2 Satz 3 i.V.m. § 14 Abs. 2 Sätze 1 und 2 SGB IX leistungszuständig. Dem stehe nicht entgegen, dass die zuerst angegangene D. den Antrag des Klägers zunächst nicht unmittelbar an die Beklagte, sondern an die A., Bezirksdirektion N., weitergeleitet hat. Die D. habe irrtümlich die A. für die letzte Krankenkasse des Klägers vor seiner Inhaftierung gehalten. Die A. habe den Antrag zuständigkeitshalber an die Beklagte weitergeleitet. Diese berufe sich auch nicht auf eine Zuständigkeit der A ...

In der Sache seien die Tatbestandsvoraussetzungen für einen Anspruch des Klägers auf eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme nach § 40 Abs. 2 SGB V gegeben. Wie sich aus dem Verweis auf § 40 Abs. 1 SGB V sowie der dortigen Bezugnahme auf § 11 Abs. 2 SGB V ergebe, setze ein Anspruch auf eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme gegen die Krankenkasse u.a. voraus, dass die begehrte Maßnahme aus medizinischen Gründen erforderlich sei, um eine Behinderung oder Pflegebedürftigkeit abzuwenden, zu beseitigen, zu mindern, auszugleichen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen zu mildern.

Alle vorliegenden Unterlagen sprächen für die Erfüllung der medizinischen Voraussetzungen. Diese Unterlagen seien im Wesentlichen, neben dem Vorbringen des Klägers sowie dem seinen Widerspruch unterstützenden Schreiben des Diplom-Sozialpädagogen G. vom 08.10.2010, die ärztlichen Berichte von Dr. Sch. und des Justizvollzugskrankenhauses H. sowie der Sozialbericht vom 09.06.2010. Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus den Stellungnahmen der Ärztin V. vom MDK, die eine medizinische Indikation für die beantragte Rehabilitationsmaßnahme zwar annehme, zu Unrecht aber zusätzlich eine "dringende" medizinische Notwendigkeit fordere. Die "dringende" medizinische Notwendigkeit werde vom Gesetz (§ 40 Abs. 3 Satz 4 SGB V) nur für eine vorzeitige (vor Ablauf von 4 Jahren seit der letzten Maßnahme) beanspruchte Leistung verlangt. Darum gehe es hier aber nicht, denn der Kläger beanspruche eine erstmalige Rehabilitationsmaßnahme.

Die hinreichende Erfolgsaussicht der beantragten stationären Entwöhnungsbehandlung sei ebenfalls gegeben. Die gegenteilige, von der Beklagten übernommene Beurteilung von Frau V. sei nicht nachvollziehbar. Die Behauptung, "bezüglich der Rehabilitationsfähigkeit werde gutachterlicherseits eingeschätzt, dass die Motivation des Versicherten eine Haftverschonung vordergründig anzusehen ist", sei eine durch nichts begründete Behauptung; weder gebe die Gutachterin eine Begründung, noch fänden sich sonstige Anhaltspunkte dafür. Vielmehr werde sowohl im Sozialbericht vom 09.06.2010 als auch im ärztlichen Bericht von Dr. Sch. die Motivation des Klägers zur aktiven Mitwirkung an der Rehabilitation bejaht. Gegen die hinreichende Erfolgsprognose sprechende objektive Umstände wie etwa die Erfolglosigkeit bereits durchgeführter oder versuchter Rehabilitationsmaßnahmen würden nicht vorliegen. Auf eigene Untersuchungsergebnisse könne sich die Beurteilung Frau V.s nicht stützen. Die "Haftverschonung" sei für den Fall des § 35 BtMG typisch; eine rein spekulative Vermutung, dies stehe im Vordergrund und eine ausreichende Motivation und Erfolgsaussicht sei deshalb nicht gegeben, könne somit in gleicher Weise in allen oder den meisten derartigen Fällen einem Antrag auf eine Entwöhnungsbehandlung entgegengehalten werden. Das sei nicht sachgerecht und würde entgegen der Absicht des Gesetzgebers die Anwendung des § 35 BtMG erschweren, da ja - wie auch hier - die Rehabilitationsträger verständlicherweise eine Kostenzusage forderten. Im Übrigen dürfe gerade der Aspekt einer sonst drohenden (längeren) Strafhaft eher geeignet sein, die Motivation eines Drogenabhängigen für eine Entwöhnungsbehandlung zu unterstützen, als sie zu mindern. Dass sich an diesen medizinischen Umständen und den daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen etwas geändert haben solle, sei nicht ersichtlich; für die von der Beklagten angeregte bzw. angebotene nochmalige Überprüfung durch den MDK (oder einen anderen Gutachter) bestehe daher kein Anlass.

Die Beklagte hat gegen den ihr am 13.07.2011 zugestellten Gerichtsbescheid am 28.07.2011 Berufung eingelegt. Sie macht zur Begründung geltend, dass für die vom Erstgericht getroffene Entscheidung wegen fehlender Sachverhaltsermittlung bezüglich der Versicherungspflicht noch keine Entscheidungsreife bestanden habe. Ob nach der Haftentlassung ein gesetzlicher Krankenversicherungsschutz bei der Beklagten nach § 5 SGB V entstehen werde, sei abhängig von weiteren noch festzustellenden Faktoren. Es wäre deshalb vor einer Entscheidung des Gerichts zu ermitteln gewesen, ob ein unmittelbarer Übergang des Klägers von der Haft in die Rehabilitationsmaßnahme vorgesehen sei, ob im Anschluss an die Haftentlassung Leistungen gemäß SGB II bezogen würden oder ob ggf. der Sozialhilfeträger für laufende Leistungen zum Lebensunterhalt gemäß SGB XII zuständig sei. Die Feststellung in der Urteilsbegründung, dass "nach dem gegenwärtig möglichen Erkenntnisstand ... der Kläger versicherungspflichtiges Mitglied der Beklagten sein" werde, sei nicht nachvollziehbar. So wäre etwa im Fall der (ggf. rückwirkenden) Bewilligung von laufenden Leistungen nach dem SGB XII eine Auffangversicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 i.V.m. Abs. 8a SGB V ausgeschlossen. Sie sei für die begehrte Rehabilitationsmaßnahme daher bereits wegen fehlender Feststellung über eine konkrete Versicherung nicht leistungspflichtig.

Zudem lägen die sozialmedizinischen Voraussetzungen für die begehrte Maßnahme derzeit nicht vor. Der MDK habe Zweifel an der Rehabilitationsfähigkeit geäußert, da die Motivation des Klägers durch sein Interesse an einer Haftverschonung geprägt sei. Gegen eine positive Rehabilitationsprognose spreche, dass ein Drogenkonsum selbst unter Haftbedingungen stattgefunden habe sowie die sozialen Verhältnisse nach der Haftentlassung unklar seien. Es sollte nach der Haftentlassung eine erneute sozialmedizinische Beurteilung unter Beachtung der sozialen Verhältnisse im Umfeld des Klägers erfolgen. Deshalb sei angeregt worden, nach Vorlage eines aktuellen Sozialberichtes der Sucht- und Drogenberatung durch den Kläger (mit Ausführungen zum Drogenkonsum während der Haft) eine erneute sozialmedizinische Beurteilung unter Berücksichtigung gerichtlicher Fragestellungen zu veranlassen. Das Erstgericht hingegen sehe eine "hinreichende Erfolgsaussicht der beantragten stationären Entwöhnungsbehandlung" und halte eine weitere medizinische Sachverhaltsaufklärung nicht für notwendig. Für die Beklagte sei die Erfüllung der leistungsrechtlichen Voraussetzungen gemäß §§ 9 und 10 der Rehabilitations-Richtlinie derzeit aber nicht nachgewiesen.

Die Beklagte beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 06.07.2011 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt nach sachdienlicher Auslegung,

die Berufung zurückzuweisen.

Er bleibe bei seinem Wunsch, eine stationäre Drogentherapie durchzuführen. Eine solche sei ihm noch nie bewilligt worden.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten und der Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten und die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Beklagten ist gem. §§ 143, 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft und auch sonst zulässig.

Die Berufung der Beklagten ist auch begründet.

Denn die Klage auf die Gewährung von Leistungen zur medizinischen Rehabilitation in Form einer stationären Drogenentwöhnungstherapie war bereits unzulässig. Das Sozialgericht hätte dieser Klage nicht stattgeben dürfen.

Der Kläger hat derzeit kein Rechtsschutzbedürfnis für eine Entscheidung über den Anspruch auf Gewährung einer Rehabilitationsbehandlung nach Haftende. Der Kläger wird voraussichtlich am 16.08.2012 aus der Haft entlassen. Ihm kann kein vorbeugender Rechtschutz für diesen in der Zukunft liegenden Zeitpunkt gewährt werden, da nicht feststeht, ob die Voraussetzungen für den von ihm geltend gemachten Anspruch zu diesem Zeitpunkt vorliegen werden. Zu Recht hat die Beklagte beanstandet, dass derzeit nicht absehbar ist, wie sich die Verhältnisse hinsichtlich der Versicherungspflicht des Klägers einerseits und der sozialmedizinischen Erfolgsprognose für eine Drogentherapie andererseits zu diesem Zeitpunkt darstellen werden.

Das Sozialgericht selbst hat seine Entscheidung über die Frage, ob der Kläger nach Haftende überhaupt - wieder - Mitglied der Beklagten sein wird, auf den "gegenwärtig möglichen Erkenntnisstand" gestützt. Es hat eine Versicherungspflicht bei der Beklagten entweder aufgrund von § 5 Abs. 1 Nr. 2a SGB V oder aufgrund von § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V angenommen und den Ausschlusstatbestand des § 5 Abs. 8a Satz 1 und 2 SGB V verneint mit der Begründung, es sei "nicht anzunehmen", dass der Kläger nach dem Haftende laufende Leistungen nach dem SGB XII beziehen werde. Eine solche Prognose als Grundlage des Verpflichtungsausspruchs im ergangenen Gerichtsbescheid hält der Senat für nicht zulässig. Vielmehr handelt es sich bei einer derartigen Entscheidung um die Gewährung vorbeugenden Rechtsschutzes, auf den der Kläger keinen Anspruch hat. Es kann derzeit nicht abschließend beurteilt werden, wie sich die versicherungsrechtlichen Verhältnisse des Klägers im August 2012 darstellen werden.

Gleiches gilt auch für die Frage des Vorliegens der sozialmedizinischen Voraussetzungen für eine im Anschluss an die Haft durchzuführende Rehabilitationsmaßnahme. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt kann - auch auf der Grundlage der bei den Akten befindlichen Stellungnahmen des Diplom-Sozialpädagogen G. und des behandelnden Arztes Dr. Sch. - die Frage der ausreichenden Motivationslage i.S.v. § 9 der Rehabilitations-Richtlinien für eine erst in mehreren Monaten durchzuführende Rehabilitationsbehandlung nicht hinreichend sicher geklärt werden. Ob die von Herrn G. und von Dr. Sch. in ihren Stellungnahmen vom 09.06.2010 bzw. vom 07.05.2010 dem Kläger attestierte Motivationslage auch im August 2012 noch vorliegen wird, kann auf der Grundlage dieser Äußerungen nicht entschieden werden. Entsprechende Feststellungen können erst wenige Wochen vor Haftende getroffen werden. Das von der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie V. angenommene vorrangige Interesse an vorzeitiger Haftentlassung, welches sie als einer ausreichenden Rehabilitations-Motivation entgegenstehend bewertet hat, dürfte dann voraussichtlich nicht mehr im Vordergrund stehen. Maßgebliche Bedeutung für die Bewertung der Rehabilitationsfähigkeit des Klägers dürfte aber, worauf die Beklagte zu Recht hinweist, der Frage des Drogenkonsums während der Haft zukommen, die nach dem Sozialbericht vom 09.06.2010 unklar war und ebenfalls erst in engem zeitlichen Zusammenhang mit dem tatsächlichen Ende der Haft geklärt werden kann. Es ist dem Senat auch nicht möglich, insoweit durch eigene Ermittlungen Entscheidungsreife herbeizuführen, da es sich um einen in der Zukunft liegenden Sachverhalt handelt.

Ausnahmsweise auf einen früheren Zeitpunkt einer möglichen Beendigung der Haft, etwa zum Zeitpunkt des Vorliegens einer Kostenübernahmeerklärung für die Rehabilitationsmaßnahme, abzustellen, kommt hier ebenfalls nicht in Betracht. Denn der Kläger hat bisher keine Entscheidung der Strafvollstreckungsbehörden zu der Möglichkeit einer vorzeitigen Haftentlassung herbeigeführt. Anders als in dem vom SG Hamburg gefassten Beschluss im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes (Beschluss vom 13.10.2008 - S 48 KR 1093/08 - in Juris), wo dem Rechtsmittelführer eine Haftentlassung zum Zweidrittelzeitpunkt nach § 57 Strafgesetzbuch (StGB) durch das Landgericht in Aussicht gestellt worden war, liegen entsprechende Äußerungen der Vollstreckungsbehörden über das Vorliegen der Voraussetzungen für eine vorzeitige Haftentlassung hier bisher nicht vor. Auch vor diesem Hintergrund besteht deshalb kein Rechtsschutzinteresse des Klägers an einer Verpflichtung der Beklagten bereits zum gegenwärtigen Zeitpunkt zur Übernahme der Rehabilitationskosten, da er eine vorzeitige Haftentlassung allein damit nicht erreichen kann.

Das Sozialgericht hätte die Beklagte daher nicht zur Gewährung von Leistungen der medizinischen Rehabilitation verpflichten dürfen, weshalb der Gerichtsbescheid vom 06.07.2011 aufzuheben war.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht (§ 160 Abs. 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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