L 3 R 247/10

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Magdeburg (SAN)
Aktenzeichen
S 5 R 5/08
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 3 R 247/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 26. August 2010 geändert. Die Klage wird abgewiesen, soweit diese auf die Bewilligung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung vom 1. März bis zum 31. Oktober 2009 gerichtet ist. Im Übrigen wird die Berufung der Beklagten zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die Hälfte seiner notwendigen außergerichtlichen Kosten in beiden Rechtszügen zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Bewilligung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung nach dem Sechsten Buch Sozialgesetzbuch (Gesetzliche Rentenversicherung - SGB VI).

Der am ... 1959 geborene Kläger absolvierte nach dem Abschluss von acht Schulklassen eine Maurerlehre und war danach als Lagerist und Bauwerker tätig. Nach einer Umschulung schloss er 1996 die Abschlussprüfung im Ausbildungsberuf Straßenbauer erfolgreich ab. Beim Heben einer Holzpalette trat am 26. September 2006 während der Arbeit ein Rotatorenmanschettenausriss an seiner rechten Schulter ein. Im Anschluss daran war er arbeitsunfähig. Das letzte versicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnis des Klägers als Straßen- und Tiefbauer wurde zum 4. Januar 2007 witterungsbedingt gekündigt.

Der Kläger verfügt über eine Fahrerlaubnis und einen eigenen Pkw.

Nach dem Entlassungsbericht der Rehabilitationsklinik G. vom 16. Mai 2007 über die dem Kläger dort von der Beklagten vom 5. bis zum 26. April 2007 gewährte stationäre Maßnahme wurde er mit einem Leistungsvermögen von sechs Stunden und mehr täglich für mittelschwere Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt entlassen. Die Beklagte lehnte unter Bezugnahme auf dieses Leistungsbild den Rentenantrag des Klägers vom 10. Mai 2007 mit Bescheid vom 4. Juli 2007 ab. Dem hiergegen gerichteten Widerspruch half sie mit Bescheid vom 9. Oktober 2007 insoweit ab, als sie dem Kläger nun Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit ab dem 1. Mai 2007 auf Dauer bewilligte.

Die Beklagte zog das Sozialmedizinische Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) Sachsen-Anhalt vom 11. Juli 2007 bei. Danach bestanden bei dem Kläger zum Begutachtungszeitpunkt - nach operativer Fixierung der Supraspinatussehne und wegen einer Lumboischialgie und einer Chondromalacia patellae - weiterhin schmerzhafte Funktionsstörungen an der rechten Schulter, der Lendenwirbelsäule (LWS) und beiden Kniegelenken. Er könne nur noch leichte körperliche Tätigkeiten im Wechsel zwischen Sitzen, Gehen und Stehen, ohne körperliche Zwangshaltungen und Überkopfarbeit verrichten. Zu vermeiden seien häufiges Bücken und Hocken sowie Torsionsbewegungen der Wirbelsäule. Die Beklagte wies den Widerspruch, soweit sie diesem nicht abgeholfen hatte, mit Widerspruchsbescheid vom 11. Dezember 2007 als unbegründet zurück und nahm auf das vom MDK festgestellte Leistungsvermögen, das im Umfang von mindestens sechs Stunden täglich gegeben sei, Bezug.

Mit seiner am 4. Januar 2008 bei dem Sozialgericht Magdeburg erhobenen Klage hat der Kläger nur noch die Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung vom 1. März 2009 bis zum 29. Februar 2012 erstrebt. Er sei auf Grund seiner Schulter- und Armbeschwerden auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auch nicht drei Stunden täglich einsatzfähig.

Das Sozialgericht hat zunächst durch Einholung von Befundberichten ermittelt. Aus dem Befundbericht von dem Facharzt für Chirurgie Dr. B. vom 7. August 2008 geht hervor, die Befunde hätten sich bei dem Kläger - mit einer Chronifizierung des Schmerzzustandes - verschlechtert. In der Schmerztherapie sei die Einflussnahme durch Analgetika, Glukortikoide (Cortison), Morphinderivate und Physiotherapie nicht erfolgreich gewesen. Es habe sich im Verlauf der Zeit ein nicht zu beeinflussender Hartspann im Bereich der LWS entwickelt. Hinzu komme eine Verschlechterung der Beweglichkeit der LWS mit einem ständigen Schmerz, ausstrahlend bis in die Beine. Auf Grund der Inaktivität beginne eine Muskelatrophie paravertebral sowie im Bereich beider Arme. Der Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. A. hat in seinem Befundbericht vom 10. September 2008 ausgeführt, bei dem Kläger hätten sich die ausgeprägten lumbalen Beschwerden seit Dezember 2006/Januar 2007 verstärkt; hinzugetreten seien Schmerzen in beiden Knien. Arm und Schulter rechts seien nicht belastungsfähig. Der Facharzt für Neurochirurgie/Chirotherapie Dr. H. hat in dem Arztbrief vom 15. Februar 2008 eine Weiterbehandlung mit nichtsteroidalen Antiphlogistika sowie gelegentlichen Injektionen in das Kreuzdarmbeingelenk empfohlen. In der Auswertung der Magnetresonanztomografie (MRT) vom 2. Oktober 2007 hätten sich eine Skoliose der LWS mit erheblichen degenerativen Veränderungen und Diskopathien sowie hochgradige Foraminaeinengungen gezeigt.

Die Beklagte hat dem Sozialgericht Unterlagen aus der Nachuntersuchung des Klägers im August 2008 überlassen. Auf Bl. 52 bis 54 Bd. I der Gerichtsakten wird insoweit Bezug genommen.

Das Sozialgericht hat ein Gutachten von dem Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie Dr. E. vom 29. Oktober 2009 eingeholt, das auf der Grundlage einer ambulanten Untersuchung am 22. April 2009 erstellt worden ist. Bei dem Kläger stünden die Beschwerden im Bereich der LWS mit Ausstrahlung in das linke Bein im Vordergrund. Daneben bestünden Beschwerden im Bereich der Schulter und beider Kniegelenke sowie (geringgradig) im Bereich der Hände. Die Schmerzen im Bereich der LWS würden auf der visuellen Analogskala zwischen 5 und 7 angegeben. Hier werde ein ständig bestehender stumpfer Schmerz (mittig tief lumbal) angegeben. Die Schmerzen verstärkten sich bei Drehbewegungen und dem Bücken. Auch das Laufen sei hierdurch - bei Schmerzen im linken Bein mit brennendem Charakter vom Gesäß an der Oberschenkelaußenseite herunter über das Knie bis zum Knöchel hin - limitiert. Bei Belastung träten die Beschwerden sofort auf. Bei langsamem Gehen seien ca. 250 m gut zurücklegbar, maximal 500 m. Treppen von einem Stockwerk könne der Kläger relativ gut bewältigen. Im Sitzen seien die Beschwerden im Bein geringer; insbesondere das halb liegende Sitzen sei relativ schmerzarm. Im Übrigen sei ein häufiger Wechsel der Sitzposition erforderlich. Im Bereich der rechten Schulter bestünden Schmerzen erst bei Bewegung und Belastung. Jede Arbeit oberhalb der Schulterebene sei schmerzbedingt nicht durchführbar. Lasten schwerer als 5 kg seien kaum zu bewältigen. Es erfolge eine Dauermedikation mit Ibuprofen 800 (eine Tablette pro Tag). Bei der Untersuchung habe sich der Kläger in einem guten Allgemeinzustand und übergewichtigen Ernährungszustand (184 cm/110 kg) befunden. In der Gehbeobachtung im Untersuchungszimmer und auf dem Krankenhausflur habe er ein leicht linksseitiges Hinken, eine Verkürzung der Schrittlänge und der Standbeinphase links gezeigt. Die Gehgeschwindigkeit sei mäßiggradig vermindert. Bei der Prüfung der Gangvaria seien der Stand auf den Zehenspitzen unsicher und der Zehengang unsicher und kleinschrittig gewesen. Hier zeige sich auch eine deutliche Verkürzung der Belastungsphase links; die Beschwerden würden als stärker angegeben als beim normalen Gehen. Das Ausziehen geschehe selbstständig und sei insgesamt etwas verlangsamt. Der rechte Arm werde dabei deutlich vermindert eingesetzt. Im Bereich der Wirbelsäule zeige sich eine großbogige linkskonvexe Skoliose und im seitlichen Profil eine Kyphose der Brustwirbelsäule (BWS), verringert im Sinne eines Flachrückens. Trotz der Adipositas lasse sich eine deutliche Rotationsverschiebung der Wirbelsäule feststellen, beim Vornüberbeugen ein eindeutiger Rippenbuckel und ein kontralateraler Lendenwulst. An der LWS bestehe ein massiver Druckschmerz im Bereich beider Ileosakralgelenke sowie über den Irritationszonen der kleinen Wirbelgelenke L5/S1 und L4/5. Die Bewegungsprüfung zeige eine eingeschränkte Beweglichkeit von BWS und LWS. Der Finger-Boden-Abstand betrage bei gestreckten Kniegelenken und maximaler Rumpfbeugung zwischen den Fingerspitzen des gestreckten Armes und dem Boden 65 cm. Die Seitneigung der Wirbelsäule sei deutlich schmerzhaft, die Rotation sei auf etwa 50 Prozent der Normalbeweglichkeit reduziert. Die Gebrauchshand sei rechts. Im Bereich der Finger- und Handgelenke zeige sich beidseits kein auffälliger Befund. Die Tiefen- und Oberflächensensibilität seien ungestört. Beim Halten eines Gegenstandes trete nach fünf bis zehn Minuten ein Kraftverlust im Bereich der Hände auf, der das Festhalten schwierig mache. Rechts stärker als links bestehe subjektiv ein Schwellungsgefühl. Das Schreiben sei nicht eingeschränkt. An der rechten Seite sei die Beweglichkeit in allen Bewegungsebenen eingeschränkt mit einem deutlichen Druckschmerz im Bereich der gesamten ventralen Gelenkkapsel. Bei dem Kläger seien als Funktionsstörungen festzustellen:

Ausgeprägte degenerative Lumbalskoliose mit massiver Rotationskomponente, sekundärer Schädigung der Bandscheibe im Sinne einer ausgeprägten generalisierten Osteochondrose L1 bis S1 bei gleichzeitig degenerativen Veränderungen im Bereich der kleinen Wirbelgelenke L5 bis S1 bei anlagebedingter lumbosakraler Übergangsstörung.

Mäßiggradige, kaudal betonte Coxarthrose mit seitengleicher Ausprägung.

Mäßiggradiges unteres Zervikalsyndrom.

Geringgradige Gonarthrose beidseits, die nicht wesentlich das altersentsprechende Maß überschreite.

Im Bereich der rechten Schulter ein Z.n. nach Refixation der Supraspinatussehne mit zwei Metallankern und Resektion des äußeren Schlüsselbeinendes, klinisch deutliche Einschränkung in der Beweglichkeit und Belastbarkeit im Sinne einer Schwächung der Supraspinatusmuskulatur und eines sekundären Engpasssyndroms unter dem Schulterdach.

Deutlichere Adipositas.

Aus den massiven Veränderungen im Bereich der LWS resultiere eine verminderte Bewegungsfähigkeit. Auf Grund der ausgeprägten Fehlstellung bestehe eine lokale Überlastung der aktiven muskulären Stabilisatoren und der passiven Bandstrukturen mit chronischen Schmerzen auch ohne Belastung. Durch die mangelnde Elastizität im Bereich der Bandscheiben und die Fehlstellung liege auch eine ausgeprägte belastungsabhängige Schmerzverstärkung vor. Insbesondere Bück- und Drehbewegungen sowie eine Vermehrung der axialen Belastung durch z.B. das Heben und Tragen von Lasten führten zu massiven Beschwerden. Da auch im Sitzen eine deutliche Fehlstellung bestehe, sei auch hier mit einer - wenn auch geringen - zunehmenden Beschwerdesymptomatik bei längerem Sitzen zu rechnen. Aus der deutlicheren Einengung des Spinalkanals resultiere eine belastungsabhängige Beschwerdesymptomatik. Die Veränderungen im Bereich der Kniegelenke würden durch die LWS-Beschwerden überlagert. An der Schulter ergebe sich eine deutliche Einschränkung, die aber Arbeiten auf Tischniveau (auf dem Schreibtisch) nicht beschränke. Bei dem Kläger bestünden keine Anhaltspunkte für eine Simulation oder Aggravation. Ausgeprägte seelische Störungen, die die Erwerbstätigkeit beeinflussen könnten, seien nicht erkennbar. Der Kläger könne nur noch körperlich leichte Arbeiten überwiegend im Sitzen, mit einem Heben und Tragen von maximal 10 kg, durchführen. Arbeiten im Gehen und Stehen seien ihm nur noch kurzzeitig/anteilig möglich. Auch im Sitzen bestünden auf Grund der statischen Belastung der Wirbelsäule deutliche Schmerzen. Es müsse für ihn die Möglichkeit bestehen, jederzeit den Arbeitsprozess zu unterbrechen und die Position im Arbeitsprozess zu wechseln, um besonders beanspruchte Muskelgruppen zu entlasten und die Sitzposition zu wechseln. Zu vermeiden seien Arbeiten mit einseitigen körperlichen Belastungen, Zwangshaltungen, Arbeiten im Knien, Hocken oder Bücken, Arbeiten auf Gerüsten oder Leitern, im Freien, unter Einwirkung von Kälte, Nässe, Zugluft und Temperaturschwankungen sowie solche im Schichtdienst, im Akkord oder am Fließband. Der Kläger sei Arbeiten mit durchschnittlichen Anforderungen an das Seh-, Hör- und Sprechvermögen und an die psychischen Fähigkeiten und auch Arbeiten mit Publikumsverkehr gewachsen. Eine Arbeit von sechs Stunden und mehr täglich sei dem Kläger auf Grund der bereits vorhandenen Dauerschmerzsymptomatik und der auch bei sitzender Tätigkeit zu erwartenden Steigerung der Schmerzen nicht zumutbar. Das Leistungsvermögen sei im Bereich zwischen drei und sechs Stunden täglich einzuschätzen; die mit zumutbarem Schmerz mögliche Arbeit sei eher im Bereich zwischen drei und vier Stunden täglich anzusetzen. Eine Erholung durch einen Wechsel zwischen Sitzen, Stehen und Gehen sei kaum möglich. Ein weiterer Schmerzanstieg setze unweigerlich nach einer Tätigkeit von ca. vier bis fünf Stunden ein. Eine Tätigkeit von ca. vier Stunden sei nur mit einer etwa halbstündigen oder zwei viertelstündigen Pausen möglich. Auch die Gehfähigkeit des Klägers sei deutlich eingeschränkt. Hier komme insbesondere die Beschwerdesymptomatik im Bereich der Wirbelsäule zum Tragen; die zusätzliche axiale Belastung führe hier zwangsläufig zu einer belastungsabhängigen Schmerzsteigerung. Einen Fußweg von 500 m könne der Kläger nur schwer zurücklegen; diese Strecke stelle die obere Grenze dar. Fußwege von mehr als 500 m sollten ihm regelmäßig nicht zugemutet werden. Der Zeitrahmen sei schwierig festzulegen; für einen Weg von 500 m sei von einer Dauer von 20 Minuten auszugehen. Der Kläger könne öffentliche Verkehrsmittel und ein Kfz benutzen. In Anbetracht der aktuellen und aktenkundigen Befunde sei von einer Zunahme der Beschwerdesymptomatik seit Rentenantragstellung auszugehen. Da es sich hier um einen fließenden Prozess handele, sei naturgemäß eine klare Datierung einer Verschlimmerung kaum möglich. Es sei jedoch davon auszugehen, dass hier bereits im Juli/August 2008 eine Situation vorgelegen habe, die dem derzeitigen Zustand entsprochen habe. Dies sei auch aus dem Befundbericht von Dr. B. zu entnehmen. Es bestehe keine begründete Aussicht einer Besserung der Leistungssituation. Der Sachverhalt sei aus medizinischer Sicht ausreichend geklärt.

Die Beklagte ist dem Ergebnis der Begutachtung unter Bezugnahme auf die Stellungnahme ihrer Prüf-/Gutachterärztin Dipl.-Med. F. vom 24. Februar 2010 entgegen getreten. Dem Gutachten von Dr. E. seien keine die quantitative Leistungseinschränkung begründenden Funktionseinbußen zu entnehmen.

Das Sozialgericht hat den Kläger in der mündlichen Verhandlung am 26. August 2010 zu seinem Tagesablauf befragt. Wegen der Einzelheiten wird auf das Protokoll, Bl. 139 bis 141 Bd. I der Gerichtsakten, Bezug genommen.

Das Sozialgericht hat die Beklagte mit Urteil vom 26. August 2010 unter Änderung des Bescheides vom 4. Juli 2007 in der Gestalt des Teilabhilfebescheides vom 9. Oktober 2007 und des Widerspruchsbescheides vom 11. Dezember 2007 verurteilt, dem Kläger Rente wegen voller Erwerbsminderung vom 1. März 2009 bis "Ende Februar" 2012 in gesetzlicher Höhe zu gewähren. Der Kläger sei nach den überzeugenden Ausführungen in dem Gutachten von Dr. E. vom 29. Oktober 2009 teilweise erwerbsgemindert, da er nur noch in der Lage sei, weniger als sechs Stunden täglich zu arbeiten. Die teilweise Erwerbsminderung schlage auf Grund der Verschlossenheit des Teilzeitarbeitsmarktes in eine volle Erwerbsminderung um. Der Leistungsfall dieser arbeitsmarktabhängigen und damit zu befristenden Rente sei im August 2008 eingetreten.

Die Beklagte hat gegen das ihr am 10. September 2010 zugestellte Urteil des Sozialgerichts am 30. September 2010 Berufung bei dem Landessozialgericht Sachsen-Anhalt eingelegt. Sie halte an ihrer Einschätzung, der Kläger verfüge noch über ein quantitativ nicht gemindertes Leistungsvermögen, fest. Der Sachverständige Dr. E. habe Begutachtungsgrundsätze nicht beachtet. Er habe dem angegebenen Schmerzerleben des Klägers große Bedeutung beigemessen, jedoch keine Erhebungen zu dessen Tagesablauf vorgenommen, um den Grad der Beeinträchtigungen durch die vorgebrachten Schmerzen einer Plausibilitätskontrolle unterziehen zu können. Der Kläger könne z.B. noch die Tätigkeit eines Pförtners an der Nebenpforte sechs Stunden und mehr täglich verrichten.

Die Beklagte beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 26. August 2010 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Es sei auch zu fragen, ob sich neben den orthopädischen Leiden eine Depression ergeben haben könnte. Einer Tätigkeit als Pförtner an der Nebenpforte stünden die mit dieser Tätigkeit regelmäßig verbundenen Drehbewegungen der LWS entgegen.

Der Senat hat eine ergänzende gutachterliche Stellungnahme von Dr. E. vom 7. Juli 2011 unter Übermittlung der Ausführungen von Dipl.-Med. F. angefordert. Der Sachverständige hat mitgeteilt, er könne der Stellungnahme der Prüfärztin nicht entnehmen, dass die Funktionseinbußen des Klägers eine Einschränkung des Leistungsvermögens auf vier bis sechs Stunden nicht rechtfertigten. Bei dem Kläger seien auf Grund seiner Adipositas Muskelathrophien nur dann erkennbar, wenn diese sehr ausgeprägt wären. Er, der Sachverständige, habe in seinem Gutachten den Einfluss einer axialen Belastung auf die Wirbelsäule und die erheblichen Probleme des Klägers beschrieben. Die Beschwerdesymptomatik sei im Stehen und Gehen sehr ausgeprägt und schränke die Gehstrecke massiv ein. Die Schmerzsymptomatik im Sitzen falle dementsprechend geringer (nicht aber "gering") aus. Eine nervenärztliche Begutachtung sei nicht zielführend, da keine wesentlichen neurologischen Störungen vorlägen.

Die Beklagte hat unter Bezugnahme auf die sozialmedizinische Stellungnahme der Prüf- und Gutachterärztin Sozialmedizin Dr. K. vom 26. August 2011 weiterhin daran festgehalten, dass der Sachverständige sich in seiner Leistungsbeurteilung in stärkerem Maße am subjektiven Beschwerdevortrag und einer vermuteten Beschwerdezunahme orientiert habe.

Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung erklärt.

Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten und die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, die dem Senat vorgelegen haben und Gegenstand der Beratung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte über das Rechtsmittel ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da sich die Beteiligten hiermit einverstanden erklärt haben (§ 153 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG)).

Die Berufung ist nur in geringem Umfang begründet.

Das Sozialgericht hat die Beklagte zu Recht zur Bewilligung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung vom 1. November 2009 bis zum 29. Februar 2012 verurteilt und insoweit die angefochtenen Bescheide geändert. Das angefochtene Urteil erweist sich nur in Bezug auf die Verurteilung der Beklagten zur Bewilligung einer Rente wegen voller Erwerbsmidnerung ausgehend von einem Leistungsfall vor der Untersuchung bei Dr. E. als rechtswidrig. Insoweit ist der angefochtene Bescheid rechtmäßig und verletzt den Kläger deshalb nicht in seinen Rechten (§ 54 Abs. 2 Satz 1 SGG).

Dem Kläger steht ein Anspruch auf Bewilligung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung vom 1. November 2009 bis zum 29. Februar 2012 zu.

Nach § 43 Abs. 2 SGB VI haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie voll erwerbsgemindert sind, in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI sind voll erwerbsgemindert Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Erwerbsgemindert ist nach § 43 Abs. 3 SGB VI nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.

Es steht für den Senat mit hinreichender Sicherheit fest, dass der Kläger seit der Untersuchung bei Dr. E. am 22. April 2009 voll erwerbsgemindert ist. Er kann auch körperlich leichte Arbeiten im regelmäßigen Wechsel der Haltungsarten und überwiegend im Sitzen (mit einer jederzeit möglichen Unterbrechung des Arbeitsprozesses, um die die Arbeitsposition zu wechseln), - ohne Heben und Tragen von mehr als 10 kg, einseitige körperliche Belastungen, Zwangshaltungen, Knien, Hocken oder Bücken, ohne Arbeiten auf Gerüsten oder Leitern, im Freien, unter Einwirkung von Kälte, Nässe, Zugluft und Temperaturschwankungen sowie solche im Schichtdienst, im Akkord oder am Fließband - nicht mehr sechs Stunden täglich verrichten. In seinem Gutachten vom 29. Oktober 2009 hat Dr. E. das regelmäßige Leistungsvermögen des Klägers für Arbeiten mit den vorgenannten qualitativen Einschränkungen überzeugend auf ca. vier Stunden täglich konkretisiert. Diese Leistungseinschätzung hat der Sachverständige in seiner ergänzenden gutachterlichen Stellungnahme vom 7. Juli 2011 auch nach Konfrontation mit den Einwendungen von Dipl.-Med. F. mit einer überzeugenden Begründung aufrechterhalten.

Maßgebend für ein auch quantitativ gemindertes Leistungsvermögen des Klägers sind die bei ihm vorliegenden massiven Veränderungen im Bereich der LWS in Verbindung mit dem Übergewicht, die seine Bewegungsfähigkeit unter zumutbaren Schmerzen wesentlich einschränken. Auf Grund der ausgeprägten Fehlstellung der Wirbelsäule besteht nach den überzeugenden Feststellungen von Dr. E. eine lokale Überlastung der aktiven muskulären Stabilisatoren und der passiven Bandstrukturen mit chronischen Schmerzen auch ohne Belastung. Da auch im Sitzen eine deutliche Fehlstellung besteht, ist auch in dieser - selbst mit jeder körperlich leichten Arbeit verbundenen - Haltungsart bei längerer Dauer mit zunehmenden Beschwerden zu rechnen. Auf Grund der deutlicheren Einengung des Spinalkanals ist eine Entlastung durch einen Wechsel zum Gehen oder Stehen von vornherein ausgeschlossen. Insoweit ist auch zu berücksichtigen, dass bei dem Kläger zu den im Vordergrund stehenden LWS-Beschwerden Veränderungen im Bereich der Kniegelenke hinzutreten.

Das Gutachten von Dr. E. vom 29. Oktober 2009 weist keine handwerklichen Mängel auf, auf Grund derer der Senat sich veranlasst sehen musste, den Kläger einer erneuten Begutachtung durch einen gerichtlichen Sachverständigen zuzuführen. Die von der Beklagten geforderte Beschreibung des Tagesablaufs hat das Sozialgericht in der mündlichen Verhandlung in das Protokoll aufgenommen. Die Feststellungen von Dr. E. lassen sich durch die Ausführungen des Klägers zu seinen alltäglichen Aktivitäten nicht widerlegen.

Auch soweit der Kläger medikamentös nicht z.B. auf Morphinderivate eingestellt ist, lassen sich daraus keine Rückschlüsse auf eine nicht gravierende Schmerzproblematik ableiten, da bereits Dr. B. in seinem Befundbericht vom 7. August 2008 auf die nicht erfolgreiche Einflussnahme durch solche Schmerzmittel oder Cortison hingewiesen hat. Dem Akteninhalt lassen sich auch keine Hinweise auf eine Aggravation oder Simulation des Klägers entnehmen. Dr. E. hat in seinem Gutachten ausdrücklich diesbezügliche Anhaltspunkte verneint. Der Senat hat u.a. aus diesem Grund das Ergebnis der Begutachtung durch Dr. E. nicht insoweit für angreifbar erachtet, als dieser Angaben des Klägers zum Schmerzerleben verwertet hat. Dessen Angaben stimmen auch mit den objektiven Befunden überein.

Der Senat kann offen lassen, ob der Kläger bei einem fiktiven sechsstündigen Leistungsvermögen nur unter unüblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes arbeiten könnte. Der Rentenversicherungsträger ist auch dann zur Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung verpflichtet, soweit er keinen konkreten Arbeitsplatz benennt, der den Einschränkungen gerecht wird. Der Arbeitsmarkt gilt insbesondere als verschlossen, wenn einem Versicherten die so genannte Wegefähigkeit fehlt; zur Erwerbsfähigkeit gehört auch das Vermögen, einen Arbeitsplatz aufsuchen zu können (vgl. Bundessozialgericht (BSG) Großer Senat (GS), Beschluss vom 19. Dezember 1996, BSGE 80, 24, 35, zu Katalogfall 2.). Dieser Katalogfall liegt nicht vor, soweit ein Versicherter täglich viermal Wegstrecken von mehr als 500 m mit einem zumutbaren Zeitaufwand von bis zu 20 Minuten zu Fuß zurücklegen unter Berücksichtigung aller ihm zur Verfügung stehenden Mobilitätshilfen benutzen kann. Für den Senat steht nicht eindeutig fest, ob der Sachverständige Dr. E. den Kläger nur für in der Lage hält, einmal täglich maximal 500 m zurückzulegen. Darauf kam es vor dem Hintergrund des quantitativ geminderten Leistungsvermögens im Ergebnis nicht an.

Der Senat kann aber die von der Beklagten mit ihrer Berufung gerügte Unschärfe der Feststellung eines vor der Untersuchung bei Dr. E. eingetretenen Leistungsfalls nicht ausräumen. Bei einer progredienten Erkrankung, die der gerichtliche Sachverständige als bei Rentenantragstellung noch nicht in dieser Ausprägung bestehend angegeben hat, kann der Leistungsfall August 2008, den das Sozialgericht seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat, nicht bestehen bleiben. Maßgebend für die Leistungseinschränkung des Klägers sind ausschließlich seine orthopädischen Leiden, die durch das oben genannte Leistungsbild abgedeckt werden. Arbeiten mit durchschnittlichen Anforderungen an das Seh-, Hör- und Sprechvermögen, an die geistig-psychisch-mnestischen Fähigkeiten (auch in Arbeiten mit Publikumsverkehr) und die Gebrauchsfähigkeit der Hände (auf Tischhöhe) ist der Kläger nach den Feststellungen von Dr. E. noch gewachsen. Für einen früheren Leistungsfall sind damit auch unter Berücksichtigung der Befunde auf nicht-orthopädischen Fachgebieten keine Anhaltspunkte erkennbar.

Die Verschlossenheit des Teilzeitarbeitsmarktes führt bei dem vorgenannten Leistungsvermögen ab dem 22. April 2009 zu einem Anspruch des Klägers auf Rente wegen voller Erwerbsminderung. Insoweit wird nach § 153 Abs. 2 SGG auf die zutreffenden Ausführungen des Sozialgerichts in dem angefochtenen Urteil Bezug genommen. Für die Bewilligung der Rente wegen voller Erwerbsminderung liegen bei dem Kläger - ausgehend vom Eintritt des Leistungsfalls am 22. April 2009 - auch die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen vor. Das ergibt sich bereits aus dem Vorbezug der Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit ab dem Monat der Rentenantragstellung. Insoweit besteht ein Verlängerungstatbestand für den Fünfjahreszeitraum der so genannten Drei-Fünftel-Belegung nach § 43 Abs. 4 Nr. 1 SGB VI.

Die dem Kläger zuerkannte Rente war nach § 102 Abs. 2 Satz 1 SGB VI zu befristen. Nach dieser Vorschrift werden insbesondere Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit auf Zeit geleistet. Hier kam nur eine befristete Rente in Betracht, da der Anspruch des Klägers vom Arbeitsmarkt abhängig ist (§ 102 Abs. 2 Satz 5 SGB VI). Die Befristung erfolgt nach § 102 Abs. 2 Satz 2 SGB VI für längstens drei Jahre. Es sind hier zwar keine Gesichtspunkte erkennbar, die es rechtfertigen könnten, von dieser für den Regelfall vorgegebenen Befristungsdauer zu Ungunsten der Klägers abzuweichen. Da der Kläger vor dem Sozialgericht jedoch lediglich die Bewilligung einer Rente bis zum 29. Februar 2012 verfolgt hat, begrenzt dieses Datum das Befristungsende.

Befristete Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit werden nach § 101 Abs. 1 SGB VI nicht vor Beginn des siebten Kalendermonats nach dem Eintritt der Minderung der Erwerbsfähigkeit geleistet. Der siebte Kalendermonat in diesem Sinne begann hier am 1. November 2009.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Werden erst während des Rechtsstreits die Anspruchsvoraussetzungen für das Begehren durch eine Veränderung der Verhältnisse erfüllt, entspricht es dem billigen Ermessen (§ 193 Abs. 1 Satz 2 SGG), dass die Beklagte keine Kosten zu tragen hat, wenn sie unverzüglich ein Anerkenntnis abgibt oder einen sachgerechten Vergleich anbietet (BSG, Beschluss vom 24. Mai 1991 - 7 RAr 2/91 - SozR 3-1500 § 193 Nr. 2). Dann kann davon ausgegangen werden, dass die Beklagte auf einen neuen Antrag hin die Leistung zuerkannt hätte und der Rechtsstreit nicht erforderlich gewesen wäre (ständige Rechtsprechung des erkennenden Senats, Beschlüsse vom 30. April 2007 - L 3 B 33/06 R - und vom 5. November 2008 - L 3 R 196/06 -, jeweils nicht veröffentlicht). Hier hat die Beklagte einen Leistungsfall auch im Rahmen des Berufungsverfahrens bestritten. Der Senat hat die Kostenentscheidung für beide Rechtszüge mit einer als angemessen erachteten hälftigen Kostenerstattungspflicht der Beklagten insgesamt neu gefasst. Dabei hat der Senat berücksichtigt, dass bereits zwischen dem 1. Mai 2007, dem Monat des Rentenantrags, und dem Beginn der zu bewilligenden Rente 22 Monate liegen.

Gründe für eine Zulassung der Revision im Sinne von § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor. Es handelt sich um eine Entscheidung auf gesicherter Rechtsgrundlage, ohne dass der Senat von einer Entscheidung der in § 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG genannten Gerichte abweicht.
Rechtskraft
Aus
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