L 9 U 670/08

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 5 U 3272/05
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 9 U 670/08
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn von 22. Oktober 2007 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt wegen der Folgen eines Arbeitsunfalls vom 30.7.2004 die Gewährung einer Verletztenrente sowie von Verletztengeld und Heilbehandlung über den 31.10.2004 hinaus.

Der 1959 geborene Kläger war seit Juli 2004 bei dem Transportunternehmen S., K. als Kraftfahrer beschäftigt. Am 30.7.2004 erlitt er in B. auf der Autobahn E 411 bei G. einen Unfall, als zwei Reifen seines LKWs platzten, der Lkw ins Schleudern geriet und dabei umgekippte. Der Kläger wurde – nach seinen Angaben – in einem Krankenhaus in B. behandelt und trampte anschließend – wegen Fahruntüchtigkeit seines LKWs – mit einem anderen Lkw nach Hause, nach D ... Am 31.7.2004 wurde der Kläger (noch innerhalb der Probezeit) von seinem Arbeitgeber zum 14.8.2004 gekündigt.

Ebenfalls am 31.7.2004 suchte der Kläger Dr. S., Chefarzt der Chirurgischen Abteilung des Kreiskrankenhauses Tauberbischofsheim (K.) auf, der beim Kläger oberflächliche Hautabschürfungen am gesamten Rücken und linken Ellenbogen, Nacken- und Kopfschmerzen bei einer frei beweglichen Halswirbelsäule (HWS) feststellte. Die Fremdaufnahmen CCT HWS in zwei Ebenen, Dens und Thorax hätten keine frische knöcherne Beteiligung, keine Gefügestörung und keine intracranielle Verletzung ergeben. Dr. S. diagnostizierte eine HWS-Zerrung 1. Grades und multiple Hautabschürfungen (DA-Bericht vom 31.7.2004). Vom 9.8. bis 13.8.2004 wurde der Kläger – wegen fehlender Besserung unter ambulanter Therapie – im K. stationär behandelt. Am 12.8.2004 wurde der Kläger vom Neurologen und Psychiater Dr. H. untersucht. Dieser stellte ein ungestörtes Gangbild, ohne auffällige Seitenabweichung oder Schwankneigung im Sterngang und Unterbergversuch sowie eine normale Diadochkinese beidseits fest. Er diagnostizierte beim Kläger eine akute Belastungsreaktion und einen posttraumatischen Lagerungsschwindel. Weiter führte er aus, von der Spedition S. sei der Kläger wegen des Unfalls entlassen worden. Zeitweise zeige sich der Kläger verzweifelt, insbesondere wenn Lagerungsschwindel ausgelöst werde, und weise ein Verhalten auf, als wäre er auf der Anklagebank und müsse sich rechtfertigen und verteidigen. Primärpersönlich liege eine akzentuierte Persönlichkeit vor. Durch Lagerungsproben sei zwar kein Nystagmus auslösbar gewesen; die geschilderte Symptomatik (Schwindel bei Lagewechsel, in Ruhe kein Schwindel) spreche aber für eine labyrinthäre Schädigung durch den Unfall (Arztbrief vom 12.8.2004).

Der Arzt für Allgemeinmedizin Dr. S. teilte unter dem 3.12.2004 mit, beim Kläger lägen nach dem Unfall vom 30.7.2004 eine posttraumatische Belastungsreaktion, eine depressive Reaktion und Schwindel vor. Ob die Arbeitsunfähigkeit allein durch den Unfall verursacht sei oder nicht, könne derzeit nicht beurteilt werden.

Vom 16.11. bis 7.12.2004 befand sich der Kläger auf Kosten des Rentenversicherungsträgers in der Z.klinik St. B. Die dortigen Ärzte nannten im Entlassungsbericht vom 15.12.2004 folgende Diagnosen: Anpassungsstörung mit sonstigen deutlichen Symptomen (Gangstörung), Verdacht auf dissoziative Bewegungsstörung, Zustand nach Verstauchung und Zerrung der HWS sowie Adipositas Grad I. Sie waren der Ansicht, aus orthopädischer Sicht ergebe sich keine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit. Aus psychischen Gründen sei der Kläger weiterhin arbeitsunfähig. Nach Ansprechen der ambulanten Verhaltenstherapie sei der Kläger wieder voll im alten Beruf als Lkw-Fahrer einsetzbar.

Nach Beiziehung eines Arztbriefes von Dr. H. vom 31.1.2005 (Diagnosen: Posttraumatische Belastungsstörung sowie schwere Gangstörung bei posttraumatischem Lagerungsschwindel nach Lkw-Unfall) und eines Berichts der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik L. vom 16.2.2005 über eine ambulante Untersuchung des Klägers vom 9.2.2005 (unklarer Schwindel bei Zustand nach HWS-Zerrung) ließ die Beklagte den Kläger in der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik F. untersuchen.

Dr. F., Arzt für Neurologie und Psychiatrie sowie Diplom-Psychologe, führte im (ersten) Gutachten vom 8.3.2005 aus, die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung könne nicht gestellt werden. Man könne von einer Anpassungsstörung mit dissoziativen Phänomenen ausgehen, wobei darauf abgehoben werden müsse, dass persönlichkeitsimmanente Faktoren ganz in den Vordergrund rückten. Zur weiteren diagnostischen Abrundung sei eine HNO-ärztliche Untersuchung vorgesehen; er habe eine Testdiagnostik durch Diplom-Psychologin K. vorgeschlagen, um die psychiatrische Diagnose auf etwas breitere Beine zu stellen und im Hinblick auf bewusstseinsnahe Tendenzen.

Der HNO-Arzt Dr. L. hat unter dem 10.3.2005 ausgeführt, der Kläger habe angegeben, bei dem Unfall habe eine direkte Kopfverletzung wahrscheinlich nicht stattgefunden; eine Blutung aus Nase und Ohren sei nicht erinnerlich; ein Hörverlust sowie ein Ohrgeräusch lägen nicht vor. Unfallfolgen auf HNO-ärztlichem Gebiet seien nicht nachzuweisen, insbesondere keine Erregungsdifferenz zwischen den peripheren Labyrinthorganen bei der kalorischen Prüfung im ENG. Die Schwindelerscheinungen dürften im Wesentlichen psychogen verursacht sein.

Diplom-Psychologin K. führte im Gutachten vom 15.3.2005 aus, beim Kläger bestünden deutliche Aggravationstendenzen. Sowohl in der Anamneseerhebung als auch bei der Symptom-erfassung ergäben sich deutliche Widersprüche. Für eine Konversionsneurose hätten in der Anamnese keine Hinweise gefunden werden können. Auch habe sie – zusammen mit ihrem Ehemann – am Entlassungstag beobachtet, dass der Kläger ohne Unterarmgehstützen und ohne Hilfe seiner in der Nähe befindlichen Lebensgefährtin seinen Wagen – selbstständig stehend, sich frei bewegend und Taschen hebend – habe einräumen können und dabei nicht habe gestützt werden müssen. Sie habe sehen können, dass die Lebensgefährtin auf dem Beifahrersitz eingestiegen sei. Eine Rücksprache bei der Außenpforte habe ergeben, dass der Kläger auch während des Aufenthalts Auto gefahren sei.

Dr. F. legte im (weiteren) Gutachten vom 17.3.2005 dar, in unbeobachteten Momenten gehe der Kläger relativ sicher am Arm seiner Freundin, so dass die Symptomatik ausgesprochen wechselnd sei und sie insbesondere, wenn die Aufmerksamkeit von Ärzten erregt werde und sich der Kläger beobachtet fühle, deutlich zunehme. Aufgrund des erhobenen klinischen und elektrophysiologischen Befundes sei klar, dass keinerlei organisches Korrelat für die Störung des Klägers bestehe und zahlreiche Beschwerden relativ bewusstseinsnah im Sinne eines Entschädigungsbegehrens seien. Fraglich sei, ob eine dissoziative Symptomatik vorliege. Aber selbst wenn man dies bejahte, sei diese in der Persönlichkeit begründet und hänge mit dem Unfallereignis ursächlich nicht zusammen. Das Heilverfahren sei nicht zu Lasten der Beklagten fortzuführen, sondern die Behandlung habe zu Lasten der Krankenkasse zu erfolgen. Eine messbare Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) liege auf neurologisch-psychiatrischem Gebiet nicht vor.

Professor Dr. H., Arzt für Chirurgie und Unfallchirurgie sowie Ärztlicher Direktor der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik F., gelangte im neurochirurgischem Gutachten vom 10.4.2005 zum Ergebnis, auf neurochirurgisch-neurotraumatologischem Fachgebiet habe der Kläger eine Gehirnerschütterung erlitten, die ausgeheilt sei, ohne Verletzungsfolgen zu hinterlassen. Ferner habe er eine Zerrung/Distorsion der HWS erlitten, die ebenfalls ausgeheilt sei. Unfallfolgen von Krankheitswert bestünden nicht. Auf neurochirurgisch-neurotrauma-tologischem Gebiet könnten eine Behandlungsbedürftigkeit sowie Arbeitsunfähigkeit für längstens drei Monate angenommen werden. Die MdE betrage 0 v.H.

Mit Bescheid vom 9.5.2005 teilte die Beklagte dem Kläger mit, ein Anspruch auf Rente bestehe nicht. Unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit und Behandlungsbedürftigkeit habe bis zum 31.10.2004 bestanden. Grundlage der Entscheidung seien die Gutachten der Unfallklinik in F. vom 17.3.2005 und 10.4.2005. Als unfallunabhängige Erkrankungen bestünden anlagebedingte Veränderungen im Bereich der HWS sowie dissoziative Phänomene mit psychogener Gangstörung.

Den Widerspruch des Klägers vom 27.5.2005 wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 1.9.2005, zur Post per Einschreiben am 7.9.2005, zurück.

Hiergegen hat der Kläger am 10.10.2005 Klage zum Sozialgericht (SG) Heilbronn erhoben, mit der er die Gewährung von Verletztenrente nach einer MdE um mindestens 20 v.H. sowie von Verletztengeld und Heilbehandlung über den 31.10.2004 hinaus begehrt hat.

Das SG hat von Amts wegen ein nervenärztliches Gutachten und auf Antrag des Klägers gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ein psychosomatisches Gutachten eingeholt.

Der Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. W. hat im Gutachten vom 5.5.2006 beim Kläger folgende Diagnosen gestellt: Geklagte Kopfschmerzen und Schwindel ohne organisch-neurologisches Defizit, sekundärer Krankheitsgewinn, Simulationsverhalten im Rahmen einer Rentenerwartungshaltung. Er hat ausgeführt, nach der Schilderung der Beschwerden, nach dem Kontaktverhalten und dem neurologischen Untersuchungsergebnis ergäben sich Hinweise für das Vorliegen eines simulativen Verhaltens im Sinne einer Rentenerwartungshaltung ohne Anhalt für eine Verdrängung ins Unterbewusste im Sinne einer neurotischen Fehlhaltung, sondern für das Vorliegen eines bewusstseinsnahen, zielgerichteten Geschehens. Psychodynamische Zusammenhänge seien möglicherweise in einer Kränkungsreaktion nach dem Unfall, auch gegenüber dem damaligen noch neuen Arbeitgeber, mit hierdurch aktivierten Versorgungwünschen zu vermuten; inzwischen sei von einem deutlich erkennbaren sekundären Krankheitsgewinn auszugehen. Es lägen beim Kläger keine Gesundheitsstörungen auf neurologisch-psychiatrischem Gebiet vor, für die ein Zusammenhang mit dem Ereignis vom 30.7.2004 erkennbar sei. Unter dem 5.7.2006 hat Dr. W. ergänzend Stellung genommen.

Nach Vorlage des Entlassungsberichts der S.klinik Bad B. vom 8.6.2006 über ein Heilverfahren des Klägers vom 3.5. bis 31.5.2006 (Diagnosen: Dissoziative Bewegungsstörung, akzentuierte Persönlichkeit: emotional-instabile, histrionische und dependente Züge, Drehschwindel, Spannungskopfschmerz, Übergewicht; keine Aggravation, sondern Verdeutlichungstendenzen) hat das SG auf Antrag des Klägers gemäß § 109 SGG Dr. M., Arzt für Psychiatrie, S.klinik Bad B., mit der Begutachtung des Klägers beauftragt. Dieser hat im Gutachten vom 5.3.2007 beim Kläger eine dissoziative Störung (somatoformer Schwindel) sowie eine akzentuierte Persönlichkeitsstruktur diagnostiziert. Es bestehe ein enger Zusammenhang zwischen dem Verkehrsunfall vom 30.7.2004 und der dissoziativen Störung. Die Schwindelerscheinungen seien erst nach einem Krankenhausaufenthalt im K. aufgetreten. Es könne angenommen werden, dass es sich hierbei um eine narzisstische Kränkung gehandelt habe. Dem Unfall sei weder von seiner Arbeitsstelle noch – nach Aussagen des Klägers – in dem K. die nötige Aufmerksamkeit beigemessen worden. Gefühle von Angst, Scham und Minderwertigkeit würden unterdrückt. Insofern könnten die Schwindelsymptome als somatische Affektäquivalente aufgefasst werden. Schwindel ersetze den Affekt der Angst. Es könnten Ängste bezüglich des weiteren beruflichen Werdegang, aber auch Ängste bezüglich des Verlassen-werdens oder Alleingelassenseins angenommen werden. Ängste spalte der Kläger ab. Ein Misserfolg, wie der Unfall mit materiellem Schaden, werde als Selbstwertbedrohung wahrgenommen und in Kombination mit emotionalen Reaktionen wie Ärger, Wut, Minderwertigkeit und Scham externalisiert. Dabei spielten narzisstische Persönlichkeitszüge eine erhebliche Rolle. Ohne den Unfall hätte sich keine dissoziative Störung bzw. kein somatoformes Schwindelsymptom entwickelt. Die dissoziative Störung sei mit Wahrscheinlichkeit ursächlich im Sinne der Entstehung auf den Unfall vom 30.7.2004 zurückzuführen. Sie bedinge eine MdE um 50 v.H. Diese bestehe seit dem Unfallereignis.

In der mündlichen Verhandlung vom 22.10.2007 hat das SG die Diplom-Psychologin C. K., deren Ehemann, den Diplom-Psychologen G. K., die Lebensgefährtin des Klägers C. E. als Zeugen vernommen und den Kläger persönlich angehört. Auf die Sitzungsniederschrift vom 22.10.2007 wird Bezug genommen.

Mit Urteil vom 22.10.2007 hat das SG die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dem Kläger stehe kein Anspruch auf eine Verletztenrente sowie auf Verletztengeld oder Heilbehandlung über den 31.10.2004 hinaus zu. Das SG habe nicht mit dem erforderlichen Vollbeweis feststellen können, dass beim Kläger neben den im DA-Bericht genannten Befunden (HWS-Zerrung Grad I, multiple Hautabschürfungen) weitere Gesundheitsstörungen vorgelegen hätten oder noch vorlägen. Insbesondere habe die vom Gericht durchgeführte Beweisaufnahme unter Berücksichtigung der im Verwaltungsverfahren durchgeführten medizinischen Ermittlungen beim Kläger weder eine Konversionsneurose noch ein posttraumatisches Belastungssyndrom oder eine sonstige hirnorganische Störung nachgewiesen. Bei den vom Kläger vorgetragenen Beschwerden sei insbesondere die Abgrenzung einer Konversionsneurose (dissoziative Störung) und eines aggravierenden oder simulierenden Verhaltens von Bedeutung. Diplom-Psychologin K. habe in ihrem Befundbericht Abgrenzungskriterien dargelegt, die eine Unterscheidung von dissoziativen Störungen und simulierten dissoziativen Störungen ermöglichten. Sie habe darin ausgeführt, das Verhalten des Klägers während der Untersuchungen habe den Kriterien von simulierten dissoziativen Merkmalen entsprochen. So habe sie den Kläger als missmutig, misstrauisch, wenig kooperativ, leicht verärgert, schwer zugänglich und verschlossen gegenüber gründlichen Untersuchungen beschrieben. Diese Ausführungen seien für das SG schlüssig. Dagegen habe das SG die Einordnung der Beschwerden des Klägers als Konversionsneurose durch den Sachverständigen Dr. M. nicht nachvollziehen können. Seine Diagnose habe der Sachverständige Dr. M. insbesondere mit einem durchgängigen Störungsmuster des Klägers begründet, was sowohl in der beobachteten Testsituation als auch unbeobachtet festzustellen gewesen sei. Das SG gehe jedoch nach Abschluss der Beweisaufnahme nicht von einer durchgängigen Störung aus. So berichte der Entlassungsbericht über den Klinikaufenthalt in Bad B. von vermehrten Schmerzäußerungen und vermehrter Hilfsbedürftigkeit in Anwesenheit von potentiell begutachtenden Therapeuten einerseits und erleichtertem Gehen und Verhalten in unbeobachteten Situationen. Dem Sachverständigen Dr. W. habe der Kläger berichtet, die Schwindelbeschwerden seien in wechselnder Ausprägung immer vorhanden. Auf der anderen Seite habe er gegenüber dem Sachverständigen angegeben, er könne mit dem Auto noch zwei bis vier km fahren. Auch die Diplom-Psychologin K. habe während der Untersuchung ein widersprüchliches Leistungsvermögen beobachtet. Eine posttraumatische Belastungsstörung habe nicht nachgewiesen werden können. Das SG halte es zwar nicht für ausgeschlossen, dass beim Kläger trotz Vorliegens von Aggravation bzw. Simulation dennoch andere Gesundheitsstörung vorlägen. Diese seien jedoch aufgrund des aggravierenden bzw. simulativen Verhaltens nicht feststellbar. Die Folgen der Beweislast trage der Kläger.

Gegen das am 11.1.2008 zugestellte Urteil hat der Kläger am 11.2.2008 Berufung eingelegt und vorgetragen, er könne nicht nachvollziehen, dass das SG die Einordnung seiner Beschwerden als Konversionsneurose durch den Sachverständigen Dr. M. nicht habe nachvollziehen können. Der Sachverständige habe sein Gutachten nicht nur aufgrund einer ein- bis zweistündigen Untersuchung erstellt, sondern aufgrund einer wochenlangen Untersuchung und Beobachtung und aufgrund einer stationären Zusatzuntersuchung. Aufgrund der Untersuchungen in der S.klinik Bad B. habe der Rentenversicherungsträger ihm ab 1.6.2006 Rente wegen voller Erwerbsminderung bewilligt (Bescheid vom 9.3.2007 sowie Bescheid vom 31.10.2008) und das Landratsamt M.-Kreis habe einen Grad der Behinderung von 50 seit 30.7.2004 (Bescheid vom 28.9.2006) festgestellt. Daran, dass der Lkw-Unfall wesentliche Bedingung für seine Gesundheitsbeeinträchtigung sei, gebe es keine vernünftigen Zweifel.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 22. Oktober 2007 aufzuheben sowie den Bescheid der Beklagten vom 9. Mai 2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 1. September 2009 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ihm eine Verletztenrente nach einer MdE um mindestens 20 v.H. sowie Verletztengeld und Heilbehandlung über den 31. Oktober 2004 hinaus zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie erwidert, das SG habe in der angefochtenen Entscheidung rechtsfehlerfrei festgestellt, dass beim Kläger keine unfallbedingten Gesundheitsstörungen auf neurologisch-psychiatrischem Gebiet vorlägen. Das Gutachten von Dr. M. werde den in der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Beweisanforderungen nicht gerecht. Die in der gesetzlichen Rentenversicherung und dem Schwerbehindertengesetz geltenden Kriterien seien auf dem Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung nicht übertragbar.

Der Senat hat die Schwerbehindertenakten des Landratsamts, die Renten- und Reha-Akten der Deutschen Rentenversicherung Baden-Württemberg sowie Leistungsauszüge der A. H. beigezogen und ein Gutachten eingeholt.

Dr. J., Chefarzt der Abteilung für Psychiatrie, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am K., hat im Gutachten vom 18.10.2010 ausgeführt, der Kläger sei selbstständig mit dem eigenen Auto zur gutachterlichen Untersuchung gekommen. Dazu habe er angegeben, dank der Übungen mit seiner früheren Lebensgefährtin Frau E., die im April 2010 verstorben sei, könne er wieder alleine gehen und sich selbst versorgen. Bei der allgemeinen körperlichen sowie der neurologischen Untersuchung habe sich, wie bereits bei diversen früheren Untersuchungen, kein organisches Korrelat der Schwindelsymptomatik und der Gangstörung gefunden. In psychiatrischer Hinsicht seien ein depressives Zustandsbild sowie eine narzisstisch-impulsive Persönlichkeitsakzentuierung aufgefallen. Während des ganzen Kontakts seien eine tiefe Verbitterung und Wut spürbar gewesen, in erster Linie, weil der Kläger wieder gutachterlich untersucht worden sei und wegen der Befürchtung, wieder als Simulant bezeichnet zu werden. Offensichtlich sei aber auch die tiefe Verzweiflung des Klägers geworden, von einem ihm unerklärlichen Schicksalsschlag getroffen worden zu sein, woran in der Folge seine Lebensträume zerbrochen seien. Eine posttraumatische Belastungsstörung könne nicht diagnostiziert werden. Seines Erachtens sei es im Anschluss an eine akute Belastungsreaktion zu einer chronifizierten depressiven Anpassungsstörung gekommen. Zwischen der vielgestaltigen Schwindelsymptomatik und der bizarren Gangstörung sowie dem Unfall bestehe ein deutlicher zeitlicher Zusammenhang. Ursache dieser Beschwerden sei eine somatoforme Dissoziation im Sinne einer dissoziativen Störung. Die detaillierte Herausarbeitung der subjektiv empfundenen unerträglichen Konflikte, die vom Ich-Bewusstsein durch ein Verdrängen auf die körperliche Ebene ferngehalten würden, sei aufgrund der beim Kläger vorbestehenden Defizite kaum möglich. Das psychodynamische Erklärungsmodell der Z.klinik St. B., in dem beim Kläger die durch den Unfall erlittene Existenzangst zur Wahrung des Selbstbildes als "harter Knochen" auf die körperliche Ebene verdrängt werde, erscheine ihm nachvollziehbar, werde aber vermutlich dem komplexen Bedingungsgefüge nicht ganz gerecht. Der Kläger leide seit ca. sechs Jahren an weitgehend unveränderten Beschwerden; insofern werde dem Vorgutachter Dr. M. zugestimmt, der ein durchgehendes Störungsbild als Argument gegen eine Simulation aufgeführt habe. Die gewisse Verbesserung der Selbsthilfefähigkeit des Klägers sei seines Erachtens nicht auf das andauernde Üben mit seiner inzwischen verstorbenen Partnerin zurückzuführen, sondern im Gegenteil darauf, dass der Kläger gezwungen sei, aus seiner Patientenrolle auszubrechen und sich nach deren Tod wieder mehr Selbständigkeit zutrauen zu müssen. Die Verbesserung des klinischen Bildes stütze seines Erachtens die Annahme, dass unbewusste psychische Prozesse zu Grunde lägen. Im Falle einer Simulation hätte der Kläger am ehesten sein bewährtes Beschwerdebild beibehalten und nicht von einer Besserung bei der gutachterlichen Untersuchung berichtet. Verdeutlichungstendenzen, teilweise bis in den Grenzbereich der Aggravation, seien sicherlich anzunehmen. Falls es sich tatsächlich um bewusstseinsnahe Motive gehandelt habe, sei die wesentliche Motivation in der Beziehungsgestaltung zu seiner ehemaligen Lebensgefährtin zu sehen, er als hilfsbedürftiger Patient und sie als Pflegerin. Für eine Simulation der Beschwerden, definiert als bewusstes, gesteuertes und absichtliches Vortäuschen einer krankhaften Störung zu bestimmten, klar erkennbaren Zwecken sehe er aber keine Hinweise. Die chronifizierte depressive Anpassungsstörung und die dissoziative Störung mit Schwindel und Gangstörung seien ursächlich auf den Arbeitsunfall vom 30.7.2004 zurückzuführen. Das Unfallgeschehen sei bei fehlenden entscheidenden konkurrierenden Ursachen als Auslöser der Gesundheitsstörungen anzuschuldigen. Ob sich auch ohne den Arbeitsunfall im weiteren Lebensverlauf psychische Krankheitssymptome ergeben hätten, sei nicht sicher einzuschätzen; hypothetisch habe diese Möglichkeit bestanden. Wegen der genannten Gesundheitsstörungen sei der Kläger seit deren Entwicklung in den ersten ein bis zwei Wochen nach dem Unfallereignis arbeitsunfähig. Die unfallbedingte MdE schätze er für die ersten drei Monate auf 100 v.H. und danach auf 50 v.H.

Die Beklagte hat eine Stellungnahme des Diplom-Psychologen D. vom 30.3.2011 vorgelegt. Darin erklärt dieser, das Gutachten von Dr. J. erfülle teilweise die aktuellen wissenschaftlichen Standards. Inhaltlich stelle er, ähnlich wie Dr. M., eine behandlungsbedürftige psychische Symptomatik (dissoziative Störung mit Schwindel und Gangstörung) mit durchaus schlüssigen psychodynamischen Hypothesen dar. Das Gutachten erfülle jedoch nicht die spezifischen Anforderungen der Kausalitätsprüfung in der gesetzlichen Unfallversicherung. Bezüglich der Prüfung möglicher konkurrierender Ursachen widerspreche sich der Gutachter selbst, wenn er ausführe: "Das Unfallgeschehen ist bei fehlenden entscheidenden konkurrierenden Ursachen unserer Einschätzung nach als Auslöser der Gesundheitsstörungen anzuschuldigen". an der Chronifizierung der beklagten Beschwerden hätten sicherlich persönlichkeitsimmanente Faktoren einen gewissen Anteil." Eine kritische Diskussion des Unfalls als Gelegenheitsursache bleibe ebenfalls aus. Die Einschätzung der MdE sei ohne Bezugnahme auf die aktuellen Empfehlungen erfolgt. Bezüglich eines Initialschadens auf klinisch-psychiatrischem Fachgebiet lägen keinerlei gesicherte Befunde vor. Im DA-Bericht fehlten Hinweise auf eine psychische Symptomatik. Die psychiatrische Erstvorstellung sei am 12.8.2004 bei Dr. H. erfolgt, der zwar eine akute Belastungsreaktion diagnostiziert habe, welche sich jedoch im geschilderten psychischen Befund nicht widerspiegele. Bei enger Auslegung der Kausalitätskriterien wäre bereits an dieser Stelle ein kausaler Zusammenhang zwischen Unfall und psychischen Störungen zu verneinen gewesen. Es bestünden keine Zweifel, dass der Kläger mittlerweile an einer klinisch relevanten und behandlungsbedürftigen psychischen Symptomatik leide. Diese sei jedoch nicht kausal auf den Unfall vom 30.7.2004 zurückzuführen. Vielmehr sei davon auszugehen, dass sich die "Entschädigungsbegehrenshaltung" in Verbindung mit der partnerschaftlichen Beziehungsgestaltung (er als hilfsbedürftiger Patient und sie als Pflegerin) verselbstständigt habe und die Symptomatik aufrecht erhalte. In diesem Zusammenhang werde auch verständlich, dass es nach dem plötzlichen Tod der Lebensgefährtin nicht zu einer vollständigen Dekompensation des Klägers, sondern zu einer Beschwerdebesserung gekommen sei.

In der ergänzenden Stellungnahme vom 19.7.2011 hat Dr. J. ausgeführt, eine persönlichkeitsbedingte Vulnerabilität und verminderte Bewältigungsstrategien hätten sicherlich zu der psychischen Störung des Klägers beigetragen. Der Unfall vom 30.7.2004 sei jedoch nach seiner Einschätzung wesentliche Teilursache für die bestehenden psychischen Störungen. Bei dem Unfall vom 30.7.2004 habe es sich um den zweiten LKW-Unfall des Klägers gehandelt; der erste habe sich 1995/96 ereignet. Das Unfallereignis im Jahr 2004 sei für den Kläger jedoch von ganz anderer erlebnismäßiger Qualität gewesen. Es habe sich um ein gänzlich unerwartetes und unkontrollierbares Ereignis mit Gefühlen von Machtlosigkeit, Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein gehandelt. Bis dahin habe der Kläger sein Leben gut ohne eine manifeste psychiatrische Symptomatik gemeistert, auch wenn eine gewisse vulnerable Persönlichkeitsstruktur mit verminderten Bewältigungsstrategien vorgelegen habe und Schicksalsschläge im Privatleben, wie der Suizid der Mutter, zu meistern gewesen seien. Die MdE von 50 v.H. liege an der oberen Grenze des Ermessensspielraums.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Zur weiteren Darstellung des Tatbestandes wird auf die Akten der Beklagten, des SG sowie des Senats und die beigezogenen Akten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgemäß eingelegte Berufung des Klägers, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung § 124 SGG Sozialgerichtsgesetz (SGG) entschieden hat, ist zulässig. Berufungsausschließungsgründe nach § 144 SGG liegen nicht vor.

Die Berufung des Klägers ist jedoch nicht begründet. Das angefochtene Urteil des SG sowie die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind nicht zu beanstanden, da der Kläger wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 30.7.2004 keinen Anspruch auf Verletztenrente sowie keinen Anspruch auf Verletztengeld und Heilbehandlung über den 31.10.2004 hinaus hat.

Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls (hier: Arbeitsunfall vom 30. Juli 2004) über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v. H. gemindert ist, haben § 56 Abs. 1 Satz 1 SGB VII Anspruch auf eine Rente. Ist die Erwerbsfähigkeit infolge mehrerer Versicherungsfälle gemindert und erreichen die Vomhundertsätze zusammen wenigstens die Zahl 20, besteht für jeden, auch für einen früheren Versicherungsfall, Anspruch auf Rente (§ 56 Abs. 1 Satz 2 SGB VII). Die Folgen eines Versicherungsfalls sind nach § 56 Abs. 1 Satz 3 SGB VII nur zu berücksichtigen, wenn sie die Erwerbsfähigkeit um wenigstens 10 v. H. mindern.

Voraussetzung für die Berücksichtigung einer Gesundheitsstörung bzw. Funktionseinschränkung als Unfallfolge bei der Bemessung der MdE ist grundsätzlich u. a. ein wesentlicher ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis bzw. dem dadurch eingetretenen Gesundheitserstschaden und der fortdauernden Gesundheitsstörung (sog. haftungsausfüllende Kausalität). Dabei müssen die anspruchsbegründenden Tatsachen, zu denen - neben der versicherten Tätigkeit - der Gesundheitserstschaden und die eingetretenen fortdauernden Gesundheitsstörungen gehören, mit einem der Gewissheit nahekommenden Grad der Wahrscheinlichkeit erwiesen sein. Für die Bejahung eines ursächlichen Zusammenhanges zwischen dem Gesundheitserstschaden und den fortdauernden Gesundheitsstörungen gilt in der gesetzlichen Unfallversicherung die Kausalitätstheorie der "wesentlichen Bedingung". Diese hat zur Ausgangsbasis die naturwissenschaftlich-philosophische Bedingungstheorie. In einem ersten Schritt ist zu prüfen, ob das Ereignis nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (conditio sine qua non). Auf Grund der Unbegrenztheit der naturwissenschaftlich-philosophischen Ursachen für einen Erfolg ist für die praktische Rechtsanwendung in einer zweiten Prüfungsstufe die Unterscheidung zwischen solchen Ursachen notwendig, die rechtlich für den Erfolg verantwortlich gemacht werden, bzw. denen der Erfolg zugerechnet wird, und anderen, für den Erfolg rechtlich unerheblichen Ursachen. Nach der Theorie der wesentlichen Bedingung werden als kausal und rechtserheblich nur solche Ursachen angesehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich beigetragen haben. Welche Ursache wesentlich ist und welche nicht, muss aus der Auffassung des praktischen Lebens abgeleitet werden (vgl. die zusammenfassende Darstellung der Kausalitätstheorie der wesentlichen Bedingung im Urteil des BSG vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - SozR 4-2700 § 8 Nr. 17 = BSGE 96, 196-209 und juris).

Bei mehreren konkurrierenden Ursachen muss die rechtlich wesentliche Bedingung nach dem Urteil des BSG vom 9.5.2006 (aaO Rdnr. 15) nicht "gleichwertig" oder "annähernd gleichwertig" sein. Auch eine nicht annähernd gleichwertige, sondern rechnerisch verhältnismäßig niedriger zu bewertende Ursache kann für den Erfolg rechtlich wesentlich sein, solange die anderen Ursachen keine überragende Bedeutung haben. Kommt einer der Ursachen gegenüber den anderen eine überragende Bedeutung zu, ist sie allein wesentliche Ursache und damit allein Ursache im Rechtssinn.

Im Urteil vom 9.5.2006 (aaO Rdnr. 21) hat das BSG keinen Zweifel daran gelassen, dass die Theorie der wesentlichen Bedingung auch uneingeschränkt auf die Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs zwischen Arbeitsunfällen und psychischen Störungen anzuwenden ist, die nach Arbeitsunfällen in vielfältiger Weise auftreten können. Die Feststellung der psychischen Störung sollte angesichts der zahlreichen in Betracht kommenden Erkrankungen und möglichen Schu-lenstreiten aufgrund eines der üblichen Diagnosesysteme und unter Verwendung der dortigen Schlüssel und Bezeichnungen erfolgen. Denn je genauer und klarer die beim Versicherten bestehenden Gesundheitsstörungen bestimmt sind, desto einfacher sind ihre Ursachen zu erkennen und zu beurteilen sowie letztlich die MdE zu bewerten (BSG aaO Rdnr. 22). Das BSG hat im Weiteren darauf hingewiesen, dass es wegen der Komplexität von psychischen Gesundheitsstörungen im Bereich des Arbeitsunfalls keine Beweisregel des Inhalts gebe, dass bei fehlender Alternativursache (etwa wenn eine Vorerkrankung oder Schadensanlage nicht nachweisbar sind) die versicherte naturwissenschaftliche Ursache (also die Einwirkung durch den Arbeitsunfall, festgestellt auf der ersten Stufe der Ursächlichkeitsprüfung) damit auch automatisch zu einer wesentlichen Ursache (im Sinne der Ursächlichkeitsprüfung auf der zweiten Stufe) wird. Dies würde angesichts der Komplexität psychischer Vorgänge und des Zusammenwirkens gegebenenfalls lange Zeit zurückliegender Faktoren zu einer Umkehr der Beweislast führen, für die keine rechtliche Grundlage erkennbar sei (BSG aaO Rdnr. 39). Andererseits schließt aber eine "abnorme seelische Bereitschaft" die Annahme der psychischen Reaktion als Unfallfolge nicht aus. Wunschbedingte Vorstellungen sind aber als konkurrierende Ursachen zu würdigen und können der Bejahung eines wesentlichen Ursachenzusammenhangs zwischen dem Unfallereignis und der psychischen Reaktion entgegenstehen (BSG aaO Rdnr. 37 und 38).

Die MdE richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperli¬chen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens (§ 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII). Die Bemessung der MdE hängt also von zwei Faktoren ab (vgl. BSG, Urteil vom 22.6.2004, B 2 U 14/03 R in SozR 4-2700 § 56 Nr. 1): Den verbliebenen Beeinträchtigungen des körperlichen und geistigen Leistungsvermö¬gens und dem Umfang der dadurch verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten. Entscheidend ist nicht der Gesundheitsschaden als solcher, sondern vielmehr der Funktionsverlust un¬ter medizinischen, juristischen, sozialen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Ärztliche Meinungsäuße¬rungen darüber, inwieweit derartige Beeinträchtigungen sich auf die Erwerbsfähigkeit aus¬wirken, haben keine verbindliche Wirkung, sie sind aber eine wichtige und vielfach unent¬behrliche Grundlage für die richterliche Schätzung der MdE, vor allem soweit sie sich dar¬auf beziehen, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletz¬ten durch die Unfallfolgen beeinträchtigt sind. Erst aus der Anwendung medizinischer und sonstiger Erfahrungssätze über die Auswir¬kungen bestimmter körperlicher und seelischer Beeinträchtigungen auf die verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten des Betroffenen auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens und unter Berücksichtigung der gesamten Umstände des Einzelfalles kann die Höhe der MdE im jeweiligen Einzelfall geschätzt werden. Diese zumeist in jahrzehntelanger Entwicklung von der Rechtsprechung sowie dem versicherungsrechtli¬chen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten Erfahrungssätze sind bei der Beurteilung der MdE zu beachten; sie sind zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend, bilden aber die Grundlage für eine gleiche, gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis und unterliegen einem ständigen Wandel.

Gemessen an den vorstehenden Voraussetzungen hat der Kläger keinen Anspruch auf eine Verletztenrente. Zu dieser Überzeugung gelangt der Senat aufgrund der Gutachten des Chirurgen Professor Dr. H. vom 10.4.2005, des Neurologen und Psychiaters Dr. F. vom 8.3. und 17.3.2005 nebst Befundbericht von Diplom-Psychologin K. vom 15.3.2005, des Befundberichts des HNO-Arztes Dr. L. vom 10.3.2005, der Entlassungsberichte der Z. Klinik St. B. vom 15.12.2004 und der S.klinik Bad B. vom 8.8.2004, die im Wege des Urkundenbeweises verwertet werden, sowie der Gutachten von Dr. M. vom 5.3.2007 und Dr. J. vom 18.10.2010 nebst ergänzender Stellungnahme vom 19.7.2011.

Bei dem Arbeitsunfall vom 30.7.2004, bei dem am LKW des Klägers zwei Reifen platzten, der Lkw ins Schleudern geriet und umkippte, hat sich der Kläger ausweislich des DA-Bericht von Dr. S. vom 31.7.2004 oberflächliche Hautabschürfungen am ganzen Rücken und am linken Ellenbogen zugezogen. Da der Kläger über Nacken- und Kopfschmerzen klagte, hat Dr. S. neben multiplen Hautabschürfungen auch eine HWS-Zerrung I. Grades diagnostiziert. Die HWS war bei der Untersuchung am 31.7.2004 frei beweglich. Die CCT HWS in zwei Ebenen, Dens und Thorax haben keine frische knöcherne Beteiligung, keine Gefügestörung und keine intracranielle Verletzung ergeben. Unmittelbar nach dem Unfall wurde der Kläger kurz in einem Krankenhaus in B. ambulant behandelt und war danach in der Lage, mit einem anderen Lkw nach Hause zu trampen.

Angesichts dieses Erstschadens ist die Beurteilung von Professor Dr. H. nachvollziehbar und überzeugend, dass der Arbeitsunfall auf neurochirurgisch-neurotraumatologischem Gebiet keine dauerhaften Unfallfolgen hinterlassen und allenfalls zu einer Behandlungsbedürftigkeit und Arbeitsunfähigkeit von längstens drei Monaten geführt hat. Die Zerrung/Distorsion der HWS war innerhalb dieser Zeit ausgeheilt, zumal strukturelle Verletzungsfolgen an der HWS nicht vorlagen. Auch eine Gehirnerschütterung, die von Professor Dr. H. angenommen wurde, obwohl sie als Erstschaden nicht nachgewiesen ist und der Kläger gegenüber Dr. L. eine direkte Kopfverletzung nicht bestätigen konnte, hat zu keiner längeren Behandlungsbedürftigkeit und Arbeitsunfähigkeit über drei Monate hinaus geführt, wie Professor Dr. H. ausgeführt hat. Dr. L. hat beim Kläger auf HNO-ärztlichem Gebiet keine bleibenden Gesundheitsstörungen feststellen können und die geschilderten Schwindelerscheinungen als psychogen verursacht angesehen.

Ein auffälliger psychischer Befund wurde beim Kläger erstmals während des stationären Aufenthalts im K. – wegen fehlender Besserung unter ambulanter Therapie und zur Diagnostik – vom 9.8. bis 13.8.2004 erhoben. Im Arztbrief hierüber vom 20.8.2004 wird der Kläger als aufgeregt mit Klagen über Kopfschmerzen, Schwindelgefühl und Schmerzen im HWS-Bereich beschrieben. Die CT der HWS und des Schädels ergaben keinen pathologischen Befund. Bei der daraufhin veranlassten Untersuchung durch den Neurologen und Psychiater Dr. H. am 12.8.2004 gab der Kläger durch Lagewechsel provozierbaren Schwindel an, der in Ruhe nicht auftrat. Ein Nystagmus war durch Lagerungsproben nicht auslösbar. Die Eigenreflexe der Arme und Beine bei normalem Tonus und guter Trophik waren seitengleich mittellebhaft auslösbar. Paresen sowie ein fein- oder grobschlägiger Tremor waren nicht vorhanden. Das Gangbild war ungestört. Im Sterngang und im Unterbergversuch war keine auffällige Seitenabweichung oder Schwankneigung feststellbar. Der Kläger war bewusstseinsklar, allseits orientiert, in der Kontaktaufnahme zugewandt, bereitwillig auf nahezu alle Fragen antwortend, außer über die näheren Umstände des Suizids seiner Mutter. Zeitweise zeigte er sich verzweifelt, insbesondere wenn durch Lagerung Schwindel ausgelöst wurde. Außerdem wies er zeitweise ein Verhalten auf, als wäre er auf der Anklagebank und müsse sich rechtfertigen und verteidigen.

Seit Oktober 2004 liegen beim Kläger vermehrte Schwindelerscheinungen und Gangstörungen vor, wie sich aus den Angaben des Klägers während des Heilverfahrens in der Z.-Klinik (Entlassungsbericht vom 15.12.2004) in Übereinstimmung mit den Angaben von Dr. S. vom 19.11.2004 ergibt.

Der Senat vermag jedoch nicht festzustellen, dass die seit Oktober 2004 vorliegenden psychischen Störungen (Schwindelbeschwerden und Gangstörungen) mit Wahrscheinlichkeit auf den Arbeitsunfall vom 30.7.2004 zurückzuführen sind.

Bei den Schwindelbeschwerden und den Gangstörungen des Klägers handelt es sich nach Überzeugung des Senats am ehesten um eine dissoziative Störung (F 44.4), und nicht um ein Simulationsverhalten. Zu dieser Überzeugung gelangt der Senat aufgrund der Entlassungsberichte der Z.-Klinik vom 15.12.2004 und der S.klinik Bad B. vom 8.6.2006 sowie aufgrund der Gutachten von Dr. M. vom 5.3.2007 und Dr. J. vom 18.10.2010.

Gegen eine Simulation der Beschwerden, definiert als bewusstes, gesteuertes und absichtliches Vortäuschen einer krankhaften Störung spricht – wie Dr. J. nachvollziehbar dargelegt hat – das seit Jahren weitgehend unveränderte Beschwerdebild sowie die Tatsache, dass dieses auch bei den mehrwöchigen Heilverfahren im Wesentlichen unverändert bestanden hat. Der Umstand, dass das Beschwerdebild unterschiedlich stark ausgeprägt war und beim Kläger gegebenenfalls Verdeutlichungstendenzen vorlagen, belegt keine Simulation. So hat der Kläger auch nicht bestritten, dass er – trotz der Schwindelbeschwerden – kürzere Strecken selbst Auto fährt und auch eingeräumt, dass nach dem Tod seiner Lebensgefährtin eine gewisse Verbesserung der Selbsthilfefähigkeit eingetreten ist. Dies steht auch im Einklang mit den Beobachtungen während der Heilverfahren, wo beim Kläger nach einer gewissen Zeit in der Arbeitstherapie jeweils Schwindel auftrat. Der Beurteilung von Dr. W., der ein Simulationsverhalten im Rahmen einer Rentenerwartungshaltung annimmt, vermag sich der Senat angesichts der psychodynamischen Erwägungen, die die Ärzte der beiden Heilverfahren sowie Dr. M. und Dr. J. dargelegt haben, deswegen nicht anzuschließen. Darüber hinaus weist Dr. W. selbst darauf hin, dass Versorgungswünsche des Klägers möglicherweise aufgrund einer Kränkungsreaktion nach dem Unfall beruhen.

Das allgemeine Kennzeichen der dissoziativen oder Konversionsstörungen besteht in teilweisem oder völligen Verlust der normalen Integration der Erinnerung an die Vergangenheit, des Identitätsbewusstseins, der Wahrnehmung unmittelbarer Empfindungen sowie der Kontrolle von Körperbewegungen. Alle dissoziativen Störungen neigen nach einigen Wochen oder Monaten zur Remission, besonders wenn der Beginn mit einem traumatisierenden Lebensereignis verbunden ist. Eher chronische Störungen, besonders Lähmungen und Gefühlstörungen, entwickeln sich, wenn der Beginn mit unlösbaren Problemen oder interpersonalen Schwierigkeiten verbunden ist (F 44. – ICD-10-GM 2011).

Der Arbeitsunfall vom 30.7.2004 war nach Überzeugung des Senats zwar mit Wahrscheinlichkeit conditio sine qua non für das Auftreten der dissoziativen Störung bzw. der Schwindelbeschwerden mit Gangstörung, d.h. ohne den Arbeitsunfall wäre es wahrscheinlich zu diesem Zeitpunkt zu diesen Störungen nicht gekommen, wie Dr. M. und Dr. J. für den Senat nachvollziehbar dargelegt haben.

Der Senat vermag jedoch nicht festzustellen, dass der Arbeitsunfall selbst die rechtlich wesentliche Bedingung im Sinne der im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Kausalitätstheorie der wesentlichen Bedingung für das Auftreten der dissoziativen Störung gewesen ist. Denn eine detaillierte Herausarbeitung der subjektiv empfundenen, für den Kläger unerträglichen Konflikte, die vom Ich-Bewusstsein durch ein Verdrängen auf die körperliche Ebene ferngehalten werden, ist beim Kläger, der zur Introspektion nicht in der Lage ist, nicht möglich. So geht Dr. J. auch von einem komplexen Bedingungsgefüge aus. Er hält es zwar für denkbar, dass die durch den Unfall erlittene Existenzangst zur Wahrung des Selbstbildes als "harter Knochen" auf die körperliche Ebene verdrängt wurde. Im Entlassungsbericht der Z.-Klinik vom 15.12.2004 wird dagegen erwogen, dass die Verdrängung der Angst, in einen Lkw zu steigen, zu dem Schwindel und der nachfolgenden Gangstörung sowie der Unselbstständigkeit geführt haben könnte. Andererseits wird auch angesprochen, dass der Kläger durch das hilfreiche Verhalten seiner Lebensgefährtin an der Überwindung der Gangstörung gehindert wird. Im Entlassungsbericht der S.klinik Bad B. vom 8.6.2006 wird die Ansicht vertreten, dass die dissoziative Bewegungsstörung aus einer posttraumatischen Symptomatik durch starke Funktionalität im Rahmen der Beziehungsgestaltung und des Umgangs mit Emotionen hervorgegangen ist, welche sich im Umgang mit Regressforderungen an die Berufsgenossenschaft manifestiert. Die Aufgabe der Symptomatik würde den Kläger mit seinen Beziehungsgestaltungsdefiziten und seiner Wut konfrontieren. Als weitere Gründe für das Auftreten der dissoziativen Störungen kommen narzisstische Kränkungserlebnisse in Betracht, wie Dr. M. im Gutachten vom 5.3.2007 ausführt. So wurde dem Unfall – nach Aussagen des Klägers – weder von seiner Arbeitsstelle noch von der BG-Klinik (gemeint wohl K.) die nötige Aufmerksamkeit beigemessen. Weiter nennt Dr. M. abgespaltene Ängste bezüglich des weiteren beruflichen Werdegangs, aber auch Ängste bezüglich des Verlassenswerdens oder Alleingelassenseins. Auch aus dem Gutachten von Dr. J. lässt sich entnehmen, dass für die aufgetretene psychische Symptomatik (Schwindel und Gangstörung) der Beziehungsgestaltung zu seiner ehemaligen Lebensgefährtin, der Kläger als hilfsbedürftiger Patient und sie als Pflegerin, eine besondere Bedeutung zukommt. Denn in seiner extremsten Ausprägung führte dies dazu, dass der Kläger in den Zustand eines Kleinkindes regredierte, das gewaschen und gefüttert werden musste. Ein solches Verhalten ist nicht mehr durch eine Rentenerwartungshaltung zu erklären. In der Gesamtschau ist – angesichts der vielfältigen, auch unfallunabhängigen Ursachen – für die Entstehung der dissoziativen Störung nicht feststellbar, dass der Arbeitsunfall die rechtlich wesentliche Ursache für die Schwindelbeschwerden mit Gangstörung ist.

Die von Dr. J. diagnostizierte chronifizierte depressive Anpassungsstörung haben weder die Ärzte der S.klinik Bad B. im Entlassungsbericht vom 8.6.2006 noch Dr. M. im Gutachten vom 5.3.2007 festgestellt. Selbst wenn nunmehr eine solche vorliegen würde, lässt sich aus dem Gutachten von Dr. J. nicht ableiten, dass diese rechtlich wesentlich auf den Arbeitsunfall vom 30.7.2004 zurückzuführen ist.

Da die beim Kläger vorliegenden Gesundheitsstörungen nicht mit Wahrscheinlichkeit auf den Arbeitsunfall vom 31.7.2004 zurückzuführen sind, steht ihm auch keine Verletztenrente zu.

Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Gewährung von Verletztengeld gemäß § 45 Abs. 1 SGB VII und auf Heilbehandlung gemäß § 26 SGB VII über den 31.10.2004 hinaus, da Arbeitsunfähigkeit und Behandlungsbedürftigkeit wegen der Folgen des Arbeitsunfalls über den 31.10.2004 hinaus, wie oben dargelegt wurde, nicht bestand.

Nach alledem sind das Urteil des SG und die angefochtenen Bescheide im Ergebnis nicht zu beanstanden. Die Berufung des Klägers musste deswegen zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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