L 3 SB 3023/10

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
3
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 3 SB 4886/09
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 3 SB 3023/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 01. Juni 2010 wird zurückgewiesen.

2. Außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Zuerkennung eines höheren Grades der Behinderung (GdB) und des Merkzeichens "G" (gehbehindert).

Bei der am 02.10.1952 geborenen Klägerin deutscher Staatsangehörigkeit wurde mit Bescheid vom 30.06.2000 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.06.2001 ein GdB von 30 seit dem 01.02.1999 festgestellt. Dieser Feststellung lagen Einzel-GdB von 30 für eine "psychovegetative Störung" und von 10 für "Funktionsbehinderungen der Wirbelsäule und der Hüftgelenke" zu Grunde Grundlage dieser Entscheidung waren u. a. die Entlassungsberichte der Reha-Klinik Taubertal vom 19.08.1999 (Diagnose u. a.: generalisierte Angststörung) und der Klinik Kinzigtal vom 04.05.2001 (Diagnosen: Dysthymia, Somatisierungsstörung, Persönlichkeit mit coabhängigen Verhaltensweisen und anankastischen Zügen, Lumbalgien bei Zustand nach (Z.n.) lumbalem Bandscheibenprolaps).

Nachdem die Klägerin bei einem häuslichen Unfall im Dezember 2008 (Sturz von der Leiter) eine vordere und hintere Beckenringfraktur erlitten hatte, beantragte sie am 11.02.2009 die Neufestsetzung des GdB und die Feststellung des Merkzeichens "G" ab Dezember 2008. Das Landratsamt Karlsruhe als zuständiges Versorgungsamt zog den Entlassungsbericht der Ruland-Kliniken A. vom 11.03.2009 über eine stationäre Rehabilitation der Klägerin vom 15.01. bis 19.02.2009 bei. Darin werden die genannte Beckenringfraktur und eine depressive Verstimmung diagnostiziert. Gestützt hierauf schlug der Versorgungsarzt in seiner Stellungnahme vom 11.05.2009 vor, für eine "Depression und psychovegetative Störungen" und für eine "Funktionsbehinderung der Wirbelsäule und beider Hüftgelenke einschließlich Gebrauchseinschränkung des rechten Beines" jeweils einen Einzel-GdB von 30 und für den "Beckenschaden" einen Einzel-GdB von 10 anzunehmen. Die Frakturen zeigen eine gute Heilungstendenz, so dass deren Folgen noch nicht beurteilt werden könnten. Es sei ein Gesamt-GdB von 40 angemessen. Mit Bescheid vom 14.05.2009 stellte das Versorgungsamt diesen GdB seit dem 20.12.2008 fest und lehnte die Zuerkennung des Merkzeichens "G" ab, weil die Schwerbehinderteneigenschaft fehle.

Die Klägerin erhob Widerspruch und trug u. a. vor, sie leide seit Jahren - auch - an einer generalisierten Angststörung. Das Versorgungsamt zog den Bericht des Unfallchirurgen Dr. B. vom 03.08.2009 sowie den Entlassungsbericht der Ruland-Kliniken vom 10.07.2009 über einen Aufenthalt der Klägerin vom 17.04. bis 16.07.2009 bei. Versorgungsärztlich legte Dr. C. am 23.09.2009 u. a. dar, dass der Entlassungsbericht einen flüssigen Gang ohne Unterarm-Gehstützen und ohne Gebrauch von Orthesen beschreibe. Die Funktionsstörung des Stütz- und Bewegungsapparates sei mit einem Einzel-GdB von 30 leidensgerecht bewertet. Die seelische Störung sei eher weitreichend bewertet. Gestützt hierauf erließ der Beklagte den zurückweisenden Widerspruchsbescheid vom 06.10.2009.

Hiergegen hat die Klägerin am 04.11.2009 Klage zum Sozialgericht Karlsruhe (SG) erhoben. Sie hat vorgetragen, der Behandlungsverlauf nach Beckenringfraktur belege, dass erhebliche Dauerfolgen eingetreten seien. Sie leide an erheblichen Schmerzen im unteren Rücken und an den Hüftgelenken. Wegen der seit Jahren bestehenden generalisierten Angststörung mit entsprechenden Auswirkungen auf das Berufs- und Alltagsleben sei auch der bisherige Einzel-GdB von 30 für die psychische Erkrankung zu gering. Der psychische Zustand habe sich nach der Beckenringfraktur verschlechtert.

Nachdem der Beklagte der Klage entgegengetreten war, hat das SG bei dem behandelnden Arzt der Klägerin, Dr. Kullick, die dortigen Befundberichte eingeholt, darunter den Arztbrief des behandlenden Orthopäden Dr. D. vom 03.12.2009. Ferner hat es die Akte des Rentenstreitverfahrens S 8 R 5315/06 der Klägerin vor dem SG mitsamt den in jenem Verfahren eingeholten Gutachten der Neurologin und Psychiaterin E.-F. vom 26.11.2007 und des Facharztes für Psychotherapeutische Medizin, Neurologie und Psychiatrie Dr. G. vom 24.07.2008 beigezogen. Auf die Feststellungen und Schlussfolgerungen jener Gutachten wird verwiesen.

Sodann hat das SG die Klägerin von Amts wegen durch den Orthopäden Dr. H. begutachten lassen. Dieser Sachverständige hat in seinem Gutachten vom 18.03.2010 festgestellt, bei der Klägerin bestehe als wesentliche funktionelle Beeinträchtigung auf orthopädischem Gebiet eine mittelgradige Funktionsstörung der Lendenwirbelsäule mit deutlicher Einschränkung der globalen und segmentalen Beweglichkeit. Demgegenüber lägen nach Beckenringfraktur keine wesentlichen Einschränkungen vor. Die Rotation, insbesondere die Innendrehung des Hüftgelenks rechts, sei nicht bedeutsam eingeschränkt. Auch die weiter vorhandene gelenkumbildende Veränderung des Zeigefingerendgelenks rechts bedinge keine Funktionsstörungen. Nervenwurzelreizungen oder Sensibilitätsstörungen von Seiten der Wirbelsäule beständen nicht. Es seien Einzel-GdB von 20 für die mittelgradige Funktionsstörung eines Wirbelsäulenabschnitts und von 10 für die beginnende Hüftgelenksarthrose rechts anzusetzen. Unter der Annahme, dass der Einzel-GdB von 30 für die psychischen Leiden zutreffe, ergebe sich ein Gesamt-GdB von 40. Wegen der Feststellungen und Schlussfolgerungen des Sachverständigen im Einzelnen wird auf jenes Gutachten verwiesen.

Die Klägerin ist der Beurteilung durch Dr. H. entgegengetreten und hat unter Vorlage eines Befundberichts der Ärztin für Psychiatrie I. vom 27.05.2010 ergänzend vorgetragen, die psychischen Beeinträchtigungen hätten sich seit dem Unfall vergrößert.

Nach vorangegangener Ankündigung hat das SG die Klage mit Gerichtsbescheid vom 01.06.2010 abgewiesen. In den Funktionsbeeinträchtigungen, die dem Bescheid vom 30.06.2000 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.06.2001 zu Grunde gelegen hätten, sei keine wesentliche Änderung derart eingetreten ist, dass der GdB mit mehr als 40 festzustellen sei, wie es der Beklagte in dem angegriffenen Bescheid auch getan habe. Eine wesentliche Änderung sei nur hinsichtlich der auf orthopädischem Gebiet eingetretenen und insoweit nachweisbaren Veränderung zu bejahen gewesen. Die orthopädischen Funktionsbeeinträchtigungen habe Dr. H. schlüssig und überzeugend bewertet. Auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet sei keine wesentliche Änderung nachgewiesen. Bereits der Entlassungsbericht der Klinik Kinzigtal vom 04.05.2001 habe ausgeführt, dass die Klägerin an häufigen Cephalgien und Schwindelattacken sowie an einem morgendlichem Stimmungstief, an Erschöpfung, Ängsten und Überforderungsgefühlen leide. Diese Symptomatik gäben die nachfolgenden Arztberichte im Wesentlichen übereinstimmend durchgehend wieder. Die Sachverständigen E.-¬F. und Dr. G. hätten in den beiden Gutachten, die in dem Rentenstreitverfahren eingeholt worden seien, übereinstimmend die Diagnose einer Dysthymia mit kombinierter, vorherrschend asthenischer Persönlichkeitsstörung mit der vorwiegenden Symptomatik einer allgemeinen Erschöpfbarkeit gestellt. Die Psychiaterin I., auf sie sich die Klägerin nunmehr zum Vortrag einer wesentlichen Änderung stütze, beschreibe erneut die bereits im Entlassungsbericht der Klinik Kinzigtal benannten Symptome wie Schlafstörung, Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, Ängste sowie Stimmungsschwankungen und stelle erneut die Diagnose einer Angst- und depressiven Störung. Eine wesentliche Änderung sei daher nicht nachgewiesen. Nur eine solche könne zu einer Höherbewertung führen, sodass nicht zu prüfen sei, ob, wie von der Klägerin vorgetragen, der auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet bestehende Befund mit einem Teil-GdB von 30 von Anfang an zu niedrig bewertet sei. Ein Anspruch auf Feststellung des Merkzeichens "G" bestehe ebenfalls nicht, da es an der Schwerbehinderteneigenschaft fehle.

Gegen diesen Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 29.06.2010 Berufung zum Landessozialgericht Baden-Württemberg eingelegt. Sie trägt vor, bereits dem angefochtenen Bescheid vom 14.05.2009 hätten zwei Einzel-GdB von 30 zu Grunde gelegen; daraus sei ein Gesamt-GdB von 50 zu bilden gewesen. Ferner habe sich die Beweglichkeit in den Hüftgelenken weiter verschlechtert, auch sei inzwischen das rechte Bein beeinträchtigt. Es beständen erhebliche berufliche Einschränkungen. Die Klägerin könne nur noch leichte körperliche Tätigkeiten im Wechsel von Sitzen, Stehen und Gehen ausüben. Noch mehr als sechs Monate nach dem Unfall, im Juli 2009, habe sie nur mit Hilfe zweier Unterarmgehstützen laufen und nur eine Strecke von 500 bis 700 m zurücklegen können. Die Klägerin rügt auch, Dr. H. habe erhebliche Schädigungen der Lendenwirbelsäule diagnostiziert und eine mittelgradige Funktionseinbuße festgestellt, diese aber zu niedrig bewertet. Zwischenzeitlich habe ihr der Rentenversicherungsträger eine Rente wegen voller Erwerbsminderung bewilligt, weil sich ihr Gesundheitszustand verschlechtert habe.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 01. Juni 2010 aufzuheben und den Beklagten unter Abänderung des Bescheids vom 14. Mai 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 06. Oktober 2009 zu verpflichten, bei ihr ab dem 20. Dezember 2008 einen Grad der Behinderung von 60 festzustellen und ihr das Merkzeichen "G" zuzuerkennen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt unter Hinweis auf die von ihm vorgelegte versorgungsärztliche Stellungnahme von Dr. Wolf vom 05.01.2011 den angegriffenen Gerichtsbescheid und seine Entscheidungen.

Der Senat hat die Akten der Deutschen Rentenversicherung Bund über die Klägerin beigezogen und hieraus Befundberichte von Dr. K. vom 31.05.2010, Dres. D. u. a. vom 26.05.2010 und Dr. O. vom 18.03.2010 zu den Akten genommen.

Der Senat hat die Klägerin von dem Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. L. begutachten lassen. Dieser Sachverständige hat in seinem Gutachten vom 04.07.2011 bekundet, die Klägerin leide an einer rezidivierenden depressiven Verstimmung, gegenwärtig leicht- bis mittelgradig, an einer dependenten Persönlichkeitsstörung und einer Somatisierungsstörung. Eine Ursache für die depressive Erkrankung seien neben den persönlichkeitsimmanenten Faktoren äußere Einflüsse. So habe die Klägerin nach ihrer schulischen Ausbildung in Rumänien ihren Wunschberuf als Ärztin nicht ergreifen können. Sie habe dann eine Ausbildung absolviert, die es ihr dort ermöglicht habe, als eine Art Arztassistentin zu arbeiten. Nachdem dieser Beruf nach ihrer Übersiedlung nach Deutschland Ende der 1980-er Jahre hier nicht anerkannt worden sei, habe sie als Krankenschwester arbeiten müssen. Sie habe dies als beruflichen Abstieg verstanden, den sie nicht zufriedenstellend verarbeitet habe. Trotz dieser Erfahrung sei sie einige Jahre einigermaßen zurechtgekommen. Dass sie trotz ihrer vollschichtigen Berufstätigkeit ohne wesentliche Hilfe den Haushalt ihrer 4-köpfigen Familie habe führen müssen, habe dazu geführt, dass sie schließlich dekompensiert sei, zumal ihre psychische Belastbarkeit primärpersönlich eingeschränkt gewesen sei. Die hierdurch in Gang gekommene depressive Entwicklung habe sich zwischenzeitlich durch eine Verringerung der beruflichen Tätigkeit stabilisiert. Der Unfall 2008 und die daraus folgenden anhaltenden körperlichen Beschwerden hätten diese Stabilisierung beendet. Danach sei es der Klägerin trotz mehrerer Versuche nicht mehr gelungen, an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren. Trotz der damit verbundenen Entlastung habe sich ihr psychischer Zustand nicht wieder nennenswert gebessert. Hierbei spiele möglicherweise auch ein unterschwelliger Partnerschaftskonflikt eine Rolle. Das Ausmaß der aus der Krankheit folgenden Beeinträchtigungen des sozialen Lebens werde nach drei Subkategorien festgestellt. Die sozialen Kontakte der Klägerin seien zwar in Mitleidenschaft gezogen, aber nur leichtgradig, denn sie gehe zweimal wöchentlich zur Wassergymnastik, treffe sich manchmal mit früheren Arbeitskolleginnen, die sie auch jede Woche anrufe, und habe Kontakte zu Nachbarn. Der psychische Leidensgrad sei mittelschwer ausgeprägt, denn die Klägerin leide immer wieder unter auch ausgeprägteren Stimmungsschwankungen. Noch stärker sei der physische Leidensgrad ausgeprägt, die als stark empfundenen Schmerzen schränkten die Klägerin in ihrer Lebensführung ein. Vor diesem Hintergrund sei auf psychiatrischem Gebiet ein Einzel-GdB von 30 bis 40 anzunehmen. Nach dem Unfall 2008 sei eine Verstärkung und Chronifizierung eingetreten, sodass ein Schweregrad von 40 anzunehmen sei. Unter Einbeziehung der Bewertung der beiden orthopädischen Beeinträchtigungen mit Einzel-GdB von 30 und 10 sei ein Gesamt-GdB von 50 anzunehmen. Da die Klägerin ebenerdig ohne fremde Hilfe Wegstrecken von 500 bis 2000 m in langsamem Gehtempo zurücklegen könne, sei das Merkzeichen "G" nicht gerechtfertigt. Wegen Dr. L.s weiterer Feststellungen und seiner Schlussfolgerungen im Einzelnen wird auf das Gutachten Bezug genommen.

Der Beklagte ist dem Vorschlag, auf psychiatrischem Gebiet einen GdB von 40 anzunehmen, unter Berufung auf die versorgungsärztliche Stellungnahme von Dr. M. vom 30.11.2011, auf die Bezug genommen wird, entgegengetreten. Dr. L. hat daraufhin seiner ergänzenden Stellungnahme vom 15.12.2011 ausgeführt, er habe bei seinem Vorschlag auch die Somatisierungsstörung der Klägerin berücksichtigt.

Beide Beteiligte haben mit Schriftsätzen vom 29.12.2011 auf eine mündliche Verhandlung verzichtet.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die vom Beklagten vorgelegten Verwaltungsakten und auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge sowie des Rentenstreitverfahrens verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin, über die der Senat nach § 153 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist zulässig, aber nicht begründet. Zu Recht hat das SG ihre Anfechtungs- und Verpflichtungsklage auf Zuerkennung eines GdB von mehr als 40 und des Merkzeichens G abgewiesen. Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig und verletzten die Klägerin nicht in ihren Rechten.

1. Der GdB der Klägerin beträgt nicht mehr als 40.

a) Die Voraussetzungen für die Feststellung eines GdB nach § 69 Abs. 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX), § 30 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) und auch die medizinischen Vorgaben aus den in diesem Verfahren schon zu Grunde zu legenden, seit 01.01.2009 geltenden Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VG) aus der Anl. zu § 2 der nach § 30 Abs. 17 BVG erlassenen Versorgungsmedizin-Verordnung hat das SG in dem angegriffenen Gerichtsbescheid zutreffend dargelegt. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf jene Ausführungen verwiesen (§ 153 Abs. 2 SGG).

b) Auf orthopädischem Gebiet ist bei der Klägerin ein Einzel-GdB von 20 für die Wirbelsäulenbeeinträchtigung anzunehmen. Der Sachverständige Dr. H. hat in seinem Gutachten vom 18.03.2010 dargelegt, es beständen mittelgradige funktionelle Beeinträchtigungen in einem Wirbelsäulenabschnitt, nämlich der Lendenwirbelsäule. Für solche mittelgradigen Beeinträchtigungen an einem Abschnitt ist nach Teil B Nr. 18.9 VG ein GdB von 20 vorgesehen. Mittelgradig sind hiernach eine Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität mittleren Grades, häufig rezidivierende und über Tage andauernde Wirbelsäulensyndrome. Solche Beeinträchtigungen, nämlich eine fixierte Hohlrückenbildung mit einer Störung der Entfaltbarkeit der LWS und einer Einschränkung der segmentalen Beweglichkeit und lokalen Bewegungsschmerzen, hat Dr. H. festgestellt. Allerdings hat er keine dauernden oder häufigen Nervenwurzelreizungen feststellen können, was es rechtfertigt, jedenfalls keine schweren funktionellen Beeinträchtigungen anzunehmen, die ggfs. einen höheren GdB bedingten. Schädigungen an den anderen Wirbelsäulenabschnitten (HWS oder BWS) hat der Sachverständige nicht feststellen können und sind auch sonst nicht ersichtlich.

Die beginnende Hüftgelenksarthrose rechts hat Dr. H. mit einem GdB von 10 bewertet. Er hat insoweit eine Einschränkung der Beweglichkeit des rechten Hüftgelenks um 10° festgestellt und nach der Neutral-Null-Methode entsprechend eine Restbeweglichkeit von 20-0-120° rechts (gegenüber 20-0-130° links) bei nicht beeinträchtigter Dreh- und Spreizfähigkeit (40-0-30° beidseits) gemessen. Genau genommen resultiert hieraus kein GdB, denn ein solcher (von 10-20) wird erst bei einer Beweglichkeitseinschränkung auf 10-0-90° einseitig erreicht, wenn die Dreh- und Spreizfähigkeit entsprechend eingeschränkt ist (Teil B Nr. 18.14 VG). Jedenfalls ist nicht zu beanstanden, hier keinen höheren GdB als 10 anzunehmen.

Auf orthopädischem Gebiet besteht daher insgesamt nur ein GdB von 20. Dies ist weniger, als der Beklagte dem angefochtenen Bescheid zu Grunde gelegt hat (30). Aber im Bereich des Schwerbehindertenrechts erwächst nur die Feststellung des Gesamt-GdB in Bestands- bzw. Rechtskraft. Die zu Grunde liegenden Einzel-GdB sind nur Begründungselemente. Deshalb kann die Klägerin den Beklagten nicht an seiner damaligen Einschätzung festhalten. Hinzu kommt, dass Dr. N. im Mai 2009 ihren Vorschlag im Wesentlichen nach dem Entlassungsbericht der Ruland-Kliniken A. vom 11.03.2009 begründet hatte. Dort hatte die Klägerin aber kurz nach ihrem Unfall eine Rehabilitation absolviert. Ihre Beeinträchtigungen mögen damals noch größer gewesen sein, aber dieser Zustand war nicht dauerhaft. Wie sich aus dem von Dr. Kullick eingereichten Arztbrief des Orthopäden Dr. D. vom 03.12.2009 ergibt, konnten damals – ein Jahr nach dem Unfall – die von der Klägerin geklagten Schmerzen morphologisch oder sonst somatisch nicht dargestellt werden. Dr. D. hatte eine Belastungsstörung diagnostiziert, die durch die orthopädischen Befunde nicht erklärt werden könne. Er hatte aber auch eine neurologische Abklärung empfohlen, die dann am 11.12.2009 bei Dr. O. durchgeführt wurde, wo bis auf minimale Gefühlsstörungen an den Fingern keine Auffälligkeiten festgestellt werden konnten.

c) Der Senat lässt offen, ob die psychiatrische Erkrankung der Klägerin, eine rezidivierende Depression, die mehrfach auch als Angst und Depression gemischt beschrieben worden ist, einen GdB von 30 oder 40 bedingt.

Der Sachverständige Dr. L. hat in seinem Gutachten vom 04.07.2011 auf psychiatrischem Gebiet zwar zumindest für die Zeit nach dem Unfall 2008 einen GdB von 40 angenommen. Er hat diesen aber überwiegend mit dem physischen Leidensgrad der Erkrankung begründet, nämlich mit den psychogen verstärkten Schmerzen, die die Klägerin im Sinne einer Somatisierungsstö-rung (Schmerzfehlverarbeitung) empfindet. Die beiden weiteren Subkategorien der Leidensbeurteilung hat Dr. L. dagegen geringfügiger bewertet. Zu den sozialen Kontakten, also der Teilhabe an der Gesellschaft im engeren Sinne, hat er ausgeführt, diese seien nur leichtgradig eingeschränkt. Den psychischen Leidensgrad hat er als mittelschwer eingestuft, hierbei aber auch darauf hingewiesen, dass die depressive Stimmung der Klägerin nicht dauernd vorliege, sondern schwankend, also als rezidivierende Depression einzustufen sei.

Mit diesen Feststellungen ist jedenfalls davon auszugehen, dass auf psychiatrischem Gebiet kein GdB von 50 anzunehmen ist, denn dieser setzt nach Teil B Nr. 3.7 VG eine schwere Störung (z. B. eine schwere Zwangskrankheit) mit bereits mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten voraus. Ob die psychische Erkrankung aber im unteren oder oberen Bereich der Spanne von 30 bis 40 für stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z. B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder pho¬bische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) nach Teil B Nr. 3.7 VG einzuordnen ist, ob also bereits eine Tendenz zu einer schweren Störung anzunehmen ist, kann offen bleiben.

d) Selbst wenn hier auf psychiatrischem Gebiet ein Einzel-GdB von 40 anzunehmen wäre, so würde dieser zusammen mit dem GdB von 20 auf orthopädischem Gebiet nicht zu einem Gesamt-GdB von 50 oder mehr führen. Es bliebe vielmehr bei dem GdB von 40.

Nach Teil A Nr. 3 Buchstabe d Doppelbuchstabe ee VG führen zusätzliche leichtere Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, von Ausnahmefällen (z. B. hochgradige Schwerhörigkeit eines Ohres bei schwerer beidseitiger Einschränkung der Sehfähigkeit) abgesehen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, auch nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen.

Im Falle der Klägerin liegen die Voraussetzungen des Satzes 2 dieser Regelung vor. Der GdB auf psychiatrischem Gebiet, der eventuell 40 beträgt, ist ganz wesentlich mit der somatoformen Störung, also dem Schmerzempfinden der Klägerin, begründet worden. Die Schmerzen, im konkreten Fall die Bewegungsschmerzen, sind auch wesentliches Element in der Bewertung der orthopädischen Beeinträchtigungen. Berücksichtigte man diese dort nicht, blieben lediglich die Beweglichkeitseinschränkungen, die allein keinen GdB von 20 bedingen würden. Es ist daher von einer erheblichen Überschneidung der Auswirkungen der beiden Behinderungsbereiche auszugehen, sodass es bei dem höchsten GdB sein Bewenden hat.

2. Das Merkzeichen "G" kann die Klägerin hiernach schon deshalb nicht verlangen, weil dieses nach § 145 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 SGB IX eine Schwerbehinderung voraussetzt, die bei der Klägerin fehlt. Aber selbst bei einem GdB von 50 oder mehr stände der Klägerin dieser Nachteilsausgleich (unentgeltliche Beförderung im öffentlichen Nahverkehr oder wahlweise Kraftfahrzeugsteuerermäßigung) nicht zu. Er setzt weiterhin voraus, dass der schwerbehinderte Mensch infolge seiner Behinderung in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist. Nach § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens (auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit) nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Diese Voraussetzungen fehlen bei der Klägerin. Von einer Einschränkung des Gehvermögens in dem beschriebenen Sinn hat keiner der behandelnden Ärzte berichtet. Auch kein Gutachter konnte eine Gehbehinderung feststellen. Dies ist auch nachvollziehbar, nachdem Dr. H. bei seiner Untersuchung keine nennenswerten Beeinträchtigungen der unteren Gliedmaßen, vor allem nicht des rechten Hüftgelenks, hat feststellen können.

3. Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens beruht auf § 193 SGG.

4. Gründe für eine Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
Saved